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Rezensionen zu
Verzeihen

Svenja Flaßpöhler

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Svenja Flaßpöhler, Philosophin und freie Autorin, hat ein großes Thema vom eigenen Erleben her gepackt. Verzeihen ist keineswegs nur eine persönliche Angelegenheit. Verzeihen ist eine menschliche Fähigkeit, sie fußt in unseren Moralvorstellungen und bestimmt das politische Geschick von Gesellschaften. Verzeihen ist eine Grundkonstante des Lebens und der menschlichen Geschichte. Es gehört zu den schwierigsten Dingen, die einem Menschen begegnen. Wer nicht verzeiht, bleibt vielleicht im Recht. Aber er verliert seine Zukunft. Wer nicht vergisst, und Vorsicht, das gilt auch für die „Täter/innen“, verspielt ebenfalls die Möglichkeit auf ein besseres Leben. Aber fangen wir von vorne an. Der Ausgangskonflikt scheint simpel, auf jeden Fall alltäglich. Eine Mutter verlässt die Familie, um mit einem neuen Mann ein neues Leben zu beginnen. Die Tochter erinnert sich und kommt nicht zur Ruhe. Warum nur hat die Mutter ihr und ihren Geschwistern das angetan? Warum ist sie gegangen? Und warum hat sie auch in späteren Zeiten, wenn man doch über diesen Weggang hätte reden können, nie wirklich gesprochen – geschweige denn, sich entschuldigt? In drei Kapiteln nähert sich Flaßpöhler dieser Frage. Sie lauten: Heißt verzeihen verstehen? Heißt verzeihen lieben? Heißt verzeihen vergessen? Berühmte Philosoph/innen kommen zu Wort ebenso wie Menschen, die im eigenen Leben mit dem Verzeihen – ja, tatsächlich meist – gerungen haben. Die Herausforderung des Verzeihens, so umschreibt sie ihr Thema in der Einleitung, sei weder gerecht noch ökonomisch. Es sei schlicht der Verzicht auf Vergeltung, damit aber umgekehrt auch eine Gabe, immer in der engen Beziehung zwischen zwei Menschen – ein/e Dritte/r ist nicht einzubeziehen. Für die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Verzeihens zieht die Autorin zwei jüdische Denker/innen heran: Jacques Derrida, der radikal den Akt des Verzeihens auf das Unverzeihliche reduziert (nur das, was rational betrachtet nicht verziehen werden kann, ist am Ende verzeihbar) und Hannah Ahnend, die bestimmte Verbrechen – und ihr ging es dabei vor allem um die Shoah – unverzeihlich nennt, nämlich solche, die absichtlich und im Wissen um das Böse begangen wurden und werden. Wenn man, und hier fängt das erste Kapitel an, mit dem Versuch eine Untat zu verstehen, auch schon auf dem Weg zum Verzeihen ist, stellt sich natürlich die Frage, ob dieses Verstehen nur nivelliert. Wie kann ich denn das Böse überhaupt verstehen (wollen)? Oder aber: Wo ist das Ende menschlicher Freiheit? Tut jemand Böses, weil er es will oder weil er von der Spur abgekommen oder sogar verrückt geworden ist? Können wir denn den Anderen jemals verstehen? Gibt es den freien Willen überhaupt? Die neuere Forschung zum Beispiel zeigt, dass neuronale Defekte eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit Straftaten spielen. Andererseits gibt es natürlich eine Eigenverantwortung. Ich kann mich über eigene Macken hinwegsetzen, zur Not, in dem ich mich einer medizinischen Behandlung unterziehe. Einen spannenden Exkurs unternimmt Flaßpöhler, wenn sie Emmanuel Lévinas referiert und dessen Beobachtung, dass wir Menschen einander nur bedingt verstehen können, weil der Andere uns stets fremd bleibe, er sei „absolut anders“ und in diesem Sinn durch „keinerlei Verstandeskategorie“ zu bestimmen. „Wenn wir einem Menschen in die Augen blicken, ertrinken wir nachgerade in dieser Unendlichkeit, stürzen in einen See ohne Grund.