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Rezension zu
Ein ganzes Leben

Robert Seethaler - Ein ganzes Leben

Von: Susanne Becker
15.01.2017

"Meistens schwieg Egger während seiner Touren. "Wem das Maul aufgeht, dem gehen die Ohren zu", hatte Thomas Mattl immer gesagt, und Egger teilte diese Ansicht." In den letzten Tagen habe ich ein kleines, zartes, und doch die ganze Welt enthaltendes Buch Seite für Seite gelesen. Ich habe versucht, dabei behutsam vorzugehen und keinen Buchstaben zu übersehen, wirklich jeden Satz mit Respekt und Achtsamkeit zu lesen. So wie Robert Seethaler, der Autor, in Ein ganzes Leben, das Leben des einfachen Mannes Andreas Egger mit außergewöhnlichem Respekt und großer Hochachtung dem Leser ans Herz gelegt hat. Heute möchte eigentlich fast jeder, den ich kenne (ich selbst natürlich auch!), etwas besonderes sein. Es ist wie so ein Mantra der heutigen Zeit, dass man besonderes leisten muss, auffallen sollte, auf gar keinen Fall ein normales und einfaches Leben führen darf. Normal ist das neue gescheitert! Je älter ich werde, desto bewusster wird mir, wie hohl dieser Anspruch ist. Er geht an so vielem, das wesentlich ist, vorbei. Die Lektüre dieses kleinen Buches, das auf nur 185 Seiten so viel Leben entfaltet und würdigt, hat mich mit so etwas wie Demut erfüllt, Achtung auch, vor jedem einzelnen Leben. Andreas Egger kommt als vierjähriger in ein Bergdorf. Wir schreiben den Anfang des 20. Jahrhunderts. Er kommt zu einem Bauern, der ihn, den Sohn einer Schwägerin, nur aufnimmt, weil er einen Beutel mit ein paar Geldscheinen um den Hals trägt. Seine Kindheit ist von brutalen Schlägen und harter Arbeit gekennzeichnet. Sie zeigt aber auch schon, wie stark dieser Andreas Egger ist, der sich sein Leben lang von nichts und niemandem wird beugen lassen. Als er alt genug ist, verlässt er den Hof und heuert bei einer Firma an, die Seilbahnen baut. Die Arbeit ist hart und gefährlich. Er baut sich ein eigenes kleines Häuschen oben am Berg. Er lernt Marie kennen, und heiratet sie. Er wird eingezogen und muss in den Kaukasus, an die Ostfront, wo er noch viele Jahre nach dem Krieg in russischer Gefangenschaft verbringt. Er kehrt zurück in sein Dorf und wird Bergführer für Touristen. Am Ende seines Lebens wohnt er in einer Art Höhlenbau oben am Berg, mit Blick aufs Tal, und ist zufrieden, trotz der vielen Schicksalsschläge, obwohl sein Leben ein entbehrungsreiches und hartes gewesen ist. Es gab auch die Glücksmomente. Er wusste jeden einzelnen zu schätzen. Er haderte nicht mit dem Schicksal. Er nahm das Leben an, wie es sich ihm präsentierte, ohne auch nur einmal zu glauben, es stünde ihm etwas Besseres zu. Das hat mich nachdenklich gemacht. Ich habe das Gefühl, aus einer Generation zu kommen, in der wir alle denken, es stünde uns immer etwas Besseres zu, eventuell sogar das Beste. Nichts ist gut genug, beglückend genug für uns. Die Sehnsucht nach einem tollen einem besonderen Leben ist gierig und kennt im Grunde keine Befriedigung. Wie viele zufriedene Menschen kenne ich? So richtig viele fallen mir nicht ein. Die Tatsache, das jedes Leben wertvoll ist, wurde in meiner Lebenszeit immer mehr interpretiert als: mir steht ein perfektes Leben zu. Andreas Egger war irgendwie zufrieden, gemeint hier als: im Frieden mit sich und der Welt, obwohl sein Leben nach heutigen Maßstäben hart war und er nicht viel erreicht hat. „Für seine Begriffe jedoch hatte er es irgendwie geschafft und dementsprechend allen Grund, zufrieden zu sein. Von dem Geld aus seiner Zeit als Fremdenführer würde er noch eine Weile gut leben können, er hatte ein Dach über dem Kopf, schlief in seinem eigenen Bett, und wenn er sich mit seinem kleinen Hocker vor die Tür setzte, konnte er seinen Blick so lange schweifen lassen, bis ihm die Augen zufielen und das Kinn auf die Brust kippte. Wie alle Menschen hatte auch er in seinem Leben Vorstellungen und Träume in sich getragen. Manches davon hatte er sich selbst erfüllt, manches war ihm geschenkt worden. Vieles war unerreichbar geblieben oder war ihm, kaum erreicht, wieder aus den Händen gerissen worden. Aber er war immer noch da.