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Rezension zu
Das Kind in mir will achtsam morden

Einmal möchte ich ein Böser sein

Von: WolfgangB
27.05.2020

Ein notwendiger Hinweis vorweg: Wer sich auf den neuen Roman von Karsten Dusse einlässt, sollte vorher "Achtsam morden" gelesen haben. Zum einen knüpft die Handlung unmittelbar an den Vorgänger an, zum anderen werden die Hauptfiguren als bekannt vorausgesetzt. Der Autor überspringt also das vorsichtige Kennenlernen und bereitet seinen Lesern Wiedersehensfreude. Nach einer Auseinandersetzung mit einem Kellner auf einer Alm im Allgäu wird Björn Diemel von seiner Frau erneut zu einer Therapiesitzung mit seinem Achtsamkeitstrainer Joschka Breitner verdonnert. Björns mühsam erworbener Seelenfrieden ist sichtlich aus dem Gleichgewicht geraten. Der Jurist hat nämlich nicht nur den Tod des renitenten Servicemitarbeiters verursacht. Seit einem halben Jahr sitzt außerdem Boris, der am Ende des ersten Bandes entführte Anführer eines Mafia-Clans, in einem Heizungskeller fest. Und dieser Keller befindet sich genau im Gebäude des von Björn verwalteten Kindergartens. Wahrhaft kompliziert wird die Situation, als ein Unbekannter von diesem brisanten Geheimnis erfährt und Björn damit erpresst. "Ich hatte vier Menschen ermordet, meinen ehemaligen Arbeitgeber erpresst, die früheren Betreiber eines Kindergartens gezwungen ihre Anteile zu verkaufen, damit meine Tochter einen Platz bekam, und einen russischen Mafioso entführt." (S. 25) Die Parallelitäten zum ersten Teil sind offensichtlich: Wieder beginnt die Geschichte mit einem aus Unachtsamkeit getöteten Menschen. Wieder muss Björn Diemel seine Verpflichtungen als Familienvater mit denen eines inoffiziellen Mafia-Paten in Einklang bringen. Und wieder vermittelt ihm Joschka Breitner das spirituelle Rüstzeug zur Bewältigung dieser Aufgabe. Auch bei der Auflösung orientiert sich der Autor am Erfolg des Vorgängers. Mit Kreativität, juristisch-rhetorischem Geschick und viel Achtsamkeit findet die Hauptfigur eine Universallösung für die in vielerlei Hinsicht vertrackte Situation. In den Therapiesitzungen lernt Diemel auch sein inneres Kind, eine Art Manifestation verdrängter Bedürfnisse, kennen. Dieses innere Kind bildet den roten Faden des Romans. Jedem Kapitel ist jeweils ein Zitat aus einem (fiktiven) Ratgeber von Joschka Breitner vorangestellt. Das für Diemels aktuelle Phase der Selbsterkenntnis maßgeschneiderte Begleitbuch trägt den Titel "Das innere Wunschkind". Die Klarstellung "Kindlich ist das altersgemäße Verhalten eines Kindes. Kindisch ist das nicht altersgemäße Verhalten eines Erwachsenen." wird im Lauf des Romans zum Running Gag. Zahlreiche Situationen in Björn Diemels Gegenwart spiegeln sich in nicht bewältigten Kränkungen seiner Kindheit. Der alte Schmerz mangelnder Anerkennung durch seine Eltern wird durch den Kellner auf der Alm neu geweckt, der Mafioso im Kindergartenkeller erinnert an eine streunende Katze, die der junge Björn vor seinem Vater versteckt hat. Indem er also in einen Dialog mit seinem inneren Kind tritt, bewältigt Björn die Verwundungen der infantilen Seele und formt somit auch seinen gegenwärtigen Charakter. Bequemerweise lässt sich damit gleichzeitig die Verantwortung für kriminelle Handlungen an einen juristisch nicht belangbaren Teil seiner Persönlichkeit delegieren. Wenn also wieder jemand entführt und gefoltert wird, ist das (im Verständnis der Hauptfigur) keine Straftat, sondern lediglich ein Hilferuf des inneren Kindes. Im Vergleich zu seinem Vorgänger wirkt der Roman statischer. (Der Achtsamkeitstrainer würde wahrscheinlich Begriffe wie "ausgeglichen" oder "in sich ruhend" wählen ...) Die Handlung spielt sich auf weniger Schauplätzen ab und durchläuft weniger Wendungen. Die Konflikte sind weniger zahlreich und weisen weniger Facetten auf. Der Autor dürfte sich bei der Routenplanung von der Ausgangssituation zu einem zufriedenstellenden Zielzustand eher am direkten Weg, als an landschaftlich reizvollen Umwegen orientiert haben. Anstelle die zahlreichen von Mordlust und Familienloyalität geprägten Bedürfnisse von Berufsverbrechern in Einklang zu bringen, konzentriert sich Björn Diemel diesmal auf die lange verdrängten Wünsche der neu entdeckten kindlichen Persönlichkeit in sich selbst. Trotzdem ist der Roman ein schwarzhumoriges Erlebnis. Der Autor zelebriert mit sichtlicher Lust den Bruch gesellschaftlicher Regeln und parodiert Moralvorstellungen, die als "politisch korrekt" gelten. Björns neuer Klient Kurt gibt sich beispielsweise als uneigennütziger Nachhaltigkeitsaktivist. Das Vergnügen, diesen als SUV fahrenden Selbstdarsteller, der Faktenwissen gerne durch hohle Phrasen ersetzt, zu entlarven, überträgt sich auf den Leser. In einer anderen Szene erkärt Björns Assistent Sascha, warum dieser als weißer gutsituierter Mann