“ (Wer im Übrigen, hätte schöner den Moment des Verliebens beschreiben können als Lévinas?) Für das Verzeihen braucht es gerade, so Lévinas, den Anderen oder die Andere: „(Zwar) wird die Schuld keineswegs im Akt der Vergebung getilgt. Doch hat der vergebende Andere sehr wohl die Macht, die Vergangenheit in einem anderen Licht erscheinen zu lassen: Die Vergebung wirkt auf die Vergangenheit, sie wiederholt in gewisser Weise das Ereignis, indem sie es reinigt.“ Müssen wir lieben, so die zweite große Frage, um verzeihen zu können? Friedrich Nietzsche wird hier quasi als Referent hinzu gezogen, denn er proklamierte eine „Andere Ökonomie“, die mit dem Prinzip des Schuldausgleichs brach. Dabei bezieht sich das Vergeben nur auf die Person, nicht auf die Tat, d.h. das Unrecht bleibt bestehen, doch es wird kein Schuldausgleich gefordert. Man verlässt „nur“ die von der Äquivalenz geprägte Sphäre des Schuldens und verlässt sich auf das Denken in Ungleichgewichten (denn auch Schuld und Sühne können sich wahrscheinlich nie wirklich entsprechen). Peter Sloterdijk spinnt die Idee der „Anderen Ökonomie“ weiter. Verzeihen ist hier die unverzichtbare Geste, die aus dem Vergangenen in die Zukunft hinein öffnet. Täter und Opfer erhalten die Freiheit zu einem „anderen Anfang“zurück. Heißt verzeihen vergessen? Diese dritte Frage ist für meinen Begriff die schwierigste, denn sie knüpft sich an unsere historische Schuld, den Holocaust, für den wir eine Erinnerungskultur geschaffen haben, in der Hoffnung, damit jede Form des Rückfalls für uns und auch für andere Nationen auszuräumen – oder doch zumindest massiv zu erschweren. Doch scheint Vergessen auch eine Prämisse für ein gelungenes Leben zu sein. Wer immer wieder in die Vergangenheit zurückkehrt, sei es als Täter/in oder als Opfer, findet den Weg in die Gegenwart und von dort in die Zukunft nicht mehr. Vergessen garantiert in einem gewissen Maß die seelische Ordnung, sie ermöglicht es, schwierige Momente „loszulassen“, und es ist nicht nur ein passives Verhalten, sondern ein Können: auf die Rache zu verzichten, indem ich mir das zugefügte Leid nicht mehr ins Gedächtnis rufe. Dieses Verzeihen, so zitiert Flaßpöhler Thomas Macho, „leistet Verzicht auf eine zentrierte, für sich selbst absolut gesetzte Subjektivität. Verzeihen ist nur möglich als Gelassenheit, als Abstand zu sich selbst.“ Der Umgang mit kollektiver Schuld wiederum, das zeigt sich am Ende dieses dritten Kapitels, kann nicht kollektiv geschehen. Wer unter den Nationalsozialisten gelitten hat, kann nur einen persönlichen Umgang mit der Vergangenheit finden. Das gilt auch für uns, die Kriegsenkel, die keine eigene Schuld auf sich geladen haben, jedoch mit der Schuld der Eltern (je nachdem) und der Großeltern belastet sind, ob wir nun wollen oder nicht. Es gibt, und das ist nicht nur das Fazit dieses letzten, extrem dicht geschriebenen Kapitels, keinen Königsweg des Verzeihens. Jede und jeder wird seinen eigenen Weg gehen und eins ist klar, kein Verzeihen ist endgültig. So lange wir leben, werden wir uns immer wieder neu entscheiden müssen: Verzeihe ich auch weiterhin, oder komme ich an einen Punkt an dem ich nicht mehr kann oder will? Das Buch ist angenehm kurz und auf den Punkt geschrieben. Es gefällt mir besonders gut, dass sich Theorie und Erfahrungen der Autorin und anderer Menschen miteinander abwechseln. Damit sind auch eigene Erlebnisse leichter aufzuschlüsseln. Gegen jedes Vorurteil sind auch alle zitierten Philosoph/innen verständlich in ihren Aussagen – wer schafft das schon!? Ich habe das Buch gerne und mit großem Gewinn gelesen, vielleicht hätte ich auch gerne Frau Flaßpöhler als Philosophin noch gehört – aber das ist nur ein kleinster Einwand gegen eine große Leistung.

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