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Rezension zu
Über Leben

Überleben. Zukunftsfrage Artensterben: Wie wir die Ökokrise überwinden

Von: Dagmar
17.07.2020

„Vorsicht Spoiler!“ „Dies ist ein Buch über den Gesang der Vögel, über die Vielfalt der Natur und die Schönheit der Erde. Über das Netz des Lebens und darüber, wie alles mit allem zusammenhängt.“ Da sind zwei Autoren, die sich mit wissenschaftsjournalistischem Anspruch mit dem Thema des Artensterbens auf unserem Planeten befassen. Und da ist eine Amsel, die singt und als zugegebenermaßen kitschiges Bild die Liebe zur Natur über das Alltägliche, oft nicht bewusst wahrgenommene, transportiert. Und da ist ein Schrecken, gleich im Vorwort. Es gäbe keine Luft, kein Wasser, keine Erde, ohne Biodiversität. „Nicht einmal die eng damit verbundene Klimakrise bedroht uns so sehr in unserer Existenz - sie gefährdet zwar die Art, wie wir leben, aber nicht ob wir leben.“ (S.8) Das scheint mir angesichts der vielen, vielen Menschen, die durch den Klimawandel ihr Leben verlieren, direkt und indirekt, eine schwierige Aussage. Diese Provokation steht nun im Raum, von der zweiten Seite an. Dass da jemand schreibt, der wirklich engagiert ist, nimmt man den beiden sofort ab. Den einen kennt man aus verschiedenen Terra X - Sendungen, den anderen als ZEIT - Redakteur. Gemeinsam schreiben sie hier an gegen eine riesengroße Unwissenheit und einen leichtfertigen Umgang mit dem Leben im Gesamten, was uns irgendwann das Leben kosten kann. Sehr viele Themen braucht es hier, um die Zusammenhänge auch nur annähernd zu umreißen. Gut gemacht ist dabei die Veranschaulichung durch ein Reihe von Beispielen. Bei diesem Buch hätte ich mir aber gewünscht, dass es um die Hälfte umfangreicher ist und die angeführten Themen ausführlicher und die dazu herangezogenen Beispiele wissenschaftlich belegbarer ausführt. Für ein Buch mit popularwissenschaftlichem Charakter ein guter Einstieg in ein umfangreiches Thema, das uns dringend mehr beschäftigen sollte, weil Biodiversität unser aller Leben ermöglicht und erhält. Der Zusammenhang eines niedrigeren Stresshormonpegels mit dem Spaziergang im Wald ist bekannt. Der Gedanke, aus der zunehmenden Entfremdung von der Natur auf eine zunehmende Entfremdung von Mitgefühl zu schließen, ist ungewöhnlich. (S.28) Viele PhilosophInnen, über die ich gearbeitet habe, vertreten den Standpunkt, dass die Verbundenheit zur Natur ein grundlegendes menschliches Bedürfnis spiegelt und zu einem Guten Leben als tragendes Element dazugehört. Martha Nussbaum hat „die Fähigkeit in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben und pfleglich mit ihnen umzugehen“ als eine ihrer Grundfähigkeiten formuliert. Wenn wir über Mitgefühl sprechen, meinen wir meist das mit anderen Menschen. Aber ja, in Verbundenheit mit der Natur entsteht eine umfassendere Sicht auf das Leben, auf Lebensarten, auf diverse Lebensformen und ihre gegenseitigen Abhängigkeiten - und damit auch ein weitreichenderes Mitgefühl. Es werden viele Fakten des menschlichen Verhaltens angerissen: Endowment-Effekt: was ich habe, gebe ich nicht mehr her (S.58) oder verblüffende Studien zur Verteilungsgerechtigkeit: wenn jemand mit mir teilen muss und er macht das meiner Meinung nach sehr ungerecht, lehne ich lieber ab. Und es liefert einige Fakten und Zahlen, die ich gerne unterfüttert gehabt hätte: „Die Technosphäre, all das, was wir Menschen gebaut und auf der Erde verteilt haben, von der Gizeh-Pyramide bis zum Nasenhaarschneider, wiegt inzwischen acht mal mehr als die Biosphäre, also das, was auf der Erde lebt, von der Mücke bis zum Elefanten. Durchschnittlich 50 kg haben wir auf jeden Quadratmeter dieses Planeten gestellt. 30 Billionen Tonnen Zivilisation.