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Rezension zu
Berlin 1936

Brillant erzählt und sehr informativ!

Von: Buntes Tintenfässchen
01.07.2016

Mich als Dokujunkie und Geschichtsbegeisterten hat Oliver Hilmes' neues Sachbuch sofort interessiert. Ich lese ja, wie ihr wisst, verhältnismäßig viele Romane und auch Sachbücher zum Thema Holocaust und Drittes Reich, doch in Bezug auf die Olympiade von 1936 war ich noch ein relativer Neuling. Deswegen ist meine Rezension natürlich sehr subjektiv, denn wer bereits ein gewisses Basiswissen zu diesem Thema besitzt, liest Hilmes' Buch mit Sicherheit ganz anders als ich. Was mir von Anfang an sehr gut gefallen hat: Berlin 1936 ist klar und logisch strukturiert und in 17 kurze Kapitel unterteilt. Jeder der sechzehn Tage der Olympischen Spiele entspricht einem Kapitel und abgeschlossen wird das Buch von einem weiteren Abschnitt mit dem Titel "Was wurde aus... ?", in dem Hilmes kurz umreißt, wie es mit den einzelnen Personen, deren Schicksale er beleuchtet, nach 1936 weiterging. Die Abfolge ist chronologisch und so findet man sich als Leser leicht zurecht und kann die Geschehnisse gut nachvollziehen. Das Besondere an diesem Sachbuch ist jedoch der Schreibstil: Oliver Hilmes bedient sich nämlich des Prosastils, erzählt im Präsens und lässt bisweilen auch die Gedanken und Gefühle der verschiedenen Personen mit in seine Betrachtungen einfließen. Das ist recht ungewöhnlich für ein geschichtliches Sachbuch (obwohl ich diesen Stil schon kannte, z.B. von Mattias Boströms Von Mr. Holmes zu Sherlock) und hat zumindest auf mich zu Beginn etwas befremdlich gewirkt. Letztlich sorgt dieser spezielle Erzählstil aber vor allem dafür, dass sich das Buch sehr gut und flüssig lesen lässt - eben wie ein Roman und nicht wie ein trockener historischer Bericht. Meiner Meinung nach ist das eine gute Möglichkeit, um eben auch Menschen anzusprechen, die sonst eher selten zum Sachbuch greifen. Die einzelnen Kapitel sind jeweils mit dem Datum überschrieben (1. - 16. August) sowie mit einem kurzen Bericht des Reichswetterdienstes für Berlin und werden mit einer Fotografie eingeleitet. Diese Stilmittel versetzen den Leser sozusagen mitten ins Geschehen und belegen außerdem die Authentizität von Hilmes' Ausführungen, ebenso wie die kurzen Auszüge "aus den täglichen Anweisungen der Reichspressekonferenz" und die "Tagesmeldungen der Polizeidienststelle Berlin", die in die Kapitel eingebunden sind. Beides erlaubt bereits einen Blick hinter die Fassade der schillernden Hauptstadt und des angeblichen Friedens und erinnert den Leser kontinuierlich daran, welch fatalen Fehler große Nationen wie die USA und Frankreich begingen, indem sie sich von dem Glanz und der Weltoffenheit der Olympischen Spiele blenden ließen. Denn dass große Politiker, Künstler und sogar die deutschen Juden im August 1936 Hitler und dem Nationalsozialismus auf den Leim gingen, belegen die einzelnen Schicksale verschiedenster Menschen, die Hilmes innerhalb eines jeden Kapitels erzählt. Er zeichnet gelungen nach, was bekannte Persönlichkeiten wie der us-amerikanische Autor Thomas Wolfe und der Berliner Verleger Ernst Rowohlt, aber auch "normale" Bürger und jüdischstämmige Einwohner Berlins sowie Nazigrößen wie Joseph Goebbels und Hermann Göring während der Olympiade taten und dachten. Es entsteht tatsächlich der Eindruck von einem weltoffenen Berlin, von einem gönnerhaften und (es tut mir so weh, das zu sagen) einem liebenswerten Führer, aber das lässt Hilmes richtigerweise so nicht stehen. Immer wieder richtet sich sein Blick auch auf all die Dinge, die die ausländischen Gäste übersehen: Den Bau des Konzentrationslagers Sachsenhausen unweit von Berlin, dem Einrichten eines Ghettos für Sinti und Roma in Marzahn und die vermehrte Verfolgung von Juden und "Halbjuden". So bildet Hilmes meisterhaft und absolut authentisch die zwei Seiten einer Medaille ab, zeigt die Zwiespältigkeit des sportlichen Großereignisses auf. Man versteht als Leser, wie gerissen die Nazis vorgingen und wie sich so viele blenden lassen konnten. Kann aber auf der anderen Seite nicht nachvollziehen, wie derart viele Größen des Weltgeschehens das doch eigentlich Offensichtliche keines Blickes würdigen konnten. Die Olympischen Spiele waren eine meisterhaft inszenierte Täuschung, die bis zur Perfektion geplant und ausgeführt wurde. Und dennoch: Wie konnten eine fulminante Eröffnungsshow, ein reges Nachtleben und ein öffentlich zur Schau gestellter Führer, der jüdische Sportler in der eigenen Mannschaft und farbige Sieger in den Reihen der ausländischen Teilnehmer duldet und deswegen ja ein guter Mensch sein muss, alle Skepsis und jeden Zweifel, die im Vorfeld durchaus vorhanden waren - vor allem in den USA - so einfach wegwischen? Hinterher ist man immer schlauer, aber man gewinnt den Eindruck, dass man es einfach nicht sehen wollte. Dass man die Lüge von diesem friedlichen, diesem weltoffenen Deutschland ganz einfach glauben wollte. Und wir wissen, welche grausamen Folgen diese Einstellung hatte. Einen einzigen Kritikpunkt habe ich an Hilmes' Sachbuch: Mit gefällt es zwar außerordentlich gut, dass so viele verschiedene Personen zu Wort kommen und dass deren Schicksale auch weiterverfolgt werden, denn so gewinnt man als Leser einen umfassenden Einblick in die Welt des Berlins 1936. Andererseits hat es mir bei gewissen Episoden nicht ganz eingeleuchtet, wieso Hilmes sich nun gerade für diese Person entschieden hat. Manchmal fehlte mir auch der Bezug zur Olympiade - es gibt Kapitel, in denen man als Leser gar nicht in das Olympiastadion zurückkehrt. Meinem Empfinden nach hätte Hilmes hier noch ein wenig fokussierter vorgehen können. Ansonsten aber haben mich seine Ausführungen komplett überzeugt. Mein Fazit: In Berlin 1936 beleuchtet Oliver Hilmes die Schicksale verschiedener Menschen, die sich während der Olympiade von 1936 in der Hauptstadt des Deutschen Reichs aufhielten, und damit auch zwei Seiten der gleichen Medaille. Hervorragend recherchiert, überaus spannend und geschickt erzählt und fesselnd zu lesen, ist Hilmes' Sachbuch die ideale Einstiegslektüre in ein schwieriges Thema und bietet definitiv viel Stoff zum Nachdenken.

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