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Rezension zu
Berlin 1936

Der schöne Schein

Von: nettebuecherkiste
21.06.2016

Trotz dreijähriger Nazi-Herrschaft präsentiert sich Berlin 1936 noch einmal als scheinbar weltoffene Stadt, denn die Olympischen Sommerspiele werden am 1. August eröffnet. Während immer offener Juden verfolgt und Kriegsvorbereitungen getroffen werden, will Hitler das Ausland mit der bisher aufwendigsten Olympiade beeindrucken und gleichzeitig den Schein eines friedlichen Landes wahren. Neben den Sportlern aus aller Welt finden sich viele nationale und internationale Größen in Berlin ein, um das Geschehen zu begleiten. Einer von ihnen ist der amerikanische Schriftsteller Thomas Wolfe, der noch nicht ahnt, dass dieser Besuch in der von ihm geliebten Stadt ihn völlig desillusionieren wird. Oliver Hilmes schildert in seinem nach den einzelnen Tagen der Olympiade gegliederten Sachbuch Stimmung und Status quo in der Stadt aus der Sicht zahlreicher Zeitzeugen, darunter Schriftsteller wie Wolfe, jüdische Künstler und Barbesitzer, Sinti und Roma, Transvestiten, aber auch Nazi-Größen wie Joseph Goebbels. Der Ton des Buches ist erzählend – dementsprechend liest es sich für ein Sachbuch außergewöhnlich gut, wie eine Sammlung kurzer Erzählungen eben. Frappierend für den Leser ist der Kontrast zwischen Menschenmassen, die dem schwarzen Läufer Jesse Owens zujubeln, während es in Hitler angesichts dessen Erfolge kocht, und Ereignissen, die nur wenige Kilometer außerhalb stattfinden. So wird zur selben Zeit das Konzentrationslager Sachsenhausen errichtet. Unbegreiflich, dass dies ohne große Kenntnisnahme der ausländischen Besucher möglich war, denn es war möglich, sich zu informieren: „Die deutsche Exil-Presse berichtet in ihren Zeitungen beispielsweise ausführlich von Willkür und Unrecht im NS-Staat.“ (Seite 116) Hilmes führt als Beispiel eine Deutschlandkarte an, „die fast alle damals existierenden Konzentrationslager, Strafanstalten und Gerichtsgefängnisse lokalisiert“. Doch nicht alle Ausländer in der Stadt lassen sich von der Illusion blenden. So öffnet beispielsweise die in Berlin lebende amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Mildred Harnack Thomas Wolfe die Augen, macht ihm klar, welche Absichten die Nazis tatsächlich haben. Die geschilderten Ereignisse und Anekdoten ergänzt Hilmes durch Wettermeldungen und „Tagesmeldungen“ der Staatspolizeistelle Berlin, Verhaltensanweisungen des Pressedienstes der NSDAP sowie eine Reihe von aussagekräftigen Schwarzweißfotos. Es ergibt sich ein buntes Panorama einer Stadt, in der es brodelt und die bald nicht mehr bunt sein wird, in der das drohende Unheil jedoch nur von wenigen Gästen erkannt wird. Hilmes schließt sein Buch mit einem Kapitel, in dem er das weitere Schicksal der im Text genannten Personen kurz zusammenfasst. „Berlin 1936“ ist ein zugleich hochinteressantes und außergewöhnlich gut lesbares Sachbuch, in dem Zeitgeschichte lebendig wird. Rundum empfehlenswert.

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