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Rezension zu
Astrid Lindgren. Ihr Leben

Pippi Pomperipossa – Die Widerstandskämpferin Astrid Lindgren

Von: Atalante
03.02.2016

„Die beinahe achtzigjährige Astrid Lindgren wurde gefragt, was sie wohl getan hätte, wenn sie seinerzeit nicht Schriftstellerin geworden wäre. Ihre Antwort lautete: „Ich wäre eine kleine aktive Widerstandskämpferin in der ersten Zeit der Arbeiterbewegung geworden. (...) Eine kleine Vorkämpferin für die Menschen der damaligen Zeit.“ Die Biographien über Astrid Lindgren, darunter die autorisierte von Margareta Strömstedt, werden nun durch eine weitere ergänzt, die erstmals die zahlreichen handschriftlichen Aufzeichnungen der Autorin berücksichtigt. Ihr Verfasser, Jens Andersen, Nordist und Literaturkritiker, könnte als Dänischer Nationalbiograph bezeichnet werden. 2005 legte er die Lebensgeschichte des Märchendichters Hans Christian Andersen vor, die international beachtet wurde. Seine Biographie über Königin Margrethe II. im Jahr 2012 sorgte vor allem im königstreuen Dänemark für Furore. Mit Astrid Lindgren widmet er sich einer Autorin, der nicht nur ihre Figur Pippi Langstrumpf weltweite Beachtung brachte. Gerade deswegen stellt sich die Frage, ob es über die berühmte Kinderbuchautorin noch viel Neues zu erzählen gibt? Bergen Lindgrens Blöcke und Briefe Unbekanntes über die Mitteilsame, die auch öffentlich gerne ihre Meinung sagte? Ein großes Interesse ist Andersens Buch gewiss, denn fast jeder ist in seiner Kindheit den Figuren Lindgrens begegnet. So verbrachte ich viele junge Jahre mit Pippi und den Kindern aus Bullerbü, um mit meinen Kindern noch tiefer in den Lindgren-Kosmos einzutauchen. Als Karlsson-Vorleserin amüsierte ich mich mindestens so sehr wie meine Zuhörer. Andersen nutzt diese Bindung der Leser an Astrid Lindgren. Im ersten Kapitel Fanpost steigt er mit dem Briefwechsel zwischen einer jungen Leserin und der Autorin wie nebenbei in die Lebensphilosophie Lindgrens ein. Dann berichtet er in drei Kapiteln über ihre Jugend und die frühen Erwachsenenjahre, bevor der Biograph zu ihrer Kinderbuchkarriere kommt. Aufgewachsen in der Provinz, im Flecken Näs nahe der Kleinstadt Vimmerby, war Astrid mit 17 ganz up-to-date als Flapper mit Bob und Männerhosen unterwegs. Ihr Sprachtalent veranlasste ihren Lehrer die herausragende Schülerin dem Redakteur der Vimmerby Tidning zu empfehlen. Der nahm dies allerdings zu wörtlich. Die attraktive und intelligente Frau wurde Volontärin der Zeitung und bald auch Geliebte des 30 Jahre älteren, verheirateten Redakteurs Blomberg. Zwei Jahre später erwartet sie ein Kind und verlor ihre Stellung. So interessant diese Lebensphase Lindgrens für den Leser auch ist, Andersen tut sich mit der Schilderung schwer. „Was Mutter sagen wird“ oder „Mysterien der Fortpflanzung“ sind kurios klingende Überschriften, Informationen werden zum Teil wortgleich wiederholt und Redewendungen wie „Perlen an der Schnur“ oder „die Tränen kommen“ treten gehäuft auf. Diese sprachlichen Defizite stören auch im psychologisch einfühlsam geschilderten Abschnitt über die ersten Jahre der alleinstehenden Mutter, die vom Zerrissensein zwischen ihrem kargen Leben in Stockholm und den Fahrten nach Kopenhagen geprägt sind. In der dänischen Hauptstadt lebt ihr Sohn Lasse in einer Pflegefamilie bis Astrid, die damals noch ihren Mädchennamen