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Rezension zu
Runas Schweigen

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Ein fulminantes Debüt!

Von: Claudia Bett
01.03.2016

In ihrem Romandebüt 'Runa', das sich keinem bestimmten Genre zuordnen lässt, sondern historischer Roman, Kriminalroman und Wissenschaftsthriller zugleich ist, vermischt Vera Buck historische Fakten und Persönlichkeiten mit einer fiktiven Handlung und erdachten Romanfiguren und entführt den Leser zu den Anfängen der Psychochirurgie ins Paris des 19. Jahrhunderts an die berühmteste Nervenheilanstalt Europas, das Hôpital de la Salpêtrière. Bei historischen Romanen bin ich meistens etwas skeptisch, denn ich habe schon so viele schlecht recherchierte und deshalb unglaubwürdige historische Romane gelesen, dass ich diesem Genre inzwischen nicht mehr allzu viel abgewinnen kann. Auf Vera Bucks Debüt 'Runa' war ich dennoch sehr gespannt, da mich die Thematik sehr interessiert und ich mich bereits während meines Studiums mit Jean-Martin Charcot und seinen mitunter fragwürdigen Behandlungs – und Forschungsmethoden auf dem Gebiet der Hysterie, aber auch mit seinen herausragenden wissenschaftlichen Leistungen bei der Erforschung von Erkrankungen des Nervensystems beschäftigt habe. Charcot gilt als Begründer der modernen Neurologie; zahlreiche neurologische Krankheiten tragen bis heute seinen Namen. Zu seinen Schülern gehörten neben Sigmund Freud auch Joseph Babinski, Georges Gilles de la Tourette sowie Charles-Joseph Bouchard. Charcot beschrieb als Erster die Amyotrophe Lateralsklerose, die deshalb auch Charcot-Krankheit genannt wird, und grenzte die Multiple Sklerose und den Morbus Parkinson als eigenständige Krankheitsbilder voneinander ab. Erst in seinen späteren Jahren widmete er sich dann der Erforschung der Hysterie. Hysterie ist jedoch ein recht unpräziser Sammelbegriff, unter dem eine ganze Reihe von Symptomen psychischer und motorischer Störungen zusammengefasst wurden, die als typisch weiblich galten. Obwohl bereits Charcot der Überzeugung war, dass es sich bei der Hysterie keineswegs um ein rein weibliches Leiden handelt, sondern auch Männer davon betroffen sein können und einige Studien über männliche Hysteriker veröffentlichte, präsentierte er in seinen öffentlichen Lektionen ausschließlich weibliche Hysterikerinnen. Diese Vorlesungen, bei denen unter Charcots Regie Krankheit als Schauspiel inszeniert wurde und die größte und berühmteste Nervenheilanstalt Europas zur Bühne bzw. Zirkusarena avancierte, standen auch einem nichtmedizinischen Publikum offen, waren in Paris ein gesellschaftliches Ereignis, wurden aber bereits von einigen Zeitgenossen aufs Schärfste kritisiert. In Vera Bucks 'Runa' werden Charcots Vorführungen schonungslos und sehr ausführlich dargestellt. Obwohl vieles aus heutiger Sicht undenkbar und menschenverachtend scheint und die Ausführungen der Autorin manche zartbesaiteten Gemüter irritieren und schockieren mögen, war ich von diesen Detailbeschreibungen sehr beeindruckt und fasziniert, da man deutlich merkt, dass Vera Buck sorgfältig in Archiven recherchiert und die historischen Quellen genauestens studiert hat. Auch wenn die Beschreibungen historischer und medizinischer Details oft sehr ausschweifend sind und etwas Tempo aus der Geschichte nehmen, waren sie so eindrücklich und interessant, dass sie die Spannung für mich keineswegs minderten. Nicht nur durch ihre akribische Recherchearbeit, sondern auch sprachlich gelingt es Vera Buck, den Leser in die Zeit der Jahrhundertwende zu entführen. Sie trifft wunderbar den Jargon dieser Epoche; gleichzeitig ist ihre Sprache so