“ (S.60) Dazu wird weiter nichts ausgeführt. Das Leben findet nicht auf der Erde statt, sondern die Erde ist das Leben, wird mit kurzem Hinweis auf die griechische Göttin Gaia eingestreut. Auch dazu hätte ich mir etwas mehr gewünscht, zumal die Zusammenhänge über den Planeten als symbiotischem System sehr gut darstellbar und verstehbar sind (siehe Kapitel über Lynn Margulis: Der symbiotische Planet, in: Dagmar Eger-Offel: Gibt es eine Moral für die Zukunft?) Wir reden mittlerweile oft vom Earth-Overshoot-Day, dem Tag im Jahr, an dem wir unsere Ressourcen für das geanze Jahr bereits verbraucht haben. Im Jahr 2019 war das der 29.Juli. Steffen/Habekuss benennen nun mit Johan Rockström neun planetare Grenzen, von deren Überschreitung schon eine reicht, um unsere jetzige Zivilisation zu vernichten: Süßwasser, Ozon, Versauerung der Ozeane, Klimawandel, Luftverschmutzung, biochemische Kreisläufe wie Wasser- oder Kohlenstoffkreislauf, Landverbrauch, Verschmutzung der Erde mit neuartigen Substanzen wie Plastik, Biodiversität (nach S.77/78). Wir haben schon mal davon gehört: Mit jeder Google-Suche kann man eine Tasse Tee kochen. Steffen/Habekuss führen an: Jedes Wischen auf dem Handy verheizt Energie. Oben wurden die neun planetaren Grenzen angeführt, nun werden die fünf größten Katastrophen benannt als die „Big Five“ (eigentlich ein Begriff aus der Psychologie, der die Unterschiede zwischen Personen in grundlegenden Persönlichkeitsmerkmalen charakterisieren soll): Massenaussterben, Vulkanismus, Klimakrisen, Sauerstoffmangel, der Einschlag von Himmelskörpern (nach S.85). Was hilft? Ein Imperativ aus der Philosophie? Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung: „Vorsicht Spoiler!“ >>Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.<< (Steffen/Habekuss, S.87) Davon sind wir weiter entfernt denn je. Wenn Menschen und Nutztiere heute zwanzigmal so viel wiegen wie alle wilden Tiere zusammengenommen, die oben angeführten 30 Billionen Tonnen Zivilisation dazugerechnet, dann bleibt nicht viel Raum für anderes Leben. Und das ist ein entscheidender Punkt: es geht um Territorien. Wie können wir der Natur ihren Raum zurückgeben? Muss die Natur vor Gericht ziehen? Würde es helfen, einem Fluss, wie dem Mississippi Rechte zu geben? Ja, das würde es: „Als Rechtsperson wäre der Mississippi selbst Empfänger der Straf- und Bußgelder.“ (S.137) Eine neue Krise erfordert neues Denken. Da sich die Krisen aneinanderreihen, wäre es vernünftig, aus dem Zusammenhang ein Umdenken herzuleiten. Wirtschaftskrise, Klimakrise, Artensterben, Pandemien. Es wird kein „Weiter so“ mehr geben. Wirtschaftswachstum durch Ressourcenverbrauch, durch Ausbeutung der Natur in jeder Form wird aufhören müssen. No-Growth oder Degrowth-Bewegungen wollen Auswege aus den Krisen zeigen. ÖkonomInnen plädieren für die Besteuerung von Ressourcen-Verbrauch oder Umweltbelastung, anstatt Besteuerung von Gewinnen. Aber ein Umdenken entsteht dadurch nicht. Wenn aber Themen im öffentlichen Diskurs als so bestimmend angekommen sind, dass sich Unternehmen daran ausrichten müssen, weil sie sonst die öffentliche Akzeptanz verlieren, dann werden Neuinvestitionen vielleicht ökonomisch und ökologisch angedacht. Deutschland steht nach Steffen/Habekuss „auf Platz drei der am stärksten von Klimakrisenschäden betroffenen Nationen, alleine das Aufräumen der abgestorbenen Wälder kostete Milliarden.“ (S.183) Das sind Themen, die dringend bei allen Berechnungen von Bruttosozialprodukten, Wirtschaftswachstum, Subventionierung, Investition mit ins Kalkül genommen werden müssen: Schadensbeseitigung und Vorsorge. Steffen/Habekuss entwickeln mit Luise Tremel ein Modell des Aufhörens: Problematisieren - Mobilisieren - Regulieren - Neuordnen - Konsolidieren. (193 ff.) Um die notwendigen Transformationsprozesse anzustoßen wird auch hier ein Paradigmenwechsel gefordert. Umdenken heißt Umdenken, grundsätzlich. Und nur die Demokratie ist dazu in der Lage, sich auf etwas zu verständigen das vom Demos getragen wird. Und „- der Diskurs ist das Lebenselixier der Demokratie. Und die Öko-Debatte ist so diskursiv wie wenig andere.“ (S.222) Es gibt immer eine Chance. Das Narrativ des Anthropozäns kann immer noch neu gestaltet, neu erzählt werden. Viele Anregungen werden geboten, vieles kann ausführlicher recherchiert werden, einem schließe ich mich uneingeschränkt an: „Vorsicht Spoiler!“ „Ein gutes Anthropozän, wie könnte das aussehen? Vielleicht wird es ein Zeitalter, in dem wir uns von anderen Werten leiten lassen. In dem wir unsere Rolle in der Natur völlig neu definieren. In dem wir Gesellschaften anders organisieren, um Nachhaltigkeit und Gleichberechtigung zu fördern.“ (S.232(33).

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