Ericsson trägt, ihn 1930 endlich zu sich nach Schweden holt. Unterstützung findet sie bei ihren Eltern in Näs. In der Geborgenheit dieser Großfamilie verbringt der Enkel 16 Monate. Als Astrid, mittlerweile Stenotypistin im K.A.K. Automobilclub, 1931 den Redakteur Sture Lindgren heiratet, kommt das Familienleben in geregelte Bahnen und ihre schriftstellerische Karriere langsam in Fahrt. Sie verfasst Reiserouten für das Tourenbuch des Clubs, aber auch Märchen und Geschichten für die Zeitungen und Zeitschriften Stockholms-Tidningen, Landsbygdens Jul (Weihnachten auf dem Land) und Mors hylling (Lob der Mutter). Angeregt von ihren Kindheitserinnerungen und den Schriften A.S. Neills und Bertrand Russells liefert ihr der Kontakt zu anderen Müttern und Kindern, denen sie mit Lasse und der 1934 geborenen Karin im Vasapark begegnet, Stoff für ihre Geschichten. Die Ideen notiert sie zunächst in ihrem Haushaltsbuch, wo sie auch die Entwicklung der Kinder und die originellen Sprüche Lasses festhält. Ihr eigenes Motto im Umgang mit Kinder lautet „Lass die Kinder in Ruhe, aber sei in Reichweite, wenn sie dich brauchen“. Seit 1941 entstehen auf ihren Notizblöcken die Geschichten von Pippi Langstrumpf. In ihnen fließen Lindgrens Eindrücke von den Grausamkeiten des Krieges, den die Autorin in den Nachrichten verfolgt. Den Folgen der nationalsozialistischen Bedrohung ist sie als Brief-Spionin des schwedischen Geheimdienstes auch mittelbar ausgesetzt. In ihren ab 1939 geführten Tagebüchern bezeichnet sie die Tätigkeit als „Drecksarbeit“, die so gewonnen Einblicke lassen sie dennoch nicht los. Besorgt und beschäftigt wie Astrid Lindgren war, wundert es also nicht, daß Pippi erst drei Jahre später vollendet wurde. Gelegenheit dazu gibt ein verstauchter Fuß, der ihr die Muße verschafft, die Taten des stärksten Mädchens der Welt zu notieren. In Stenographie und mit Bleistift auf ihrem Block, das ging auch im Liegen und sollte Lindgrens bevorzugte Kreativhaltung werden. Mit Pippi wehrt sie sich gegen Kriegsgewalt und Hitlerangst, indem sie ihre Heldin über den brutalen Schlägerbenno und den tyrannischen Zirkusdirektor triumphieren lässt. Inspiriert hat sie auch die populäre Comicfigur Superman, worauf Andersens Archiventdeckungen hinweisen. Pünktlich zum 10. Geburtstag ihrer Tochter Karin hat Lindgren die Ur-Pippi fertig gestellt. Gedruckt wird sie erst ein Jahr später. Zuvor erscheint Britt-Mari erleichtert ihr Herz, ein heute wenig bekanntes Mädchenbuch, das jedoch ihre Karriere ins Rollen bringt. Die auf dem schwedischen Kinderbuchsektor einflussreiche Elsa Olenius wird zur Förderin und Freundin der Autorin. Trotz dieser Unterstützung lehnt das führende schwedische Verlagshaus Bonniers das Buch ab. Ausgerechnet der Verlagsleiter findet es zu anspruchsvoll. So wird Pippi wie schon Britt-Mari unter hohem finanziellen Risiko bei Ravén&Sjögren veröffentlicht. Zudem bietet ihr der Verlag nach Olenius’ Fürsprache eine Stellung als Lektorin an, die die vor kurzem geschiedene Lindgren gerne annimmt. Vormittags arbeitet sie nun an ihren eigenen Texten, nachmittags an denen der Kollegen. Die Werke Lindgrens schildert Andersen neben Privatem beinahe beiläufig. Dies wundert nicht bei der enormen Produktionsdichte, alleine in den Fünfzigern erscheint jährlich ein neuer Titel. Einzelne Werke stellt der Biograph allerdings heraus und öffnet durch sie Einblicke