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Rezension zu
Der weite Raum der Zeit

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Ein Wintermärchen

Von: Petra
10.01.2017

Im Rahmen des Hogarth Shakespeare Projects, im Herbst 2015 anlässlich des 400. Todestages des großen Dramatikers 2016 gestartet, erschien im April 2016 Jeanette Wintersons Adaption von „Das Wintermärchen“ („The Winter´s tale“) unter dem Titel „Der weite Raum der Zeit“ auf Deutsch (Originaltitel: „Gap of time“). Dieses Stück des großen Dramatikers gehört zu den eher seltener gespielten. Zunächst den Komödien zugeordnet, zählt es nun präziser zu den Romanzen Shakespeare. Hier paaren sich durchaus komödiantische Züge mit eher düsteren Themen und Grundkonstellationen. Typisch ist die in lang vergangener Zeit und märchenhaft verfremdeten Orten spielende Handlung.Weiterlesen ... Dabei befinden wir uns zunächst am sizilianischen Königshof. König Leontes wütet, da er seine Ehefrau Hermione des Ehebruchs mit seinem alten Freund Polyxenes verdächtigt. Die neugeborene Tochter Perdita soll zunächst getötet, dann in der Fremde ausgesetzt werden. Sowohl der erstgeborene Sohn als auch Hermione überleben diese Tragödie nicht, Polyxenes kann fliehen. Perdita wird von Schäfern an der Küste (!) Böhmens gefunden und großgezogen. Viele Jahre später trifft sie dort auf Polyxenes Sohn, der sich in sie verliebt und mit ihr vor seinem Vater nach Sizilien flieht. Dort treffen alle Personen aufeinander und nach all den turbulenten Verwicklungen kommt es zu einem großen Happy-End. Diese typisch verworren-verwickelte Geschichte verlegt nun Jeanette Winterson nach London bzw. die USA der heutigen Zeit. Dabei gelingt es der Autorin großartig, die Handlung einerseits zu entwirren und zu klären, andererseits aber auch ganz eng am Original zu bleiben. Leo ist hier der „König“ eines äußerst erfolgreichen Hedgefonds namens „Sicilia“, die Eifersucht auf seinen Freund Xeno treibt ihn in eine regelrechte Raserei, deren Opfer die neugeborene Tochter wird, die (ebenfalls übers Meer) in die Südstaatenregion „New Bohemia“ zum vermeintlichen Vater Xeno gebracht werden soll, aber auch der Überbringer Tony, der dort von Gangstern überfallen und getötet wird. Zuvor gelingt es ihm noch, Baby und Geldkoffer in einer Babyklappe zu platzieren, wo sie von dem Afroamerikaner Shep (!) gefunden und quasi adoptiert wird. Opfer werden auch Leos Sohn Milo, der verunglückt, und Ehefrau MiMi, die den Verlust beider Kinder nicht verwindet und sich völlig von der Welt zurückzieht. Schon dieser Teil der Inhaltsangabe zeigt, wie eng Jeanette Winterson am Original bleibt, und auch der weitere Handlungsverlauf bleibt diesem Ansatz treu. Es ist frappierend, wie scheinbar mühelos die Autorin zu dem 400 Jahre alten Text die zeitgenössischen Äquivalente findet. Das Orakel von Delphi, das über die wahre Vaterschaft entscheiden sollte, wird hier zum DNA-Test, der König zum Hedgefonds-Manager. Das Umfeld ist modern, die Gefühle und viele Reaktionen des Personals archaisch. Wieder einmal ist man überrascht über die Zeitlosigkeit der Werke Shakespeares. Jede Zeit scheint aus ihnen „Ihren“ Shakespeare herauslösen zu können, sei es in Nachdichtungen, Filmen oder auch im Fernsehen). Auch Autoren wie John Updike („Gertrude und Claudius“) oder unlängst Ian McEwan in „Nussschale“ nehmen immer wieder Bezug auf ihn. Einige Rezensenten haben Winterson die allzu enge