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Rezension zu
Der Schatten des Folterers

Die beste Fantasyreihe aller Zeiten?

Von: Sören Heim
04.02.2018

The Book of the New Sun von Gene Wolfe ist eine der meistausgezeichneten Fantasy und Sience Fiction Serien überhaupt. Jeder einzelne Teil des eigentlich nur im Ganzen wirklich lesbaren Romans gewann mindestens einen Hugo oder Nebula Award, die gesamte Serie wurde von Locus Magazine als drittbestes vor 1990 erschienenes SF/Fantasy-Werk ausgezeichnet. In diesem Fall ist, soviel sei im Voraus verraten, jeder Superlativ durchaus gerechtfertigt. Neigte das Fandom nicht selbst zur Mythenbildung, müsste The Book of the New Sun sogar wohl relativ eindeutig vor dem Herrn der Ringe und Narnia rangieren. Wobei: Superlativ? Im Vergleich zu den zuvor genannten fristet Wolfe zumindest im deutschsprachigen Raum doch eher ein Nischendasein. Sollte man mal ändern. Ultimativer Klimawandel Worum geht es? The Book of the New Sun spielt in einer fernen Zukunft, in der die Sonne im Verlöschen begriffen ist. Der Leser folgt den Geschicken des Folterers Severian, der nicht ganz freiwillig seine Gilde verlässt um im fernen Thrax eine Stelle anzunehmen, dabei sich zeitweise dem aufständischen Vodalus anschließt, mit einer Theatergruppe reist, eine frühere Geliebte verspeist, und der von einem sympathischen Antihelden über eine zutiefst ambivalente Erlöserfigur zu einem noch ambivalenteren Herrscher mutiert. Das könnte die Mischung für eine faszinierende Lektüre ebenso wie für Kopf-auf-Schreibtischplatte-würdigen Kitsch sein. Da immerhin zwei oder drei tiefer schürfende Aufsätze existieren, die sich mit den zahlreichen Intertextuellen und kulturellen Verweisen innerhalb von The Book of the New Sun beschäftigen, will ich mich im Folgenden darauf beschränken auszuführen, wie es Wolfe gelingt sich größtenteils meisterlichen auf der glanzvollen Seite der gleitenden Kitsch vs. Glorie – Skala zu halten. 1. Das Setting Ein interessantes Setting macht noch keinen guten Roman. Viele Fantasyromane verschenken sogar einen Großteil ihres Potenzials durch schwafeliges Worldbuilding. Aber Woolfe zeichnet, durchaus sparsam, eine so coole wie durchweg morbide Welt, die vor allem in kurzen Szenen erfahren und in Gesprächen fragmentarisch reflektiert wird. Ein einheitliches Bild, wie es etwa der Herr der Ringe letztendlich vermittelt, wird sich beim Leser von New Sun niemals einstellen. Alles bleibt widersprüchlich, noch einmal gebrochen durch die etwas bemüht wirkende, aber mit unglaublicher Souveränität durchgezogene Konstruktion einer Übersetzung des Book of the New Sun als durch Raum und Zeit gespültes Artefakt aus einer noch nicht existierenden Sprache. „The plants filled the place, a forest of them, with nasty meaty leaves and stalks like the newly washed fingers of dead men“ – so befremdlich beschreibt Raymond Chandler in The Big Sleep ein Gewächshaus voller Orchideen. New Sun fühlt sich an wie dieses Gewächshaus. Man treibt wie berauscht durch Wolfes „Urth“ – diese Verschiebungen im Schriftbild, die nichts an der Lautung ändern und den Leser durch fremdartig anzusehende, lautlich aber sich eng an die unsrigen haltende, Ortsbezeichnungen immer wieder auf die eigene Realität verweisen, sind eines der Markenzeichen des Buches – so wie man als Reisender vielleicht ein fremdes Land erfahren würde. Ein Beispiel nur für die Subtilität, mit der Wolfe sein Setting enthüllt: Der grüne Mond, für die Bewohner von Urth eine Alltäglichkeit, wird zum ersten Mal im dritten Buch erwähnt und macht dem Leser nebenbei bewusst, was schon manchmal leis anklang, so leicht wieder vergessen wird und doch noch eminent wichtig wird: Die fortschreitende Kolonisierung des Weltalls in die Urth gleichzeitig eingebettet, und von der es doch abgeschnitten ist. Einer von zahlreichen Gänsehautmomenten. 