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Rezension zu
Istanbul Istanbul

Spagat zwischen tagespolitischem Anlass und überzeitlicher Bedeutung

Von: Sören Heim
23.04.2018

Warum Istanbul Istanbul von Burhan Sönmez sich als Lektüre derzeit geradezu aufdrängt, muss kaum diskutiert werden: „Unter den uralten Straßen Istanbuls sitzen vier Gefangene in einer Zelle – ein Student, ein Doktor, ein Barbier und ein alter Mann – und warten darauf, reihum von den Wärtern zum Verhör abgeholt zu werden. Um sich abzulenken, erzählen sie sich gegenseitig Geschichten.“ – soweit die Beschreibung des Verlags. Die Gefängnisse der Türkei sind seit dem versuchten Putsch und der auf ein solches Ereignis wohl nur gewartet habenden Reaktion überfüllt. Von einigen bekannten Köpfen wissen wir, Deniz Yücel wurde von der deutschen Öffentlichkeit tatsächlich ein Jahr lang nicht vergessen, bemerkenswert in einer Zeit, in der die Aufmerksamkeit sich im Minutentakt neuen Ereignissen zuwendet. Aber Yücel war nur einer von vielen. „ Einmal bat ein Häftling um ein Buch, die Antwort des Bibliothekars lautete: „Das Buch haben wir nicht, aber sein Autor ist da.““, witzelte Can Dündar mit Galgenhumor. Und dann sind da noch all die Gefangenen, die keine Tätigkeit aufweisen können, die sie fürs europäische Bildungsbürgertum interessant macht. Genau denen aber verleiht der 2015 auf Türkisch erschienene Roman von Sönmez eine Stimme. Dem Studenten, dem Doktor, dem Barbier, auch der geheimnisvollen Frau in der Zelle nebenan, die aus Angst, die Wachen könnten etwas hören, nur mit Blicken und Gesten redet. Die Situation ist seltsam zeitlos, wie es nicht wenigen Werken türkischer Gefängnisliteratur zu eigen ist. Wie etwa auch in Asli Erdogans The Stone Building and other Places wird höchstens angedeutet, welches Regime die Gefangenen in den Knast gebracht hat und wegen welcher Vergehen sie dort sitzen. Die Türkei hat mehrere Militärdiktaturen hinter sich, und die autoritären Verschärfungen der AKP-Regierung sind nur die letzten in einer langen Reihe von Repressionen. Dass alle paar Jahre gegen die (meist trifft es die linke) Opposition losgeschlagen wird, die Gefängnisse sich füllen und Intellektuelle ins Exil gehen, das kann beim Querlesen durch die türkische Literatur der letzten 100 Jahre schon mal wie das Auf- und Abwallen von Naturgewalten wirken. Natürlich liegt dennoch nahe, Sönmez Werk mit Blick auf die jüngere Vergangenheit zu lesen, ältere Kämpfe und Verhaftungswellen sollten darüber aber nicht verdrängt werden. Literarisch präsentiert Sönmez eine gelungene Verschmelzung von großer und kleiner Form. An insgesamt zehn Tagen wechseln sich die vier Erzähler ab, jeder erzählt mindestens zwei Kapitel. Doch die jeweiligen Kapitelüberschriften täuschen. Bereits im Eröffnungskapitel, in dem der Student als Ich-Erzähler fungiert, berichtet die Hälfte der Zeit eigentlich der Barbier seine Geschichte. Unterbrochen werden die Austausche, die immer darauf bedacht sind, nicht zu viel zu verraten, da irgend einer der Zuhörer unter der Folter brechen könnte, von den wiederkehrenden Reflexionen der Angst, wer als nächstes abgeholt werden könnte, von nahegehenden Schilderungen der Wirkung andauernder Folter und der Unsicherheit, die noch eher auf den Tod als auf die Freiheit zu hoffen wagt. Demgegenüber stehen die Gefangenen verbindende Erinnerungen an Istanbul von betörender Schönheit und Melancholie, etwa: Du durchstreifst die Stadt, bis die Sonne auf die Dächer sinkt. An einem alten Straßenbrunnen labst du dich an kühlem Wasser. Du hörst einen Hund bellen, hebst den Kopf und schaust in die Richtung, aus der das Kläffen kam. Du siehst das rote Tuch, ein von Galata zum Meer hinunterwehender Wind wirbelt es mit sich. Welch seltsame Reise das Leben doch ist. Vom Meer her gekommen, kehrt das Tuch zum Meer zurück. Du fragst dich, wo der Ort sein mag, an den die Menschen der Stadt zurückkehren (…) Aber auch die von Küheylan Dayi ins Gefängnis getragene Vorstellung, dass die ganze Stadt ein Gefängnis sei. Istanbul erscheint in Istanbul Istanbul als Sehnsuchtort, Bedrohung, Aufhebung und Verlängerung der trostlosen Situation. Manchmal scheinen die Gefangenen sogar wieder ganz real in Istanbul in Freiheit zu wandeln, zu feiern, zu trinken. Auch die „eigentlichen“ Geschichten, die jedes Kapitel einleiten, sind stets mit der Stadt verbunden, die Erinnerungen, die uns teilweise über die Protagonisten mehr verraten als diese voneinander wissen, und noch die Hoffnung auf einen Aufstand, der die Gefangenen befreit – immer geht es um Istanbul. Dabei balanciert Istanbul Istanbul zwischen realistischer Schilderung, Anklängen ans Dekamerone, brutaler Gewalt und selbst noch – Witz. Denn viele der Geschichten, die die Kapitel einleiten, sind tatsächlich atmosphärisch ausgebaute, mit Lokalkolorit versehene, teils versaute, Witze. Neben dem Erzählen von Geschichten, das die Ausnahmesituation erträglich macht – Geschichten, die bis ins dritte Glied weitergesponnen werden, wenn in einer Erinnerung etwa an eine Geschichte erinnert wird, die die Mutter oder der Vater erzählt – gilt der Witz den Protagonisten als zweites Transzendenz stiftendes Element. „Gelbes Lachen“ nennt wieder Küheylan Dayi im gleichnamigen letzten Kapitel „das Lachen, das den Tod vergessen macht.“ Istanbul Istanbul ist ein klug konstruierter, dabei überschaubarer Roman, der viele Leser verdient hat. Und das nicht allein, nein, nicht einmal zuerst aus tagespolitischen Gründen. Istanbul Istanbul ist kein Anti-Erdogan-Roman. Sondern ein Text, der spielend den Spagat zwischen tagespolitischem Anlass und überzeitlicher Bedeutung schafft.

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