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Rezension zu
Gehen, ging, gegangen

Politisch brisanter Roman, dem erzähltechnisch schnell die Puste ausgeht.

Von: Der Medienblogger
26.03.2020

Zwischen den Jahren 2012 und 2014 befand sich auf dem Berlinerischen Oranienplatz ein durch die Behörden nicht genehmigtes Flüchtlingscamp, dessen Ziel die mögliche Verbesserung des Asylbewerbergesetzes hin zu erreichbaren Aufenthaltsgenehmigungen war. Die anschließende polizeiliche Räumung geriet in das Visier zahlreicher öffentlicher und politischer Diskussionen. Die deutsche Autorin Jenny Erpenbeck greift diese noch immer aktuelle, gesellschaftsrelevante Thematik und die Motivation der Demonstranten in der vorliegenden Lektüre "Gehen, ging, gegangen" auf. Diesen, mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Roman lasen wir im Rahmen unserer Abiturvorbereitungen in unserem Deutschkurs – welche Erwartungshaltung kann er letztlich erfüllen? Erpenbeck zeigt, dass sie sich mit dem brisanten Stoff auseinandergesetzt hat und zu einer reflektierten Wiedergabe der Erkenntnisse fähig ist. Sie gibt dem Lesepublikum einen überzeugenden Einblick in den Gedankenhorizont der geflüchteten Asylsuchenden und erzählt ihre ergreifenden Schicksale und Hintergrundgeschichten. Ihre Träume, Erwartungen und Befürchtungen, die sie an das Leben (oftmals als das Einzige, was ihnen übrig blieb) haben, werden authentisch ausgeführt. Die Autorin ergreift in ihrem Werk zudem deutlich Partei für die Bedürftigen und vertritt eine liberale, aufgeklärte Position, die meiner Meinung nach eigentlich nicht zur Debatte stehen sollte. Zahlreiche politisch rechte Bewegungen der letzten Jahre zeichnen aber das traurige Bild unserer Gesellschaft, die bloß auf die Sicherung des eigenen materiellen Wohls fokussiert ist und die notwendige Unterstützung der Notleidenden, Besitzlosen aus den Augen verliert. Außerdem stellt sie ihr teilweise außergewöhnliches sprachliches Niveau unter Beweis, mit dem sie nicht nur zu gesellschaftspolitischen, sondern auch ethischen Gedankengängen anregt. Der hypotaktische, verschachtelte Satzbau gerät auf Dauer jedoch ermüdend und stellt die Konzentration der Leser*innen auf die Geduldsprobe. "Gehen, ging, gegangen" leidet, trotz all seiner inhaltlichen Stärken und Vorzüge, unter einigen erzähltechnischen Schwächen, die dem Buch ein großes Maß seines Potenzials nehmen. Die Erzählung ist beinahe durchgehend in einem sich sehr schwerfällig weiterentwickelndem, vor sich hin dümpelnden Tempo verfasst. Man wünscht sich hier sehnlichst einen richtigen Spannungsbogen her, der den Roman aus diesem ewig herumdrucksenden Zustand befreit und auf einen Weg, der ein echtes Ziel ansteuert, leitet – aber vergeblich. Schließlich mündet die Geschichte in ein übereiltes, hektisch geschildertes Ende, indem mehr zu passieren und die Hauptfigur ein deutlicheres Profil zu bekommen scheint als in den zweihundert Seiten zuvor. Und da liegt ein weiteres erhebliches Problem: der Protagonist Richard erweist sich als wenig inspirierter, leblos kalter Protagonist, der zwar bis auf wenige Ausnahmen die Handlung aus seiner eigenen Perspektive wiedergibt, aber den Leser*innen einen nur sehr beschränkten Blick in sein Innenleben gewährt. Seine Hoffnungen und Wünsche bleiben häufig ungeklärt, seine aus purer Langeweile und schierem Zeitüberdruss entstandenen Motive oftmals fraglich. Ich hatte bis zur letzten Seite das Gefühl, nie auch nur in Ansätzen in die Gefühlswelt des alten, weißen Mannes eintauchen zu können – und das obwohl wir ihn auf ausschweifenden, teils philosophisch anmutenden gedanklichen Spaziergängen begleitet durften. In ihrem Roman schafft die Autorin es nicht, die notwendige Grenze zwischen der Masse der Flüchtlinge, oftmals als Problemursache diskreditiert, und dem Individuum mit subjektiven Schicksalsschlägen und Erwartungen zu ziehen. Die Eigenarten der einzelnen Figuren werden recht unbeherzt herausgearbeitet, einige Personen sogar bis zum Ende hinter der undankbaren Maske ihrer Freizeitbeschäftigung verborgen (die "Billardspieler") und wirken insgesamt recht austauschbar – somit gerät die Charakterisierung der Asylsuchenden größtenteils unzureichend. Dennoch möchte ich der Autorin gegenüber meine Dankbarkeit aussprechen, sich in ihrem Buch auf ein so wichtiges Thema wie dieses zu beziehen und nicht nur offene Kritik an der deutschen Bürokratie auszuüben, sondern auch das Bewusstsein einer breiteren öffentlichen Masse darauf zu lenken. Es ist spürbar, wie sehr sie hinter diesem Roman steht. "Gehen, ging, gegangen" ist ein politisch brisanter Roman, der sich kompetent mit der Thematik auseinandersetzt. Erzähltechnisch geht ihm aber recht schnell die Puste aus.

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