2. Der Protagonist: Überzeugende Ich-Erzählungen sind brutal schwierig zu schreiben. Sie werden leicht eindimensional, man kann kaum mit einer existenziellen Bedrohung des Protagonisten spielen, ihnen haftet etwas kindliches, etwas von ersten Versuchen an. New Sun dagegen gewinnt große Gewalt aus der Ich-Perspektive. Wolfe greift den Leser bei seinem Bedürfnis, identifikatorisch zu lesen, und treibt ihn teils brutal über die Identifikation hinaus. Das beginnt in The Shadow of the Torturer mit der Problematik, den Werdegang eines Folterers verständnisvoll lesen zu müssen, setzt sich fort damit, dass Protagonist Severian durch den bereits angeführten Leichenschmaus beginnt, in mehrere Persönlichkeiten oder Personen zu zerfallen, und endet noch nicht bei der zunehmend von Träumen, Rückblenden und Vorgriffen durchzogenen Struktur des vierten Bandes The Citadell of the Autarch. Auch wen Severian behauptet, er habe ein eidetisches Gedächtnis, so bleibt er doch immer ein höchst unzuverlässiger Erzähler, oder vielmehr der Erzähler einer unzuverlässigen Welt. So steigert dann auch das von Anfang an bestehende Wissen um Severians späteren Aufstieg zum Autarchen die Spannung, anstatt sie zu unterlaufen. Wäre Severian nur eine von vielen Figuren, die uns ein auktorialer Erzähler vorsetzte, sein Schicksal und das von Urth würden vielleicht kaum berühren. So geht es dem Leser an die Substanz. 3. Kein Erneuerer! Wolfe versucht nicht zwanghaft das Genre zu erneuern, sondern bedient sich von Jesus über Robin Hood bis Elric virtuos zahlreicher Konventionen, die er gerade so sehr verfremdet, dass er ganz neue Einsichten eröffnet – ohne dabei eher als Lehrer denn als Literat aufzutreten. Ist nicht Agia, die mit Severian eine Weile zusammen reist, um ihm dann aus persönlichen Gründen in den Rücken zu fallen und viel später zu politischen Gegenspielerin zu werden eine prototypische Femme Fatal? Dorcas, die allerdings, wie wir später feststellen eine wiedererweckte Tote sein könnte und vielleicht gar Mutter oder Urgroßmutter des Protagonisten, eine geradezu generische Damsel in Distress? Hat Jason nicht einige Ähnlichkeit mit Elrics Gefährten Moonglum (und tausend ähnlichen Gefährtentypen), die auch dann nicht ganz verfliegt, wenn wir lernen, dass er wahrscheinlich eine Maschine ist, jener Urth entwachsen Zivilisation in den Sternen angehört und um vieles mächtiger ist als Severian selbst, noch dazu Mitte des zweiten Buches so klug, sein eigenes Glück zu suchen und dem Helden nicht ins Verderben zu folgen? Undsoweiter, undsofort. Wolfe spielt virtuos mit Überlieferung, ohne dass seine Hauptcharaktere alle paar Seiten darüber lamentieren, dass das wahre Leben niemals so sei wie es in den alten Heldengeschichten erzählt werde. Vor gut 30 Jahren tat Wolfe mit der Fantastik, wovon Martin, Rothfuss und andere immer nur sagen, dass man es einmal tun müsse. 4. Alte Heldengeschichten Denn Wolfe schafft erzählerisch tatsächlich ein Bewusstsein für die Art wie Geschichten und Geschichte entstehen und welche Auswirkungen sie auf das individuelle und kollektive Bewusstsein haben. Etwa indem in elitären Zirkeln wissenschaftliche Erkenntnisse der besten Momente der menschlichen Zivilisation durchaus weiter überliefert werden, aber der Bevölkerung zunehmend als Magie gegenübertreten. Oder indem an passender Stelle immer einmal wieder eine kleine Erzählung aus einem braunen Buch, aus dem Severian noch als Folterer der Gefangenen Thecla vorlas (dieselbe, die er später essen wird und die zu einem Teil von ihm wird und somit auch zu einem Teil der Erzählerstimme…), und in dem stark verfremdet unter anderem das Goldene Vlies und das Dschungelbuch auf einer gemeinsamen mythischen Ebene zur Grundlage des Geschichtenfundus der Gesellschaft von Urth werden. 