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Rezension zu
Der begrabene Riese

Nebel des Vergessens

Von: Constanze Matthes
28.11.2015

In der Literatur scheint nicht nur das Thema Endzeit die Autoren derzeit viel zu beschäftigen. Heinz Helles “Eigentlich müssten wir tanzen”, Cormac McCarthys “Die Straße”, Emily St. John Mandels “Das Licht der letzten Tage” oder Valerie Fritzschs “Winters Garten” seien an dieser Stelle genannt. Mehr und mehr finden sich Leser auch bei der Lektüre von ernster Literatur in Märchen und fantastischen Geschichten wieder. David Mitchell und ja auch Haruki Murakami sind da beispielgebend. Mit “Der begrabene Riese” legt der japanisch-englische Autor und Gewinner des renommierten Booker-Prizes Kazuo Ishiguro nun seinen lang erwarteten neuen Roman vor, der ein großes Thema in Form eines Märchens erzählt. Der Roman ist eine Zeitmaschine, der den Leser in das 5. Jahrhundert versetzt. In Britannien haben sich die einst verfeindeten Stämme der Sachsen und Britannier versöhnt. Doch über dem Land liegt nach dem Tod des legendären Artus ein Fluch. Die Menschen haben keine Erinnerungen mehr an vergangene Jahre, Monate, Tage. Auch Axl und Beatrice, ein älteres Ehepaar, bemerkt es. Da die Erinnerungen an ihren Sohn verblassen, wollen sie ihn in seinem Dorf besuchen. Sie verlassen ihre bescheidene Gemeinschaftssiedlung, in dem sie keinen leichten Stand haben, und machen sich auf den Weg. Dabei treffen sie auf besondere Gestalten, so in einem Sachsendorf den Ritter Wistan, der den Jungen Edwin aus den Fängen eines Menschenfressers befreit, aber ihn nicht davor bewahren kann, von der Dorfbevölkerung als verwünscht und damit als unerwünscht in der Gemeinschaft angesehen zu werden. Beide fliehen, begleiten das Ehepaar auf ihrem weiteren Weg, der sie zu einem heilenden Mönch in ein Kloster führen soll. Unterwegs machen sie die Bekanntschaft mit Gawain, Neffe des legendären Artus und zu dessen Gefolge er einst zählte. Der alte Ritter plant, mit seinem Ross Horaz den gefährlichen Drachen Querig zu vernichten. Doch im Kloster, einer früheren Bergfeste, überschlagen sich die Ereignisse, kommt ans Licht, was die Ursache für den Verlust der Erinnerungen ist. Der Roman hat mich in seiner Konstruktion etwas an die Trilogie “Der Herr der Ringe” von Tolkien erinnert. Nachdem die Gruppe aus Axl und Beatrice, Wistan und Edwin sowie Gawain zusammenkommt, werden sie wenig später wieder mehrfach getrennt, um später im großen Finale am Steinmal und damit in der Nähe des Drachen wieder aufeinanderzutreffen. Der Erzähler wechselt die Schauplätze und Sichtwinkel. Es gibt Rückblenden. Zudem wird Gawain zum Erzähler, der von der Bedeutung des Drachen berichtet. "Der begrabene Riese” ist nur auf den ersten Blick eine spannende und fantasievolle Geschichte. Hinter Ishiguros neuestem Streich verbirgt sich weit mehr, so dass er auf verschiedene Arten und durchaus von mehreren Generationen gelesen werden kann. Die märchenhafte Story, die Fantasie-Gestalten wie schreckliche Kobolde und gefährliche Menschenfresser beherbergt, enthält eine Reihe mythologischer Anspielungen, so Verweise auf Artus und seine Tafelrunde und die Rolle des Fährmanns, der in der griechischen Sagenwelt als Charon in seinem Kahn die Toten über das Wasser setzt. Er gibt dem Roman an seinem Ende eine sehr melancholische Note, denn Axl und Beatrice treffen auf den Fährmann. Der Nebel des Vergessens hat dabei nicht nur Einfluss auf die Länder und Völker, die einstige Schlachten und Gräueltaten des Feindes vergessen haben, so dass Rache und Vergeltung keine weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen und damit einen Teufelskreis der Gewalt anschüren könnten, es vielmehr Frieden herrscht. Doch zu welchem Preis? Das ist eine Frage, die vor allem das letzte Drittel des Romans beherrscht. Denn neben den Völkern verlieren auch die Menschen ihre Vergangenheit. Denn ohne Erinnerungen fehlt das Bewusstsein um die eigene Herkunft, das eigene Schaffen, die eigene Rolle in der Gemeinschaft. Nach und nach kristallisiert es sich heraus, das Axl, Wistan und Gawain sich bereits aus der Vergangenheit kennen und dass es in der Beziehung des Ehepaars trotz ihrer innigen Liebe und Vertrautheit auch Krisen und Schicksalsschläge gegeben hat. Nach “Alles, was wir geben mussten” hat Ishiguro erneut ein sehr brisantes Thema verarbeitet. Während er in seinem Roman aus dem Jahr 2005 das Klonen in den Mittelpunkt rückt, geht es in seinem aktuellen Werk um die Frage nach der Bedeutung der Erinnerungen. Das Verarbeiten der Vergangenheit, eine angemessene Erinnerungskultur ist regelmäßig Teil des gesellschaftlichen Diskurs – in Deutschland angesichts der Verbrechen des Dritten Reiches wohl etwas mehr als in anderen Ländern, wo das Mahnen an das Leid anderer Völker oder der eigenen Bevölkerung unterdrückt wird beziehungsweise erst an seinem Anfang steht. Ein Blick in Geschichtsbücher oder auf aktuelle Krisenherden zeig, dass Rache die Spirale der Gewalt stets und ständig in Gang setzt. Aber sind dafür die Erinnerungen verantwortlich oder vielmehr das Vergessen an die eigenen Verbrechen und damit die eigene Schuld? Man möchte jedem Staatsmann diesen, im Übrigen auch sehr schön gestalteten Roman in die Hand drücken. Obwohl: Es bedarf wiederum großer Hoffnung, dass Literatur die große Weltgeschichte beeinflussen, ja zum Positiven verändern kann. Ihr fällt womöglich lediglich die Aufgabe zu, Historie und einstige Geschehnisse zu hinterfragen und zu mahnen. Und das kann “Der begrabene Riese” auf beeindruckende, berührende und wohl einmalige Weise.

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