in die „Bullerbü-Kindheit“ der Autorin oder betont ihre literarische Entwicklung. Andersen stellt stets den Bezug zum Leben Astrid Lindgrens her. In Mio, mein Mio schreibt die Autorin über das Leid des einsamen Kindes und verarbeitet so, laut Andersen, den Trennungsschmerz, den die ersten Lebensjahre Lasses in ihm und in ihr hinterlassen haben. Eine Erfahrung, die auch später bei ihr Melancholie und Angst erzeugt. Ihr Mittel dagegen ist das Schreiben. Neben eigenen Büchern liefert sie ihrem Verlag auch Texte für Fotobände und Bilderbücher. Erwähnenswert ist Tomte Tummetott, Harald Wibergs zeichnerische Gestaltung des in Schweden sehr bekannten Gedichts Tomten von Viktor Rydberg. Auf Verlegerwunsch soll das Bilderbuch eine Prosafassung des Gedichts erhalten, die Lindgren übernimmt. Ihren Name findet man als alleinige Autorenangabe, Wiberg erscheint lediglich kleingedruckt und auf den Namen Rydberg wird vollkommen verzichtet. Das mag der verkaufsfördernden Berühmtheit Lindgrens geschuldet sein, verblüfft aber angesichts ihres Gerechtigkeitsideals. Man muss es ihr nachsehen im Hinblick darauf, welche Rolle ihr Werk bei der Aufklärung und Durchsetzung der Bedürfnisse und der Rechte von Kindern einnimmt. Trotz kritischer Stimmen, die Pippi krankhaftes Verhalten attestierten, die Scherze geschmacklos fanden oder das Schicksal der Brüder Löwenherz für Kinder unzumutbar, erhielt Lindgren von vielen Kinderpsychologen Beifall. Ihrer Kunst blieb sie stets treu, politische Korrektheit lag ihr fern, sie leistete mit ihrer Literatur Widerstand gegen Verhältnisse, die ihr nicht gefielen. So auch mit Pomperipossa in Monismanien, ein „Märchen“ mit dem sie als es 1976 kurz vor den schwedischen Parlamentswahlen im Expressen erscheint in die politische Debatte eingreift. Mit gewichtiger Stimme wehrt sich die 69-jährige Autorin gegen die Finanzpolitik der sozialdemokratischen Regierung. Ihr Motiv: „Ich habe Angst vor Geld, ich will kein Geld, ich will nicht eine Menge Dinge und Eigentum, ich will nicht die Macht, die Geld verleihen kann, denn sie verdirbt beinahe ebenso sehr wie politische Macht. Aber ich finde, dass niemand, wer auch immer es sein mag, gezwungen sein sollte zu stehlen, um das Geld für die Steuer zusammenzukratzen.“ Selbstbewusst und unbeugsam zeigt sie sich auch bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1978. Nachdem das Komitee auf ihre eingesandte Dankesrede antwortet, sie möge sich nur „kurz und gut“ bedanken, droht sie nicht zu erscheinen und einen Botschaftsmitarbeiter zu senden, der sich „kurz und gut“ bedanke. Die Herren lenken ein und Astrid Lindgrens Rede Niemals Gewalt! wird ein großer Erfolg. Ihre letzten aktiven Jahre verbringt die Autorin oft auf der Schäreninsel Furusund. Sie liebt die Ruhe in der Natur und schätzt wie Thoreau die Einsamkeit, dessen Walden entlehnt sie folgenden Gedanken. „Ich bin unendlich gern allein. Noch nie fand ich einen Gesellschafter, der so gesellig war wie die Einsamkeit. Wir sind meist einsamer, wenn wir unter Menschen gehen, statt in unserem Zimmer zu bleiben. Der denkende und arbeitende Mensch ist immer allein, sei er, wo er wolle.“ Jens Andersen erinnert einfühlsam und zitatenreich an die berühmte Autorin. Der Biographie sind zahlreiche Abbildung und neben Werk- und Quellenverzeichnis ein Personenregister zugefügt.

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