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Rezension zu
Gehe hin, stelle einen Wächter

DER NEUE ROMAN VON HARPER LEE IST EIN ENTWURF

Von: Tanja Jeschke aus Stuttgart
02.06.2016

Rezension Harper Lee: Geh hin, stelle einen Wächter. Roman, DVA 2015, 314 Seiten. DER NEUE ROMAN VON HARPER LEE IST EIN ENTWURF Von Tanja Jeschke Die US-Autorin Harper Lee hatte einen zweiten Roman in der Schublade. Was für eine Sensation, als das im letzten Jahr entdeckt wurde! Denn wer kennt nicht ihren wunderbaren Bestseller „Wer die Nachtigall stört“, der 1962 mit Gregory Peck erfolgreich verfilmt wurde und drei Oscars bekam. Wer würde da nicht voller Neugier zu ihrem neuen Roman greifen, zumal man auch hier wieder auf Scout trifft, auf ihren Vater Atticus und das Städtchen Maycomb in Alabama? Es geht zwar das Gerücht, dass die inzwischen 89-jährige Harper Lee, die in den vergangenen Jahrzehnten sehr zurückgezogen lebte, selbst gar nicht überzeugt war von der Veröffentlichung. Dennoch schafften es die Verlage in der ganzen Welt, ihren „neuen Roman“ gleichzeitig herauszubringen und die Sensation dadurch noch zu steigern. Bei DVA ist er also unter dem Titel „Geh hin, stelle einen Wächter“ erschienen. Was ist nun dran an dieser Entdeckung? Überzieht uns wieder die Gänsehaut des Mitfieberns mit der Gerechtigkeit, der Atticus in der „Nachtigall“ so großartig seine Stimme leiht? Spüren wir wieder die Schwüle des amerikanischen Südens, vollgesogen mit den Düften üppiger Begonien? Zittern wir mit Scout und ihrem Bruder auf der Schwelle des Begreifens, wie diese Welt wirklich ist? Nein, all das ist nicht der Fall. Aber lassen wir die Sensation doch ruhig platzen, lassen wir diesen neuen Roman das sein, was er ist: Der Entwurf einer werdenden Autorin. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Dieser Entwurf ist von 1957, d.h. er ist älter als die „Nachtigall“, gleichzeitig sind auch die Figuren älter, Scout bereits 26, in New York lebend, sie kommt heim und gerät in eine tiefe Auseinandersetzung mit Atticus. Denn, und das hören wir gar nicht gern: Atticus ist hier nicht der grandiose Gerechte, der es den rassistischen Südstaatlern zeigt, nein, er ist selber ein erzkonservativer Knochen, unbelehrbar in seinem Denken über die „Neger“. Das ist ein harter Bruch, über den man nicht so recht hinweg kommt. Die Frage, wie dieser Mann, der hier in der Bürgerwehr reaktionärer Südstaatler mitwirkt, in der „Nachtigall“ als ein solcher Gentleman auftreten kann, steht ungelöst im Raum, ungelöst wie auch vieles andere. Aber genau das ist das Recht eines Entwurfs. Die vielen Dialoge zwischen Atticus und Scout leisten die mühsame Denkarbeit für die literarische Ausbalanciertheit ihres späteren Nachtigall-Romans. Deshalb wirkt dieser „neue“ Text unfertig, unorganisiert, er plaudert vom Weg ab und Scout erzählt weitschweifige Anekdoten aus der Familien- und Stadtgeschichte. Am Ende hört sie schließlich doch auf ihren Onkel, der sie väterlich belehrt, und auch das liest man nicht gern. Aber ein Entwurf darf das. Er darf sich nur nicht für einen guten Roman halten. Und das wusste Harper Lee.

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