5. Philosophie ohne „Philosophieren“ Überhaupt wirft The Book of the New Sun existenzielle Fragen auf, ohne dass im Buch ständig existenzielle Fragen bequatscht werden oder Charaktere seitenlang über philosophisches monologisieren. Beispielsweise treibt die Möglichkeit der Weiterexistenz nach dem Tode erkennbar die Gesellschaft Urths um. Aber so wenig wie wir beim Einkaufen, verbalisieren die Bewohner Urths das in ihren alltäglichen Verrichtungen. New Sun untersucht stattdessen verschiedene, gewöhnlich meist spirituell gedachte Gedankenspiele und ihre Auswirkungen in einer materialistischen, um nicht zu sagen martialischen Weise: Von der klassischen Wiedererweckung über die kanibalistische Inkorporation bis hin zum Aufgehen des Einzelnen im Kollektiv werden fromme Wünsche fleischlich gespiegelt und zu erschreckender Kenntlichkeit entstellt. Ohne, und das möchte ich dem Autor hoch anrechnen, dass der Sehnsucht nach Transzendenz letztlich ein plumper Materialismus entgegengestellt würde. Ein weiteres Beispiel: Im zweiten Buch begegnet Severin Doktor Talos und seinem Begleiter, dem „Riesen“ Baldanders. Offenkundig gebietet der Doktor dem Riesen, treibt ihn immer wieder an und schlägt ihn auch manchmal. Auf die Anrede seiner selbst als Diener des Doktors aber antwortet der Riese: „Ich bin sein Herr“. Ganz zwanglos stößt Wolfe in dieser Beziehung den Leser auf grundlegende Gedanken, wie sie vor allem in linken Lesarten des Herr und Knecht-Kapitels von Hegels Phänomenologie des Geistes entwickelt wurden, ohne aber geradewegs dazu zu drängen, es müsse an dieser Stelle jetzt angestrengt eine tiefe Offenbarung erfahren werden. Noch mehrfach wird die Frage wer herrscht und wer beherrscht wird (nicht nur, aber hier doch besonders isoliert und prototypisch) anhand der Konstellation von Talos und Baldanders angerissen, sie harrt einer letzten Auflösung auch noch als zum Schluss des vierten Buches Severian selbst zum Autarchen erhoben wird und statt als höchste Macht im Staate nie dagewesene Freiheit zu erfahren ganz in seiner Funktion gegenüber den Untertanen wie auch gegenüber der nun in greifbare Nähe gerückten interstellaren Zivilisation aufgeht. 6. Tempo Man bedenke dabei immer: Das gesamte Book of the New Sun ist dabei etwa halb so lang wie der Herr der Ringe und etwa so lang wie ein einzelnes Buch des ASOIAF-Zyklus. Wolfe hat ein sehr genaues Gefühl dafür, welche Details er ausarbeiten muss und wo er dem Leser die Ausgestaltung seiner Welt freilassen kann. Es fasziniert mich immer wieder, wie wenig viele Fantasy-Autoren auf die Fantasie ihrer Leser vertrauen. Anders Wolfe. Er zeichnet mit bewusst groben Pinselstrichen, versteht es auf knapp 30 Seiten die Kleinstadt Thrax aufzubauen, ihr eine überzeugende Architektur, Geographie und Sozialstruktur zu verleihen, um sie bald größtenteils zu zerstören. Versteht es, Severian in einer kurzen Reiseepisode einen Ziehsohn mit Familie angedeihen zu lassen und die allesamt wieder dahinzumetzeln. Die Beziehungssysteme, durch die Urth sich fügt, wirken regelmäßig sehr plastisch, die Charaktere als kennte man sie schon seit vielen Büchern, und das Dahinscheiden gerade deshalb glaubwürdig und tatsächlich erschütternd. Weil Veränderungen Schlag auf Schlag kommen während Severian als einzige Konstante zur widerwilligen Identifikation zwingt – nebenbei spiegelt das zugleich treffend die rasch zerfallende und doch so statische Welt von Urth – spürt der Leser die Schläge. So Fällt im Gegensatz zu ASOIAF New Sun nie dem anheim, was die Kollegen von ferretbrain „das Paradoxon des Todes“ nennen. Belassen wir’s dabei. Wer dieses Jahr nur einen fantastischen bzw. Sci-Fi Roman in die Hand nehmen möchte (technisch ist New Sun wohl eher Science-Fiction, strukturell fühlt es sich eindeutig wie Fantasy an) und wem Der Träumer in der Zitadelle zu innerlich klingt, der lese The Book of the New Sun. Alle andren lesen beides. ‚Nuff said.

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