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Rezension zu
Eine kurze Geschichte von sieben Morden

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Brutal, witzig, wahnsinnig komplex - ein episches und ganz anderes Bild von Jamaika

Von: Dirk Hoffmann
11.04.2017

Am 3. Dezember 1976 stürmen sieben bewaffnete Männer in der Hope Road das Haus des jamaikanischen Reggae-Stars Bob Marley, das im noblen Viertel von Kingston liegt, und eröffnen das Feuer. Während Marleys Manager und Frau jeweils schwer verwundet werden, erleidet der Musiker selbst nur leichte Wunden an Arm und Brust. Scheinbar völlig unbeeindruckt von den Geschehnissen nimmt er wenige Tage später an einem Friedenskonzert der PNP (People’s National Party) teil. Die Attentäter selbst und die Hintergründe der Tat konnten bis heute nicht aufgeklärt werden. Mit seinem dritten, 1985 sogar mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Roman „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ hat der aus Jamaika stammende und von Schriftstellern wie William Faulkner und James Ellroy beeinflusste Marlon James einen epischen Krimi inszeniert, der aufgehängt an dem Attentat auf Bob Marley vor allem über mehrere Jahrzehnte die komplexen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf der karibischen Insel vor Augen führt. Allerdings bedient er sich dabei nicht der chronologischen Schilderung eines allwissenden Erzählers, sondern der sehr subjektiven Ich-Perspektive von gut siebzig fiktiven Zeitzeugen, die jeweils verschiedene Puzzlestücke zum Gesamtbild beitragen. Interessanterweise wird Bob Marley stets nur als „der Sänger“ bezeichnet, auch das politisch-gesellschaftliche Umfeld, das Jamaika in den 1970er Jahren und danach geprägt hat, wird nicht eingehend beschrieben, sondern erschließt sich nur im Gesamtkontext durch hier und da eingestreute Bemerkungen, in denen es um den Konflikt zwischen der kommunistisch orientierten PNP und der pro-westlichen, ultrakonservativen rechten und von US-Präsident Ronald Reagan unterstützten Jamaican Labor Party (JLP). Es geht aber auch um Drogen und den Einfluss der CIA, so dass Drogenkuriere, Gangsterbosse, Ghetto-Kids, Prostituierte, Agenten, ein Journalist vom „Rolling Stone“ und Auftragsmörder zu Wort kommen. Bob Marley wird in diesem Kontext einerseits mythisch als Volksheld überhöht, andererseits als Mischling diffamiert, der sein Volk verraten, an gefälschten Pferdewetten beteiligt gewesen und nur nach Reichtum und Ruhm gestrebt haben soll. „Da haben wir also den Sänger und zwei Gangster von einer politischen Partei, die er angeblich nicht unterstützt, und sie scheinen so dick befreundet zu sein wie alte Schulkumpel. In den nächsten Tagen wird er gesehen, wie er mit Shotta Sherrif herumhängt, dem Paten der Eight Lanes, der für die andere Partei arbeitet, die andere Seite. Die beiden Oberbosse in einer Woche, zwei Männer, die mehr oder weniger die sich bekämpfenden Hälften von Downtown-Kingston kontrollieren. Vielleicht gibt er ja einfach den Friedensstifter, schließlich ist er bloß ein Sänger. Aber so langsam versteh ich, dass in Jamaika niemand einfach nur irgendwas ist. Da ist was im Busch, ich kann’s schon riechen. Hab ich bereits erwähnt, dass in zwei Wochen gewählt wird?“, lässt beispielsweise der „Rolling Stone“-Journalist Alex Pierce verlauten, der vor allem im 1991 angesiedelten abschließenden Kapitel „Sound Boy Killing“ die Zusammenhänge etwas deutlicher werden lässt. Bis dahin erlebt der Leser eine wahre Tour de Force an Grausamkeiten jeder Art, an derben Sprüchen und deftigem Humor, an (homo)sexuellen Fantasien und Praktiken, den unterschiedlichsten Sprechweisen und Slang-Ausdrücken wie Bombocloth, Battyman, Brethren, Busha, Naigger, Jamdown und Hataclaps. Erst in der Gesamtschau entsteht ein ebenso thematisch wie gesellschaftlich vielschichtiges Jamaika-Portrait, dem einige grundlegende Hintergrunderläuterungen für das Verständnis sicher gutgetan hätten, aber durch die unmittelbare, ungeschminkte und facettenreiche Weise, die Hintergründe des Attentats aus unzähligen sehr persönlichen Perspektiven eher unzusammenhängend darzustellen, wirkt „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ sehr authentisch, verwirrend, bewegend, brutal, komisch und lässt damit Jamaika damit in einem Licht erscheinen, das mit bisherigen Vorstellungen über den karibischen Staat gründlich abrechnet.

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