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Rezension zu
Alles, was ich nicht erinnere

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Die Wahrheit über ein Leben

Von: LiteraturReich
05.06.2017

Ein junger Mann ist bei einem Autounfall nahe Stockholm ums Leben gekommen. Das erfahren wir relativ bald in Jonas Hassen Khemiris Roman „Alles, was ich nicht erinnere“, auch, dass hier jemand ist, der dem Geschehen nachgeht, der Fragen stellt, über den verunglückten Simon, über jenen unheilvollen Tag im Jahr 2012, als das Auto in einer Linkskurve geradeaus fuhr und gegen einen Baum prallte. Es sind kurze bis kürzeste Abschnitte, in denen verschiedene Personen zu Wort kommen und ihre Eindrücke vom Geschehen, ihr Verhältnis zum Verunglückten, ihre Beobachtungen schildern. Es sind Nachbarn, eine alte Jugendfreundin, die nun in Berlin lebt, die Mutter, die nur in Emails Auskunft geben möchte, Angestellte eines Altenheims, die ehemalige Freundin Laide und Vandad, ein alter Kumpel und Mitbewohner, die zu Wort kommen. Sehr bald merkt man, dass jeder zweite Abschnitt diesem alten Freund zukommt, dass er wohl eine besondere Rolle spielen wird. Genauso wie Laide, die bald mit diesem alternierend spricht. Laide, das Emigrantenkind, das in Paris gelebt hat, Laide, die Idealistin, die sich für Flüchtlingsfrauen einsetzt, die von meist männlicher Gewalt bedroht sind, Laide, Simons große Liebe im letzten Jahr seines Lebens. Eine Liebe, die aber irgendwann zerbrach. Zu wem aber sprechen all diese Personen? Der tunesisch-schwedische Schriftsteller, der mit Simons Freundin Panther im selben Berliner Mietshaus lebte und den jungen Mann kurz bei einem Besuch kennenlernte, und der sicher nicht zufällig viele Eckdaten mit dem Autor Khemiri teilt, ist es, der die Menschen aufsucht, sie befragt, ihre Berichte sammelt und hier in einem Buch vereint. Der das Geschehen rekonstruieren will. Er wird sich am Ende vom bloßen Zuhörer und Sammler zur zentralen Figur des Romans wandeln. Am Ende offenbart er uns Lesern seine Beweggründe, den Tod eines ihm fast Unbekannten so akribisch zu verfolgen, durch Europa zu reisen, um Stimmen zu dessen Leben und Sterben zu sammeln. Der Schriftsteller hat auch einen Menschen verloren, E., mehr wird über ihn oder sie und seinen/ihren Tod nicht verraten. Nur, dass den Schriftsteller Schuldgefühle plagen, dass ihn dieser Tod nicht loslässt. Und dass er in der Recherche zu Simons Tod eine Art Trost findet. Zumindest, wenn die Menschen sagen, dass es ein Unfall war. Denn da schwebt immer auch ein wenig der Verdacht mit, es könnte sich um einen Selbstmord gehandelt haben. Ein Selbstmord wegen der Trennung von seiner großen Liebe Laide, wegen seiner Enttäuschung über seinen Kumpel Vandad, weil dieser lange Zeit in krumme Geschäfte verwickelt war, aus Sorge um seine demenzkranke Oma, deren Haus zum Zufluchtsort von Flüchtlingen wurde und eines Tages in Flammen aufging, aus Frust über seinen unbefriedigenden Bürokratenjob im Amt für Migration. So tief und hartnäckig der Erzähler auch bohrt, die Wahrheit wird nie ganz zutage treten. Selbst dann nicht, als Simon selbst ein kurzes Kapitel erhält, in denen er die Stunden vor und seinen tödlichen Zusammenstoß selbst beschreibt. Letztlich bleibt die Wahrheit verborgen. Und es bleiben nur Gerüchte. Folgerichtig tauchen gegen Ende Abschnitte auf, die mit „die Leute sagen…“ beginnen. Ist man als Leser zu Beginn noch ein wenig skeptisch, ob die Zerfaserung des Textes in kurze bis kürzeste Abschnitte, die alternierende Anordnung der Erzählenden und die direkte Ansprache wirklich zwingend ist, gerät man sehr bald in einen Erzählsog. Durch die abwechselnden Sichtweisen, die besonders bei Vandad und Laide sehr voneinander abweichen, und die stets gegeneinander, wenn auch meist leicht verschoben, geschnitten sind, bekommt der Text etwas Flirrendes. Wo liegt die Wahrheit? Wie weit liegen Eigen- und Fremdwahrnehmung voneinander entfernt? Wie viel kann man tatsächlich von anderen, auch eng verbundenen Menschen wissen? Wie viel Verantwortung trägt man für ihr Leben? Oder auch für ihren Tod? Das sind Fragen, die sich nach und nach mit aller Eindrücklichkeit stellen und die lange nachhallen. Besonders das Ende, wo der Erzähler selbst, Adressat aller Zeugnisse und hinter ihm ganz schwach verborgen wohl der Autor, ganz nah heran kommt, wird man wohl so bald nicht vergessen.

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