unglaublich bildgewaltig, klar und lebendig, dass ich mich wirklich im Paris des 19. Jahrhunderts wiederfand, die Gerüche förmlich riechen konnte und die Pferdehufe auf dem Pflaster klappern sowie die Räder der Kutschen rattern hörte. Auch die Charaktere sind sehr markant und facettenreich gezeichnet. Die historisch verbürgten Persönlichkeiten wie Jean-Martin Charcot, Paul Eugen Bleuler, Georges Gilles de la Tourette, Joseph Babinski und Louis Pasteur sind sehr geschickt und glaubwürdig in die fiktive Handlung eingebettet. Besonders Joseph Babinski ist mir im Lauf der Geschichte sehr ans Herz gewachsen, und ich wüsste zu gerne, wieviel von dem realen Babinski sich hinter dem Romancharakter verbirgt. Aber auch die rein fiktiven Romanfiguren wie Jori, Runa und Monsieur Lecoq sind sehr fein und vielschichtig ausgearbeitet. Jori macht im Roman eine erstaunliche Entwicklung durch, denn während mich seine anfängliche Naivität, sein übertriebener wissenschaftlicher Ehrgeiz und seine blinde Bewunderung für die menschenunwürdigen Behandlungsmethoden Charcots wirklich wütend machten, wird er im Lauf der Geschichte, wenn auch leider etwas zu spät, zu einem mutigen jungen Mann, der allmählich beginnt, sich über die moralischen Grenzen der Wissenschaft Gedanken zu machen. Mein liebster Protagonist ist jedoch der skurrile Monsieur Lecoq, der – den zeitgenössischen Lehren Lombrosos folgend – fest davon überzeugt ist, aufgrund seiner Körpermerkmale ein Verbrecher zu sein, jedoch ein überaus kluger, besonnener, liebenswerter, wenn auch etwas schrulliger Ermittler ist. Die eigentliche Heldin und zweifellos spannendste und geheimnisvollste Protagonistin ist aber Runa, das neunjährige Mädchen, das, obwohl es eingesperrt und gefesselt ist, Widerstand leistet, vollkommen anders handelt, als man es von ihr erwartet, sich ihre innere Freiheit bewahrt und allen Behandlungsmethoden trotzt. Sie macht nicht nur ihren Wärterinnen, sondern vor allem den Ärzten und Wissenschaftlern Angst, denn sie ist eine Gefahr. Überall hinterlässt sie ihre mysteriösen Zeichen und Botschaften, bedient sich also der Schrift – und der Stift, das wissen auch die Ärzte, ist eine weitaus gefährlichere und wirkungsvollere Waffe als das Skalpell. In 'Runa' laufen drei verschiedene Erzählstränge parallel nebeneinander her und die Handlung wird aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert. Zunächst ist das ziemlich verwirrend, denn ob und inwiefern die Geschichte von Jori und seinem Vorhaben, an Runa erstmals einen operativen Eingriff am Gehirn eines Menschen vorzunehmen, mit der Suche Lecoqs nach einer vermissten Frau und mit den Erlebnissen des Ich-Erzählers zusammenhängen könnten, bleibt lange im Dunkeln. Erst am Schluss des mehr als 600 Seiten starken Romans schließt sich der Kreis und die Erzählstränge laufen zu einem schlüssigen Ende zusammen. Leider werden hierbei aber nicht alle Geheimnisse gelüftet, was mich aber nicht davon abhält, diesen Roman uneingeschränkt weiterzuempfehlen. Mit 'Runa' ist Vera Buck ein wirklich fulminantes Debüt gelungen, in dem historische Fakten in eine fesselnde Krimihandlung eingebettet werden und das von einer profunden Sachkenntnis zeugt. Ich war erstaunt, als ich gelesen habe, wie jung die Autorin ist, denn der Roman ist so ausgereift, dass ich kaum glauben konnte, dass 'Runa' tatsächlich ihr erstes Buch ist. Ich bin wirklich restlos begeistert von diesem historischen Kriminalroman, in dem Spannung und Wissen vortrefflich kombiniert werden und der dabei die immer noch aktuelle Frage nach den ethischen Grenzen der Wissenschaft aufwirft.

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