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Rezension zu
Der Duft von Erde und Zitronen

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Sensibles Kammerspiel

Von: Thomas Lawall
27.04.2016

Mitte Oktober ist es noch warm im Süden. Zeit zum Aufbruch. Die zerrissenen Sachen lässt sie zurück, doch die Erinnerungen reisen mit. Kalt ist es, als sie aus dem Auto aussteigt, auch in diesem Haus und jenem Zimmer. Die "Extante" hat eine Klappliege aufgestellt, auf der sie stundenlang liegt, an die Decke starrt und die geschundenen Glieder zur Ruhe bringt. Schließlich beginnt sie - "wenn es nicht mehr so weh tut" - Gymnastik zu machen und versucht, so gut es geht, sich die Zeit zu vertreiben. Gut, dass sie an ihre Schulbücher gedacht hatte, als Oma ein paar Habseligkeiten in die Reisetasche packte. Die Bücher helfen ihr über die Einsamkeit hinweg, trösten und beschäftigen sie. Laut liest sie - "damit ich nicht noch einmal verstumme" - und lernt Grammatik, Mathematik, Geschichte und Geografie. Die Konversation mit ihrer Extante hält sich (zunächst) in engen Grenzen und ohne ihre Bücher würde sie wohl verrückt werden. Unsichtbar soll sie bleiben, verlangt die Extante immer wieder und ob sie wohl vergessen habe, was passiert sei. Immacolata, Imma genannt, hat nichts vergessen. Sie kann es gar nicht, aber dennoch kann sie sich mit diesem Gefängnis nicht abfinden. Sie vermisst ihre Brüder, Tante, Onkel und Oma und Opa. Mama ist tot und Vater irgendwo. Nicht einmal telefonieren darf sie mit ihren Verwandten, denn "das Telefon ist gefährlich wie eine Giftschlange, die unter einem Stein versteckt liegt und nur darauf wartet, dass einer sich nähert, damit sie zubeißen kann." Auf die Frage, wie lange sie bleiben muss, bekommt sie keine Antwort. Ein Gefängnis wäre immer noch besser als tot zu sein ... Tante Rosaria (nach ihrer Scheidung die "Extante"), hatte ebenfalls kein Glück in ihrem Leben. Sie war nicht in Ubaldo verliebt, "doch während der Verlobungszeit zwang sie sich, das Gegenteil zu glauben." Das blieb nicht ohne Folgen, denn in der darauf folgenden "Ehehölle" stürzte sie ins Bodenlose ... und jetzt beginnt sie langsam, sich Imma zu öffnen. "Du musst dein Leben ändern, Tante Rosaria" ... Margherita Oggero kommt nicht gleich heraus mit der Sprache, rennt weder offene noch verschlossene Türen ein. Zartfühlend und sanft, wie auf Luftpostpapier geschrieben, tastet sie sich an das Drama einer süditalienischen Familie heran und erzählt es in einer der Thematik beinahe nicht ganz angebrachten Leichtigkeit. Ihre Herangehensweise und Sicht der Dinge kann aber keine andere sein, denn ihre Hauptfigur wehrt sich zwar, will sich nicht unterordnen und einem vorgezeichneten Schicksal blind ergeben, doch sie flieht zunächst auf leisen Sohlen, in Gedanken, in Träumen und Sehnsüchten, stürzt sich in fatale Irrtümer, bevor sie den Silberstreif, den Hauch einer Ahnung von Selbstbestimmung entdeckt. Die Geschichte von Immas Familie webt die Autorin, Traumsequenzen gleich, in die Handlung ein. Sie zeugen von einer bitteren Vergangenheit und der ebenso tristen Gegenwart in einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung. Behutsam tastet sie sich an das eigentliche Thema heran und Leserinnen und Leser beginnen zu ahnen, was der 13-jährigen Imma widerfahren ist. Das Familiendrama verwandelt sich nach und nach in ein Einzelschicksal, aus dem es zunächst kein Entkommen zu geben scheint. Sich zu verstecken oder versteckt zu werden ist keine Lösung - und so begleiten wir das junge Mädchen zunächst in eine unfreiwillige Sackgasse, die sich letztendlich zu einem Sprungbrett entwickelt. Imma findet die Kraft, das erlittene Schicksal und die noch unbefahrenen Straßen ihrer Zukunft in die Waagschale zu werfen. Das ist ihre Rettung, und alle Türen stehen plötzlich offen ... "Der Duft von Erde und Zitronen" ist mehr als ein sensibles Kammerspiel. Als filigranes Sprachgebilde erzählt es zwar eine erfundene Geschichte, aber dennoch viel von den erschreckenden Wahrheiten des Lebens. Deshalb geht das Buch auch weit über den Wirkungskreis eines Unterhaltungsromans hinaus, indem es möglicherweise denjenigen Mut machen kann, die ihn noch dringend brauchen können, oder vielleicht noch gar nicht entdeckt haben. So gesehen, ist "Der Duft von Erde und Zitronen" wahrhaft "bewegende" Literatur und dies in mehrfacher Hinsicht.

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