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Rezension zu
Herrschaft der Dinge

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Nachlese: Herrschaft der Dinge (Frank Trentmann)

Von: Minimalismus21
11.03.2018

Wie schreibt man eigentlich Konsumgeschichte in einem Zeitalter, in dem wir von einem stetig wachsenden Berg von Dingen umgeben sind? Vielleicht als Geschichte eines Beziehungs- bzw. Bedeutungswandels, als Historie der Veränderung und als Beitrag zu einer historischen Debatte. Letztgenannte begann übrigens nicht erst im 21. Jahrhundert, wo sich – so der deutsche Historiker Frank Trentmann (Professor für Geschichte am Birkbeck College der Universität London) – zwei Lager gegenüberstehen und mit ihm zwei Arten von Konsumenten. 1. Der passive, durch Kaufen, Billigkredite, Markenbildung und Werbung gelangweilte Konsument. 2. Der demokratische Wohlstandsbürger, der als Teil des Marktes unbehelligt seiner Wahlfreiheit frönt, Kinder und ältere Menschen als besondere Zielgruppen mitgedacht. Egal, wie die persönliche Einordnung ausfällt: Einkaufen und Konsumieren sind keineswegs Akte geistloser Akkumulation, sondern haben identitätsbildenden Charakter. Menschen finden sich, das zeigen anthropologische Studien in Überflussgesellschaften, in ihren Besitztümern wieder und drücken sich durch sie aus. Dazu gehört auch, Dinge zu personalisieren und sich eine Erinnerungskultur zu schaffen, etwa wenn Materielles von Generation zu Generation weitervererbt wird. Im 15. Jahrhundert genauso wie heute. Erwerb, Nachschub, Verbrauch Aus diesem Grund (und aus zahlreichen anderen) geht es Trentmann in seinem mehr als 1000-seitigem Mammutwerk weder darum, Urteil in einer moralischen Debatte zu fällen noch eine Entscheidung zu treffen, ob Konsum >>gut<< oder >>schlecht<< ist. Wer Zeit und Muße hat, sich auf sechs Jahrhunderte Konsumgeschichte einzulassen, begibt sich aber dennoch auf eine Reise des menschlichen Verlangens nach immer >>mehr<<, gelenkt, gesteuert und gestutzt in jeweiliger Abhängigkeit vom politischen System, von Ideologie, materiellen Bedingungen uvm. In zwei großen Kapiteln widmet sich der Autor einer aufblühenden Kultur der Dinge im 15. Jahrhundert bis zum Ende des Kalten Krieges in den 1980er Jahren ebenso wie einer Einbettung zentraler, zeitgenössischer Herausforderungen in den historischen Kontext, darunter der sog. „Wegwerfgesellschaft“. Ist ihm diese hehre Wissensvermittlung gelungen? Komplex, komplexer, Konsum Das ganze Thema „Konsum“ ist komplex, komplexer, als es die Einleitung erahnen lässt. Viele Schwerpunkte werden lediglich angerissen, manche sogar regelrecht ausgelassen, wie Kritiker bemängeln. Trotzdem ist man um Vollständigkeit bemüht, um illustrierende Beispiele. Sie machen Geschichte zwar lebendig, laufen an der einen oder anderen Stelle aber Gefahr, zu singulär und zu wenig aussagekräftig für ein großes Ganzes und damit für allgemeingültige Ableitungen daherzukommen. Lesefluss und Übersichtlichkeit hätten von einer größeren Anzahl an Absätzen profitiert, Informationsdichte und Schreibstil bewegen sich zum Teil in einem schwergewichtigen Abhängigkeitsverhältnis. Aller Kritik zum Trotz liefert Die Herrschaft der Dinge einen faszinierenden Einblick in die Welt der Güter und Waren, die seit dem 15. Jahrhundert mehr und mehr in einen globalen Austausch und Umlauf gerieten. Kauf und Auswahl von Dingen nahmen zu, Geschenke und Eigenproduktionen ab. Der interregionale bzw. globale Handel brachte die Kommerzialisierung des Alltagslebens mit sich. Bemerkenswert ist, dass etwa im 16. Jahrhundert zwar nicht von materiellen Neuheiten, wohl aber von einer Verfeinerung der Dinge gesprochen werden konnte, d.h. Kelche wurden bspw. kunstvoller gestaltet, aber die Materialien sowie die Art der Güter unterlagen kaum einer Veränderung. Im Gegensatz zu kurzlebigen Trends der „modernen“ Konsumgesellschaft, mussten Besitztümer eher dauerhaft und hochwertig sein, um als zeitloser Wertspeicher herzuhalten, der in einer bargeldarmen Wirtschaft bei Bedarf zum Pfandleiher wanderte. Die Geschichte des Konsums ist