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Rezension zu
Europa - eine Geschichte seiner Kulturen

Jürgen Wertheimer: Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen

Von: Dagmar
17.07.2020

Was ist Europa? Ein Kontinent, eine geopolitische Zone, eine Wirtschaftsgemeinschaft oder ein Werteverbund? Jürgen Wertheimer, Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen, versucht für uns entschlüsseln, wo Europa herkommt, angefangen bei seinen Gründungsmythen, wie es sich entwickelt hat im Laufe von Jahrhunderten, geprägt von Widersprüchen, und wo es hingehen könnte bei allen Unterschiedlichkeiten in der humanen Entwicklung. „Europa fehle die Narration, die große Erzählung (S.14)“. Diese Erzählung baut er zusammen aus Mythologie, Politik und Literatur. Wo andere TheoretikerInnen die Chance für Europa in einem engeren Verbund aus gemeinsamer Sozial- und Fiskalpolitik sehen, ist Wertheimer der Auffassung, dass es bei allem Respekt vor den Unterschiedlichkeiten allenfalls zu einer „Freihandelszone kontroversen Denkens“ (S.518) gereicht. Darin sieht er die Chance, zu einer kleineren Einigkeit zu kommen, ohne Zäune dazwischen, denn: Europa muss lernen, seinen überaus elaborierten Code ernst zu nehmen und unterschiedliche Wertesysteme auf Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Inkompatibilitäten hin zu befragen. (nach S.514/15) Die Geschichte von der Entführung der Europé durch Zeus ist bekannt, auf einem Stier bringt er die Tochter des Phönikerkönigs Agenor nach Kreta. Dass damit aber ägyptisch-orientalische Kultur ihre Wurzeln dort verbreitet, wo wir später Europa verorten, findet wenig Nachklang im europäischen Selbstverständnis. Die Kenntnisse der Phöniker und Minoer sind überragend, doch die Griechen übernehmen die Erzähl-Hoheit. „Vorsicht Spoiler!“ „Sich kulturell zu formieren, heißt auch, sich abzugrenzen und Trennungslinien zu ziehen. Das geschieht exemplarisch. Mythen fungieren als Inklusions- und Exklusions-Medien. Sie sind Teil eines göttlich legitimierten, menschliche gemachten politischen Schachspiels. Und diese >>Europa<< ist ein Kunstprodukt aus dem Geist der strategischen Abgrenzung.“ (S.24) Homers Ilias und Odyssee, Jan Assuans Gedächtnis der Kulturen mit dem Auszug aus Ägypten und der Verankerung der Gesetzestafeln Gottes auf dem Berg Sinai im kulturellen Gedächtnis eines von der politischen Historie gebeutelten Volkes - die Frage bleibt nicht zu lösen: inwieweit sind all diese Erzählungen auf historischen Ereignissen gegründet, inwieweit sind sie geniale Fiktion. In jedem Fall sind sie >>Narration<<, sie sind Geschichten, die Orientierung geben, sie bilden unser gemeinsames kollektives Gedächtnis, das wir mit Symbolik ausstatten. Jürgen Wertheimer hat ein sehr umfassendes Buch über die Entwicklungen Europas geschrieben, das im Ton so gut gelungen ist, dass man trotz der Überfülle an literarischen Bezügen gerne eintaucht in seine gut lesbare Interpretation. Dabei bedient er sich natürlich selbst des Mittels der Fiktion, das er anfangs einfordert, um die Narration, die große Erzählung zu gestalten. Von der Warte des Kulturwissenschaftlers aus betrachtet ist Europa ein Palimpsest, das immer wieder neu beschrieben wird und immer wieder anders in den Regionen. „Vorsicht Spoiler!“ „Es war seit jeher mehr Netzwerk und Geflecht denn Block. Es war und ist seine Stärke, nicht seine Schwäche, als frei flottierendes, bewegliches Gebilde Kräfte auf Zeit an sich zu binden und gegebenenfalls auch wieder loszulassen.“ (S.502) So weit, so gut. Wertheimer spricht sich aber dafür aus, Europa nicht überzustrapazieren. Seiner Ansicht nach ist der Anspruch auf eine Werte-Union nicht zu erfüllen. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ wären der größtmögliche Fehler. Es kommt darauf an, womit man die Idee einer solchen Gemeinschaft überfrachtet. Ich halte es da eher mit der Politökonomin Ulrike Guérot: „Warum Europa eine Republik werden muss“ (https://literaturimfenster.blog/2017/05/06/ulrike-guerot-warum-europa-eine-republik-werden-muss/) Ein solches Europa könnte trotzdem einen Rahmen bilden für Transkulturalität oder vielleicht ganz besonders, weil es Strukturen geschaffen hätte, innerhalb derer Menschen ihre Diversität besser leben könnten, wenn sie mit weniger Angst und unter gerechteren Bedingungen ihr Leben gestalten könnten. In einem Punkt am Ende seiner aufgeführten Konsequenzen für die Weiterentwicklung Europas geben ich Wertheimer uneingeschränkt Recht: „Vorsicht Spoiler!“ „Europa sollte sein hochentwickletes Dialogmodell nutzen, innerhalb dessen Vielstimmigkeit, Widerspruch und Widersprüchlichkeit systematisch praktiziert und eingeübt werden.“ (S.515)

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