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Rezension zu
Alles, was ich nicht erinnere

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Er ist geboren worden, er lebte, er starb

Von: letteratura
29.03.2017

Er ist geboren worden, er lebte, er starb – Jonas Hassen Khemiri: Alles, was ich nicht erinnere Samuel ist tot. Wir erfahren das ganz zu Beginn der Geschichte. Wir wissen nicht gleich, wie er starb, und die Frage nach dem Warum ist jene zentrale Frage, die den Roman überhaupt erst antreibt, aber wir wissen gleich, dass er nicht mehr lebt. Und dass sein Tod ein Rätsel ist. Samuel schwebt wie ein Geist über den gesamten 330 Seiten, die der Roman umfasst. Er ist die Hauptfigur, derjenige, der im Mittelpunkt steht und doch nichts mehr sagen kann, der, dessen Bild sich nur durch das zusammenfügt, was die anderen über ihn sagen. Dessen Konturen so mit der Zeit zwar deutlicher werden, wenn auch nie ganz klar sein kann, wer Samuel wirklich war. Es ist, als sei dies eine der Fragen, die der Roman außerdem noch stellt: Die Frage danach, ob das überhaupt möglich ist: Ob wir eigentlich jemals sagen können, wer der andere ist, ob wir ihn kennen können. „Alles, was ich nicht erinnere“ von Jonas Hassen Khemiri nähert sich dem inzwischen verstorbenen Samuel von verschiedenen Perspektiven aus. Ein Schriftsteller recherchiert zu Samuels Tod. Was wir lesen, ist nicht das Endprodukt seiner Recherche, sein Buch, sondern die Sammlung dessen, was er von der Familie und den Freunden Samuels hört, im Wortlaut, so, wie er es in Interviews aufgenommen hat. Dadurch entsteht der Eindruck von Unmittelbarkeit: Der Schriftsteller (der selbst sehr im Hintergrund bleibt) präsentiert uns somit nicht die überarbeitete, geschliffene Version. Wir sind wirklich nah dran an Samuels Leben – soweit wir können. Es sind drei Personen, die neben Mutter und Großmutter eine besonders große Rolle in Samuels Leben eingenommen haben: Da ist Vandad, ein Typ wie ein Schrank, ein wenig undurchsichtig und jähzornig, der in Samuel aber einen Freund wie einen Bruder sah. Da ist Laide, seine große Liebe, mit der alles anders war als jemals zuvor, mit der er eine intensive, rauschhafte Zeit erlebte. Und da ist seine alte Freundin, die Pantherin, der er einst half, als sie familiär eine schwere Zeit hatte und nicht wusste, wohin. Samuel hat mit diesen dreien gemeinsam, dass sie zwar alle seit langem in Schweden leben oder dort geboren sind, dass aber sie oder ihre Eltern bzw. ein Elternteil aus dem arabischen Raum kommen. Samuel selbst war der Sohn einer schwedischen Mutter und eines arabischen Vaters (eine Parallele zum Autor des Romans). „Alles, was ich nicht erinnere“ schenkt uns einen Einblick in das Leben derjenigen, die einerseits zwar in Schweden zu Hause sind, die andererseits aber eben doch immer ein Stück außen vor bleiben. Durch die Berichte seiner Freunde und seiner Familie erleben diese die Zeit vor Samuels Tod noch einmal, wobei Vandad die größte Rolle einnimmt. Er scheint allgegenwärtig, war ganz offenbar der wichtigste Mensch. Seine Geschichte mit Samuel zieht sich durch das gesamte Buch, während die anderen, seine Mutter, die Pantherin, Laide, vorbeiziehen, wieder aus dem Vordergrund verschwinden. Ist diese so intensive Freundschaft wirklich so, wie es scheint? Die Personen wechseln sich in ihren Erzählungen über Samuel ab, teilweise lesen wir die Geschehnisse zeitlich leicht versetzt, springen immer wieder vor und zurück in der Geschichte. Khemiris Sprache ist meist einfach und direkt, teils umgangssprachlich und grammatikalisch falsch, stets wirkt sie authentisch. Es gelingt dem Autor großartig, zu verdeutlichen, dass jeder in seiner Geschichte einen anderen Samuel gekannt hat, dass jeder ein anderes Bild von ihm hatte – dass womöglich Samuel selbst jedem einen anderen Teil von sich gezeigt hat. Und auch die übrigen Personen charakterisieren sich gegenseitig und sehen doch andere Eigenschaften im jeweils anderen als sie selbst in sich sehen. Der Roman ist so kurzweilig, so frisch und locker auf der einen Seite, so voller Tiefe und Schwere auf der anderen, dass man manchmal ganz vergisst, dass Samuel tot ist, mit dem Auto der Großmutter gegen einen Baum gefahren, und dass niemand genau weiß, ob dies Absicht war oder doch ein Unfall. Was ging wirklich in ihm vor? Was bedeuteten ihm Laide und Vandad, die beide wohl glaubten, das Wichtigste Person in Samuels Leben zu sein? „Alles, was ich nicht erinnere“ ist ein facettenreicher Roman, der seine ganze Kraft erst nach und nach entfaltet und in dem viel mehr steckt als das Rätsel um die Frage, ob Samuels Tod Selbstmord oder ein Unfall war. Ein Roman, der ein Stück Leben junger Leute in Stockholm zeigt und wie nebenbei das Thema Migration in verschiedenen Facetten miteinfließen lässt. Nach kurzer Zeit geriet ich bei der Lektüre von Khemiris Roman bereits in einen Lesesog und konnte das Buch kaum noch weglegen. Ein intensiver Roman von einem interessanten Autor, der auch Theaterstücke schreibt: Sein Stück „Ungefähr gleich“ ist zur Zeit an der Berliner Schaubühne zu sehen, in Fragmenten nähert er sich auch dort dem Leben von Migranten in Europa.

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