in der Konfrontation mit einer übergewichtigen Kindergartenpädagogin von vornherein im Nachteil ist: "Beim Rechthaben-Schnick-Schnack-Schnuck ist es völlig egal, worum es geht. Es kommt darauf an, die Identität der Teilnehmer zu würdigen. Recht hat der, der die meisten schützenswerten Minderheiten auf sich vereint." (S. 440) Und weiter: "Also - weiblich sticht männlich, Migrationshintergrund sticht Bio-Einwohner, homosexuell sticht heterosexuell, jung sticht alt, gesundheitlich beeinträchtigt sticht kerngesund und links sticht rechts. So weit klar?" (S. 441) Wer absurden Humor in mundgerechten Portionen zu genießen versteht, wird sich wohl auch an einem akademisch gebildeten Mafia-Schläger delektieren, der zwei zu Tode gefolterte Drogenhändler als vielschichtige künstlerische Installation interpretiert. Ein weiterer Höhepunkt ist auch die jugendfreie Darstellung eines Sexualakts. In Filmen wird das intime Geschehen zuweilen mit kraftvollen, emotionalen Bildern überblendet. Der Autor leiht sich nun dieses Stilmittel aus und synchronisiert Björns abendliche Aktivitäten in der eigenen Wohnung mit jenen seines Assistenten Sascha, der mit Hilfe von Molotov-Cocktails strukturelle Veränderungen an der Innenarchitektur eines Geschäftslokals vornimmt. Das Buch bietet die Gelegenheit, die potentiell vorhandene Zerstörungslust in sich zu akzeptieren und gedanklich auszuleben. Doch wer ist eigentlich dieser Björn Diemel, der sich souverän durch die Widrigkeiten des Alltags eines Mafiapaten, Kindergartenbesitzers, Juristen und Familienvaters manövriert? Da die Geschichte ausschließlich aus seiner Sicht erzählt wird, hat der Leser kaum die Möglichkeit, einen neutralen Blick auf ihn zu erlangen. Welches Bild würde sich aber bieten, versuchte man, die Hauptfigur aus der erzählerischen Vogelperspektive zu betrachten? In "Achtsam morden" tötet der Anwalt Diemel unabsichtlich seinen Klienten, den Schwerverbrecher Dragan. Daraufhin gerät er zwischen die Fronten eines Bandenkriegs, wird mehrfach mit dem Leben bedroht, entgeht einem Anschlag nur knapp und muss für Dragans Untergebene glaubhaft den Anschein erwecken, dieser sei noch am Leben. Diemel ist also massivem Stress ausgesetzt, den er dank seines Achtsamkeitstrainings bewältigt. Im aktuellen Band raubt es ihm kaum den Schlaf, dass er abermals den Tod eines Menschen verschuldet hat. Um seines Seelenfriedens willen - weil er eben niemanden mehr ermorden will - hält er einen weiteren Menschen ein halbes Jahr lang in einem Keller gefangen. Auch dieser Umstand belastet sein Gewissen nicht. Diemel ist bereit, einen dritten Menschen mit einem fingierten Abschiedsbrief aus der Öffentlichkeit verschwinden zu lassen und rechtfertigt diese Idee mit eklatanten charakterlichen Schwächen des Opfers. Außerdem führt er immer ausführlichere Unterhaltungen mit einem Teil seiner selbst, den er sein "inneres Kind" nennt. Dieses Kind entwickelt einen eigenen Charakter und findet eigenständig immer wieder kreative Lösungsansätze, wie etwa in folgender Passage angedeutet wird: "Ich hatte bei Herrn Breitner gelernt, dass die Interessen des inneren Kindes nicht immer deckungsgleich waren mit denen des Erwachsenen. In diesem Fall standen sich die Interessen diametral entgegen. Ich wollte eine gewaltfreie Lösung. Mein inneres Kind präferierte eine Lösung mit Toten." (S. 380) Sehr viel deutet also auf eine Persönlichkeitsspaltung hin, die durch die traumatischen Ereignisse des ersten Teils ausgelöst worden sein dürfte. Die Seite netdoktor.de definiert das Krankheitsbild der Psychopathie folgendermaßen: "Psychopathie ist eine schwere Persönlichkeitsstörung. Psychopathen manipulieren und handeln, ohne Reue zu empfinden. Sie lügen, betrügen und nutzen ihre Mitmenschen geschickt aus. Dabei sind sie ausgesprochen risikobereit und verhalten sich verantwortungslos." (Quelle: https://www.netdoktor.de/krankheiten/dissoziale-persoenlichkeitsstoerung/psychopathie/ , abgerufen am 26.05.2020) Zahlreiche der aufgelisteten Symptome, etwa sprachliche Gewandtheit, übersteigertes Selbstwertgefühl, manipulatives Verhalten oder ein Mangel an Einfühlungsvermögen lassen sich Björn Diemel außerdem zuordnen. Somit kann also der Schluss gezogen werden, dass es sich bei der Hauptfigur des Romans mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen gefährlichen Psychopathen handelt, dessen Wege zu kreuzen nicht ratsam ist. Die Kunst des Autors besteht darin, Björn Diemel als einen durchaus sympathischen Zeitgenossen zu präsentieren. Persönliches Fazit "Das Kind in mir will achtsam morden" ist die etwas weniger dynamische, mindestens aber genauso schwarzhumorige Fortsetzung von "Achtsam morden". Der Autor hält sich an das erfolgreiche Rezept des Vorgängers und strapaziert abermals die Lachmuskeln seiner Leser.

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