Anlehnung an das Originalwerk vorgeworfen, die gezwungene Modernisierung des Plots oder auch das allzu glückliche Happy-End. Mir hat gerade diese Transformation ausgesprochen gut gefallen, ich war immer wieder überrascht, wie stimmig die Autorin diese Aktualisierungen hinbekommen hat, wie eng sie am Text entlang schrieb, wie sie auch immer wieder Anspielungen auf Shakespeare einstreut, „Eigentlich ein perfekter Satz, schoss es Cameron durch den Kopf: Adjektiv, Substantiv, Verb, alles eins und alles gesagt. Natürlich kein Shakespeare, aber absolut zweckmäßig.“ . „„Es gibt da einen alten Spruch, erwiderte Pauline. „Wo keine Hilfe ist, sollt´ auch kein Gram mehr sein.“ „Das ist Shakespeare.“, sagte Tony, „Das Wintermärchen.““ „Pausen“ in die Geschichte einbaut, auch die „Zeit“, die in Shakespeares Stück als Chorus einen eigenen Auftritt bekommt, einbindet. Die Zeit, der weite Raum der Zeit, in dem sich Positionen verändern, Vergebung möglich sein kann, die aber niemals angehalten oder gar zurückgedreht werden kann. Auch Xeno, der Spieleerfinder, arbeitet an einem Computerspiel namens „Der weite Raum der Zeit“. Das hat etwas ungemein verspieltes, (sehr amüsant zum Beispiel auch die Ödipus-Nacherzählung von Autolycus – übrigens auch ein Shakespeare-Charakter – für einen völlig unbedarften amerikanischen Jugendlichen), ohne ganz auf kritische, aktuelle Positionen zu verzichten. „Der (Börsen)Crash war nichts anderes als ein Spiel namens Reise nach Jerusalem: Solange die Musik lief, fragte keiner, ob es genug Stühle gab. Wer will schon sitzen, wenn man tanzen kann.“ . „Die Armen wurden ärmer, die Reichen reicher. Menschen schlachten sich gegenseitig ab. Was war das für ein Gott (…)“ Das Buch kann natürlich auch für sich allein stehen. Dennoch ist zumindest eine oberflächliche Kenntnis des Originals zu empfehlen. Nur so sind die vielen Anspielungen, die liebevollen Adaptionen, aber auch der größte Teil des Handlungsverlaufs gänzlich zu genießen. Führ' uns von hier, daß dann mit beßrer Muße Ein jeder frag' und höre, welche Rolle Wir in dem weiten Raum der Zeit gespielt, Seit wir zuerst uns trennten. Folgt mir schnell!" Besonders das Ende ist ohne den Shakespeare-Bezug eher weniger überzeugend. In einem heutigen Buch würde ich ein derartiges Happy-End nicht durchgehen lassen. Aber was wären Shakespeares Dramen ohne den großen Auftritt am Ende, an dem sich alles klärt und sich alle in den Armen liegen (es sei denn, wir sitzen in einer der Tragödien, dann liegen fast alle bereits im Grabe). Winterson hat ein klein wenig früher geendet. Ob es tatsächlich zur Klärung oder gar Versöhnung kommen wird, können wir nicht wirklich wissen, der Boden ist nur bereitet. Ein Zugeständnis an den heutigen Leser. Und so verlassen wir am Ende beglückt mit der Autorin die Personen, die übrigens ganz theatralisch auf einer Bühne, im Londoner Roundhouse, stehen. „Lassen wir sie nun alle samt Musik in diesem Theater zurück. Auf einem der hinteren Plätze habe ich darauf gewartet, was noch geschehen würde, und nun stehe ich draußen in der Sommernacht, der Regen tastend in meinem Gesicht. Ich habe diese Cover-Version geschrieben, weil das Wintermärchen seit mehr als dreißig Jahren ein sehr persönlicher Text für mich ist.“ Noch vier weitere Bücher aus dem Hogarth Projekt werden sich mit den Tragödien Shakespeares beschäftigen. Man darf gespannt sein.

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