“ An noch etwas ließ mich dieses Buch sehr oft denken: an meinen Großvater, den ich hier einmal namentlich nennen möchte, weil er ein so wunderbarer Mensch gewesen ist, der ebenfalls ein hartes und entbehrungsreiches Leben geführt hat, der dabei immer ein offenes Herz behielt. Theodor Boddenberg, der mich gelehrt hat, ohne Worte, allein durch sein Tun, dass jedes menschliche Leben gleich viel Wert hat, egal, wie jemand aussieht, was jemand besitzt, woran er glaubt oder woher er kommt. Diese Lektion wurde nie ausgesprochen, aber sie wurde tagtäglich von ihm gelebt. Schon in den 60er und 70er Jahren war unser Haus immer offen für jeden, der neu ins Dorf kam oder schon ewig dort lebte. An unserem Küchentisch bekam der erste Portugiese genauso Kaffee, wie Nesme, die erste Türkin der Straße, in deren Hof am Feuer ich als Kind jahrelang täglich mit ihren kleinen Söhnen spielte und ich liebte es, dass sie den Hof mit einem Reisigbesen fegte, dass sie mehrere Röcke übereinander trug, dass sie aufgeregt schon am frühen Morgen an unsere Tür klopfte und weinend erzählte, wie in der Nacht eine riesige Ratte sie angefallen habe. Als Kind saß ich immer unter dem Küchentisch und spielte, während die Besucher, tagtäglich, Geschichten erzählten, oft mit Händen und Füßen, und Hilfe jeder Art bekamen: ein Stück Land, um endlich ein Haus bauen zu können, einen Job, Geld, einen Sack Kohlen für mau. Ich lernte, dass jedes Leben wertvoll ist. Ich ging niemals davon aus, das sich einmal in einer Zeit leben würde, in der das nicht mehr Konsens sein würde in Europa und den USA. Die letzten anderthalb Jahre haben mich diesbezüglich aufgeweckt. Vielleicht fällt mir deshalb mein Großvater so oft ein. Vielleicht wird mir deshalb erst jetzt diese seine große Lebenslektion so bewusst, dass ich sie in Worte fassen und ihn dafür ausdrücklich würdigen kann: Jeder Mensch ist wertvoll! Aber auch: Es ist wichtig, sich nichts zuschulden kommen zu lassen. Man hat die Verantwortung dafür, ein guter Mensch zu sein. Was das ist, da gibt es eigentlich wenig Diskussionsspielraum. Die zehn Gebote sind beispielsweise, geht man nach meinem Großvater, ein ganz guter Maßstab. Weil ich mich plötzlich in einer Welt wieder finde, in der der Wert eines menschlichen Lebens inflationär abnimmt, hier, wo ich lebe, bekomme ich manchmal Angst. Ein Buch wie das von Seethaler macht mir wieder Mut. So wie mir auch der Gedanke an meinemnen Großvater, der ebenfalls lange in Russland war, der viele Jahre gegen den Krebs gekämpft hat, der vieles von sei Hab und Gut an andere gegeben hat, der nicht einen Tag schlecht gelaunt war, der jedem geholfen hat, mir Mut macht. Jeder Mensch ist wertvoll! Ich möchte die Gelegenheit noch nutzen, ein weiteres Buch von Robert Seethaler zu empfehlen, welches ich im letzten Jahr gelesen habe: DerTrafikant. Leider kam ich nie dazu, es zu besprechen. Aber es ist ebenso wunderbar. Robert Seethaler ist für mich ein Meister darin, das Leben schreibend zu würdigen und die kleinen Dinge, die so leicht unbemerkt bleiben, aber im Grunde das Leben und seinen Verlauf bestimmen, in wunderschöne, noch lange in einem nachhallende Worte zu fassen. (c) Susanne Becker

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