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Rezension zu
Flucht

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Verstörend und eindrucksvoll: Die Ware "Flüchtling"

Von: Yvonnen
22.12.2016

Gazâ ist erst neun Jahre alt, als er erfährt, dass sein Vater Schleuser und Menschenhändler ist. Von da an muss er ihm helfen und hasst die Flüchtlinge dafür, dass er keine normale Kindheit haben kann. Für den Jungen sind sie nur eine verabscheuungswürdige Ware, die im Garten in einem „Depot“ zwischengelagert und irgendwann zur Ägäisküste weitertransportiert wird. Schon früh begreift er, welche Macht er über die Flüchtlinge hat und beginnt sie auszubeuten. Er installiert eine Kamera und spielt intrigante Spielchen mit ihnen, um sie zu beobachten und wissenschaftlich auszuwerten. Im Alter von 10 Jahren verschuldet Gazâ zum ersten Mal den Tod eines Flüchtlings und schreckt später auch nicht davor zurück, Frauen zu vergewaltigen. Sein Schicksal scheint sich erst zu wenden, als es zu einem Unfall kommt, bei dem sein Vater stirbt und er tagelang unter einem Berg von toten Flüchtlingen gefangen ist. Das Cover finde ich interessant und passend gewählt. Der stilisierte Weg spiegelt das Thema Flucht wieder und mit etwas Phantasie erkennt man auf dem dreigeteilten Bild einen der Schauplätze aus dem Buch wieder. Unterteilt ist das Buch ist in vier Abschnitte, die jeweils mit einer kleinen Erläuterung einer der vier Hauptmaltechniken der Renaissance eingeleitet werden. Sie lassen leise erahnen, wie der Autor seinen Protagonisten nachfolgend „zeichnen“ wird. „Wäre mein Vater kein Mörder gewesen,…“ So beginnt der Roman und lässt einen fortan nicht mehr los. Gradlinig und sehr eindringlich erweckt Hakan Günday einen Protagonisten zum Leben, dessen Denken und Handeln der Leser in der Ich-Perspektive miterlebt. Das ist nicht immer angenehm, da der Autor so intensiv und bildhaft schreibt, dabei vom Ausdruck aber auch so unmissverständlich und brutal ist, dass ich beim lesen immer wieder schockiert innehalten musste. Auch kam es vor, dass mich das Beschriebene oder der Protagonist dermaßen angewidert hat, dass ich erstmal nicht weiterlesen mochte (Stichwort: Nekrophilie). Immer dann, wenn die zwiespältigen Gefühle beim Lesen etwas abkühlen und man zum Teil nachvollziehen kann, warum Gazâ so geworden ist und in welche Schwierigkeiten ihn das gebracht hat, bekommt man im nächsten Moment die Bestätigung dafür, warum man es mit einem wirklich hassenswerten Charakter zu tun hat, für den man auf keinen Fall in irgendeiner Form Verständnis aufbringen kann. Trotz alledem konnte der Roman mich immer wieder packen. Wohl wissend, dass es sich hierbei um eine fiktive Geschichte handelt, die man als düstere Phantasie werten könnte, waren dennoch Bezüge zur grausamen, längst in den Medien verbreiteten Realität erkennbar. Dass der Flüchtlings-Mensch als Ware gehandelt wird, dem teilweise übel mitgespielt wird, verdeutlicht das Buch schmerzhaft. Und doch hofft man beim Lesen immer wieder, dass das, was man da liest, pure Phantasie ist und keinen Funken Wirklichkeit enthält. Dabei ahnt man, dass die Realität oft an Grausamkeiten nicht zu überbieten ist. Aber so erschreckend und abstoßend Gazâs Denken und sein Verhalten ist, so interessant ist es auch, seinen Gedanken in die Welt der Politik und die Verhaltensforschung von Mensch und Tier zu folgen. Zur Abwechslung erlebt man hierbei Gazâs ebenso kluge, wie bedrückende und schockierende Gedanken. Hier erhält man viel Stoff zum nachdenken. So erzählt Hakan Günday auf verstörend eindrucksvolle Weise in „Flucht“ davon, dass die Verzweiflung der einen, den Hass der anderen zur Folge haben kann. Es ist kein Buch für schwache Nerven, sondern einer der Romane, die man eigentlich weglegen möchte, es aber nicht kann – ein beeindruckendes Buch, das mir sicherlich noch lange in Erinnerung bleiben wird.

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