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Rezension zu
Sehende Hände

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Rezension: Bi Feiyu, Sehende Hände

Von: Tina / Kill Monotony
25.06.2017

„Sehende Hände“ von Bi Feiyu hat mich zuerst mit seinem tollen Cover angesprochen, dann hat mir noch der Klappentext zugesagt und schwupp, wanderte es auf meinen SUB. Als ich zu lesen angefangen habe, war ich direkt begeistert von der Schreibweise – und auch von der sich entspinnenden Handlung! Ich konnte es gar nicht mehr aus der Hand legen, so sehr habe ich die Lebensgeschichten der blinden Tuina-Masseure genossen und so hat mich das Buch schließlich über drei Wochen begleitet, weil ich mich zur Langsamkeit gezwungen habe und das Leseerlebnis so länger angehalten hat. Und selbst jetzt, nachdem ich es vor einigen Tagen beendet habe, schwirrt es und die Geschichten der einzelnen (zahlreichen) Personen mir noch im Kopf herum. Noch eine kurze Erklärung: Tuina ist eine spezielle Art der Massage, bei der besonders die Akupressurpunkte des Rückens stimuliert werden sollen und die auch schmerzhaft sein kann. Aber mal zurück auf Anfang: Wang Daifu und seine Partnerin Xiao Kong ziehen gemeinsam nach Nanjing, eigentlich, um ein eigenes Tuina-Zentrum zu errichten, doch da Wang Daifu sich an der Börse verzockt hat, kehren die beiden dorthin zurück, um in dem Tuina-Zentrum eines alten Schulfreundes Wang Daifus, Sha Fuming, zu arbeiten. Die beiden sind blind, genau wie alle anderen Tuina-Masseure in China; für die Blinden ist es der einzige Job, bei dem sie ihren Stolz aufrecht erhalten und trotzdem Geld verdienen können. Denn in China gelten Blinde als Menschen zweiter Klasse: sie erhalten vom Staat monatlich 100 Yuan, damit dieser sich von seinem schlechten Gewissen freikaufen kann; sie erhalten keine Arbeitsverträge, da man als blinder Mensch quasi nicht existiert; Blinden-Hochzeiten werden grundsätzlich nicht abgehalten, da sich durch die Heirat zweier Blinder nicht die Qualität, sondern ausschließlich die Quantität der Menschen verändert und man so auch nicht an Ehre gewinnen kann. Beiyu hat für dieses Buch 25 Jahre lang recherchiert, um das Leben der Blinden in China detailreich wiedergeben zu können, und heraus kam dieses wahnsinnig gefühlvolle, herzzerbrechende und teilweise auch poetische Werk, das nicht zu Unrecht schon jetzt zu meinen Jahres-Highlights zählt. Die Handlung erstreckt sich jedoch nicht nur auf die beiden Hauptcharaktere, sondern auf alle Tuina-Masseure des Sha-Zongqi-Zentrums, wo die beiden arbeiten. Vom Chef Sha Fuming an, der sich hoffnungslos in die angebliche (mit eigenen Augen überzeugen kann er sich ja nicht) Schönheit Du Hong verliebt, die ihrerseits in jungen Jahren zur Pianistin ausgebildet wurde, bis sie auf das Mitleid der chinesischen Gesellschaft stieß und sich von da an auf Tuina spezialisiert hat, bis hin zur Lebensgeschichte aller dort angestellten Masseure und sogar bis hin zu den Sehenden – hier erhält jeder seine eigene Geschichte. Und das macht dieses Buch auch aus: es erzählt, wie jeder Charakter in diesem Zentrum gelandet ist, was seine bzw. ihre Motive sind, zu bleiben und wie man sich als Blinder in dieser riesigen Welt zurechtfinden kann. Nehmen wir zum Beispiel Jin Yan: Sie ist nicht von Geburt an blind, sondern litt an einer Krankheit, die ihr nach und nach das Augenlicht raubte. Deshalb verbrachte sie ihre Jahre als junge Erwachsene damit, alles bewusst zu sehen, Videos, Natur, Dinge. Sie sah sich unzählige Videos von Hochzeiten an, mit der festen Absicht, noch zu heiraten, ehe sie völlig blind ist. Oder Xiao Kong, die so sehr von den chinesischen Gepflogenheiten eingenommen ist, dass sie in ihrer Wut auf Wang Daifu versehentlich den stillen Xiao Ma auf sich aufmerksam macht und er sich durch ihre Art, die es ihr verbietet, ihre Wut an Wang Daifu auszulassen, hoffnungslos in sie verliebt. Wir erfahren von Xiao Mas innerer Zerissenheit und von seiner Fähigkeit, „mit der Zeit zu spielen“, wie es so wundervoll ausgedrückt wurde. Bi Feiyu erzählt in „Sehende Hände“ jedoch nicht nur die Geschichte jedes einzelnen Mitarbeiters des Sha-Zongqi-Zentrums, sondern auch über die Sitten und Gepflogenheiten in China, die auch für Blinde gelten, bzw. sind die Blinden viel zu stolz, um sich nach „abgemilderten“ Gebräuchlichkeiten zu richten. Dieser Stolz bringt unsere Charaktere in so manche missliche Lage, und manchmal muss eine der sehenden Empfangsdamen zur Hilfe schreiten. Auch die gesellschaftliche Situation um die Blinden in China wird thematisiert; die Gesellschaft dort ist nicht nur in arm und reich, sondern auch in blind und sehend unterteilt. Während bei uns versucht wird, blinde Menschen zu unterstützen und ihnen ein uneingeschränktes Leben zu ermöglichen, passiert in China nichts dergleichen; Blinde gelten nicht als Staatsbürger, ein „normales“ Leben ist für sie nicht möglich. Doch ihr unbeugsamer Stolz zwingt sie dazu, aus ihrem Leben als „lebender Toter“ (so beschreibt Feiyu sie tatsächlich) das Möglichste herauszuholen und das Leben ohne Augenlicht auszukosten, komme was wolle. "Wie schön doch die Liebe war – schöner, als hätte sie am ganzen Körper Augen besessen." Fazit: Ein wunderwunderschönes Buch, das nicht nur über die gesellschaftlichen Missstände bezüglich Blinder in China berichtet, sondern auch die emotionale Geschichte von den Angestellten eines Tuina-Zentrums erzählt. Die zahlreichen Lebensgeschichten und Hintergründe jeder einzelnen Person sind spannend zu lesen, regen zum Nachdenken an und treffen mitten ins Herz. Die ganzen chinesischen Namen sind anfangs vielleicht verwirrend, vor allem, da es so viele sind, aber man hat den Dreh schnell raus und Verwirrung ist kein Problem mehr. Feiyu schafft es, auf 400 Seiten so viel zu erzählen, dass man beim Beenden dieses Werks den Kopf voller Geschichten – aber auch Fragen – hat. Wie geht es mit den Charakteren weiter? Das habe ich mich m Ende gefragt, weil mir die ganze Belegschaft des Sha-Zongqi-Zentrums so ans Herz gewachsen sind. Dieses Buch kann ich einfach nur jedem empfehlen, der wahnsinnig gut geschriebene Literatur mag und ein Buch bis zur letzten Seite auskosten will – „Sehende Hände“ ist eine richtige Perle.

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