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Rezension zu
Die Komödie von Charleroi

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Irrenhaus Europa

Von: Constanze Matthes
23.06.2016

Wenn die Zeitzeugen nach und nach von uns gehen, fallen authentischen Zeugnissen und der Literatur eine größere Bedeutung zu. Sie erinnern, wenn es die Mahner nicht mehr gibt. Dies trifft wohl besonders auf die Zeit der beiden Weltkriege zu. Gerade in den vergangenen Jahren hat die Zahl der Publikationen zugenommen, so scheint es; wohl auch mit Blick auf die Jahrestage in 2014 und 2015. Der Band „Die Komödie von Charleroi“ mit sechs Erzählungen des Franzosen Pierre Drieu La Rochelle reiht sich ein und ist zugleich herausragend. Erstmals erscheint der bereits 1934 im Heimatland des Autors veröffentlichte Band in deutscher Übersetzung. Womöglich auch aus einem besonderen Grund heraus: Drieu zählt zu den umstrittenen Schriftstellern wie Knut Hamsun oder Louis-Ferdinand Céline, die sich zum Faschismus und Antisemitismus bekannt haben. Das endgültige Ende des Dritten Reiches hat Drieu nicht mehr erlebt. Er nahm sich mit Hilfe von Tabletten und Gas am 16. März 1945 das Leben. Der Autor, einer der bekanntesten Intellektuellen seines Landes, kollaborierte während der deutschen Besetzung Frankreichs und der Vichy-Regime offen mit den Nazis. Dabei hätte er es doch wissen müssen, was Krieg, konkret ein Weltkrieg in all seinen Ausmaßen bedeutet. Denn dieser Erzähl-Band basiert auf seinen eigenen Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg. Er hat unter anderem selbst die Hölle Verdun erlebt, kämpfte auf den Dardanellen, war mehrfach verwundet. Details, die sich in jenen sechs Texten wiederfinden. Die namensgebende Erzählung ist zugleich die längste und umfasst nahezu die Hälfte des Buches. Darin lernt der Leser Madame Prager und ihren Sekretär kennen. Gemeinsam sind sie nach dem Ende des Krieges nach Charleroi gefahren, wo Pragers Sohn Claude als Soldat der französischen Armee in den ersten Tagen gefallen und begraben worden ist. Die Frau scheint nicht vom Verlust ihres Sohnes gezeichnet zu sein. Vielmehr war es ihr wichtig, dass er Ruhm und Ehre erhält. Mit dem Besuch der belgischen Stadt, in der die großbürgerliche Dame würdevoll empfangen wird, erinnert sich der Sekretär, aus dem intellektuellen Milieu stammend, an die Erlebnisse auf dem Schlachtfeld und die Soldaten, die von dem nervenaufreibenden Warten auf einen Angriff und letztlich der menschenvernichtenden Kriegsmaschinerie, die es bis dato in der Weltgeschichte nicht gegeben hat, seelisch und körperlich verausgabt werden. Die Todesfurcht, die übermenschliche Kraft und der Überlebenshilfe werden genauso schonungslos beschrieben wie der Geruch des Todes, die Überreste jener Männer, die von Kugeln, Granaten oder Bomben von einer Sekunde auf die nächste ausgelöscht, oft regelrecht zerrissen werden. Diese entsetzliche Gewalt ist ein Element, das in nahezu jeder Erzählung thematisiert wird. Das Aufeinandertreffen der verschiedensten gesellschaftlichen Schichten in der Armee, auch von Zivilist und Berufssoldat wird ebenfalls mehrfach beschrieben. Dabei hat jede Erzählung ihren eigenen Charakter, Schwerpunkt und Schauplatz. In „Der Hund der Heiligen Schrift“ wird von einem adligen Dragoner erzählt, dem es dank seines Standes gelingt, die Front zu verlassen. In „Der Oberleutnant der Tirailleurs“ wird in einem Gespräch zweier Soldaten in einer Bar die Geschichte der Kriege reflektiert. Keine der Erzählungen feiert die Kameradschaft. Im Gegenteil: Auseinandersetzungen zwischen den Soldaten mit ihren verschiedenen Charakteren und Eigenheiten reiben die Truppe auf. Gemein haben die Texte indes, das sie alle in der Ich-Perspektive geschrieben worden sind. Wer aufmerksam liest, wird zudem den Eindruck gewinnen, als ob dieser Erzähler ein und dieselbe Person ist, den man in den Jahren an verschiedenen Orten wieder trifft. Und dieser berichtet nicht nur von den Geschehnissen. Sein Gedankenstrom versammelt nachdenkliche wie nachdenkenswerte Reflexionen und Kommentare zum Krieg. Zusammen sind sie eine mehr als deutliche Abrechnung gegenüber jenen Kräften, die diese Gewalt entfacht und befördert haben. Auch jene Personen, die weit von der Front entfernt und ohne Kenntnisse der tatsächlichen Ereignisse das Geschehen verherrlichen, werden bloßgestellt. Hier zeigt sich der Abscheu, den Drieu gegenüber dem Hochmut des Nationalismus und der Bewegung der Masse noch in der Entstehungszeit des Buch hegte. Der Zynismus, der immer wieder angesprochen wird, der sich auch stilistisch an einigen Stellen findet, scheint die einzig möglich Reaktion auf dieses absurde und größenwahnsinnige Irrenhaus Europa zu sein, in dem Millionen Menschen ihr Leben ließen – regelrecht zur Schlachtbank geführt wurden. In seinem Nachwort würdigt Thomas Laux die Authentizität dieser Erzählungen, verweist auch auf den Erfolg des Buches nach der Veröffentlichung: Drieu erhielt 1934 den Prix de la Renaissance. Zudem beschreibt Laux, wie die Rezeption von Drieus Werken in der Gegenwart erfolgen könnte – gerade mit dem Wissen um seine umstrittene Biografie und Rolle während des Vichy-Regimes. Auch im Fall Hamsun hat es in den vergangenen Jahren eine verstärkte Zuwendung und Aufarbeitung gegeben – gerade auch in dessen Heimatland Norwegen, wo nach dem Krieg die Werke des Nobelpreisträgers gemieden, sogar verbrannt wurden. Frankreich, konkret der renommierte Verlag Gallimard hat mit dem Bewusstsein um das literarische Erbe Drieus ein Zeichen gesetzt: 2012 wurde der Schriftsteller in die Bibliothèque de la Pléiade, eine Buchreihe mit Klassikern der Weltliteratur, aufgenommen. Mit dieser wunderbaren Ausgabe in deutscher Erstübersetzung hat der Manesse Verlag ein Meisterwerk voller Wucht und Klugheit auch hierzulande ins Bewusstsein gebracht.

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