folglich u.a. eine Geschichte des moralischen Kompass(es), ein kulturelles Konstrukt, in dem es wiederholt zu einer neuen (gefühlsgebundenen) Aufladung kam. Die anhaltende Kritik am Konsum zieht sich dabei parallel wie ein roter Faden durch Hunderte von Seiten, wobei sein interessanter Beitrag als sozialer Gleichmacher im Gegenzug glücklicherweise nicht vergessen wird. Wer im Wohlstand schwimmt, vergisst nur allzu leicht, welche Bedeutung ein neues, sauberes Kleidungsstück für einen anderen Menschen als Zeichen sozialer Inklusion und Selbstachtung besitzen kann. Zugleich entlarvt die Übersichtsdarstellung die verbreitete (Fehl-)Annahme, Massenproduktion, Marketingkampagnen, Werbung und ihre Kontrahenten wie ethischer Konsum, Lokalwährungen sowie explizite Gegenbewegungen zum „Luxusshopping“ seien lediglich ein Phänomen vergangener Jahrzehnte. Bereits im Italien der Renaissance setzen Menschen mit materiellen und moralischen Vorbehalten ein Zeichen gegen Opulenz und Übermaß. Bereits im 18. Jahrhundert dominierten bspw. in württembergischen Gemeinden soziale und institutionelle Zwangsjacke(n), durch die das Verlangen und die Ausgaben im Zaum gehalten wurden. Ein Aufblühen des Konsums war in derartigen Umgebungen kaum möglich, nicht alle Menschen bzw. Schichten hatten – und haben bis heute – jederzeit uneingeschränkten Zugriff auf das vorherrschende Warenangebot. Konsument sein kann am Ende nur, wer Konsument sein darf. Zeitarmut als Sympton des 21. Jahrhunderts? Spannend ist es in diesem Gefüge auch zu beobachten, welchen Einfluss die Entwicklung des städtischen Lebens auf den Konsum hatte, wie und warum die Lust auf regionale Waren verschwand, wie Wasser und sogar Rollentreppen neue Sinnbilder und Netzwerke schufen, wie Einkaufen – mitunter – Selbstzweck bzw. Ziel des Lebens wurde und das Medium Radio das Ende der Stille einläutete. Dass unter Konsum nicht nur subsumiert wird, was sich im Allgemeinen zwischen (zu sich) nehmen und kaufen bewegt, ist eine echte Stärke des Opus Magnum. So wirft Trentmann die Frage auf, ob sich unsere Welt tatsächlich immer schneller dreht, und erläutert, warum zeitsparende Produkte in Wirklichkeit zu zeitintensiveren Freizeitbeschäftigungen führen. Seine These: Die Hyperaktiven unter uns besäßen die größte audiovisuelle Ausrüstung (CDs, MCs, LPs), was die symbiotische Beziehung zwischen zeit- und güteraufwendiger Freizeitbeschäftigung belege. Mit den Folgen unseres Konsums setzt sich das letzte rund 100-seitige Kapitel Wegwerfgesellschaft? auseinander, welches einen breiten Bogen vom Irrsinn des Recyclings und des Überkonsums, vom Horten und von Faitrade-Produkten bis hin zur sog. „Disposophobie“ spannt, also der Angst sich von Dingen zu trennen. Letztgenannter steht paradoxerweise eine Kultur der Beseitigung gegenüber, in der die zunehmende Verschwendung von Ressourcen, wachsende Müllberge und mangelnde Verantwortung für die Gegenstände das Paradoxon in der Konsumenten-Apotheose verdeutlichen: Wachsende Freizügigkeit und Wahlmöglichkeiten in Vergangenheit und Gegenwart schaffen ökologische Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft. Wer an dieser Stelle ausgereifte Lösungsangebote erwartet, dürfte allerdings enttäuscht werden. Frank Trentmann zeigt globale Zusammenhänge auf, entlarvt die Spezies Mensch als immerwährenden Konsumenten und räumt mit etabliertem Halbwissen rund um die Kultur des Materiellen auf. Sein Anspruch und Angebot an den Leser ist es, eine dichte, informative Diskussionsgrundlage zu schaffen, auf deren Basis wir unseren Konsum in einem neuen Licht betrachten, uns an Debatten fundiert beteiligen und zugleich die dringliche Aufgabe angehen können, einen nachhaltigeren Lebensstil zu finden. History will teach us nothing? Um die Zukunft zu bewahren, brauchen wir eine umfassende Kenntnis der historischen Prozesse, durch die wir in die Gegenwart gelangt sind, sagt Trentmann. Passender Untertitel des englischen Originals: How we Became a World of Consumers. Für fundierte Minimalismus-Debatten unerlässlich.

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