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Rezensionen zu
Gehen, ging, gegangen

Jenny Erpenbeck

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Gehen, ging, gegangen – immer noch eines der besten Bücher zum Umkreis Asylsuchende, Flüchtlinge, Neubürger. Ein Roman, geschrieben von Jenny Erpenbeck. Ein erneuter Blick darauf lohnt, auch wenn das Buch schon 2015 erschienen ist. Gehen, ging, gegangen: der Titel ist schlicht genial, weil er alles enthält: die Mühen, die deutsche Sprache zu erlernen; den Fortgang der „Fremden“; den Abgang des Professors von seiner langjährigen Wirkungsstätte und … Gehen, ging, gegangen: Richard, Professor der Altphilologie, seit fünf Jahren verwitwet, von seiner Geliebten verlassen, ist frisch emeritiert und beginnt sich einsam zu fühlen. Auf dem Alexanderplatz vor dem Roten Rathaus sieht er Ende August zehn Männer im Hungerstreik, die ihren Namen nicht sagen wollen, mit einem Schild „Wir werden sichtbar“, die dort in Zelten auch übernachten; an einem der nächsten Tage sind sie verschwunden, weil es eine Vereinbarung mit dem Senat gegeben hat, in der eine genaue Einzelprüfung versprochen wird. Richard kommt auf die Idee, mit ihnen in ihrer Sammelunterkunft am Oranienplatz Verbindung aufzunehmen; zunächst hat er nur vor, Interviews zu führen, aus wissenschaftlicher Neugier; doch wird er mehr und mehr zum Helfer und Handelnden, bis er schließlich sogar sein Haus mit Behördenbilligung zu einer Heimunterkunft macht. Gehen, ging, gegangen: Anfang Februar treffen für alle Männer der Oranienplatz-Gruppe die Bescheide ein. „Einzelfall für Einzelfall ist nun geprüft und entschieden. Es hat sich herausgestellt, was man auch bei der Räumung des Platzes im Herbst letzten Jahres schon wusste: dass nur Italien für die Männer, die in Italien angekommen sind, zuständig ist“ (entsprechend der Dublin-II-Verordnung). In dem Buch sind die beiden gegenüberliegenden Seiten 328 und 329 fast leer – da steht nur jeweils „Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wohin er gehen soll?“ Am Schluss des Romans feiert Richard seinen Geburtstag mit alten und neuen Freunden. In einem Gespräch mit Detlev und Khalil spricht er verdrängte Wahrheiten aus seiner Ehe erstmals aus – auch er hat etwas gelernt. Damals (als seine Frau nach einer Abtreibung fast gestorben wäre) sei ihm klargeworden, „dass das, was ich aushalte, nur die Oberfläche von all dem ist, was ich nicht aushalte. So wie auf dem Meer?, fragt Khalil. Ja, im Prinzip wie auf dem Meer.“ Gehen, ging, gegangen: heimliche (dritte) „Hauptperson“ des Buches ist die Zeit. „Die Zeit macht etwas mit einem Menschen, weil ein Mensch keine Maschine ist, die man an- und ausschalten kann. Die Zeit, in der ein Mensch nicht weiß, wie sein Leben ein Leben werden kann, füllt so einen Untätigen vom Kopf bis zu den Zehen“ (S. 293). Was mir an dem Roman besonders gefällt, ist, dass er nicht einfach schwarz-weiß malt. Beispielsweise kann sich Richard nie ganz von seinen bürgerlichen (Vor-)Urteilen lösen. Er ist keineswegs ein reiner Gutmensch. Als Osarobo die Verabredung zum Klavierspielen vergessen hat: „Er ärgert sich, aber worüber eigentlich? Dass der Afrikaner nicht so glücklich und dankbar ist, wie er es von ihm erwartet? … Vielleicht auch darüber, dass der Afrikaner nicht verzweifelt genug ist, um seine Chance zu erkennen?“ (S. 145) Nachdem bei ihm sich ein Diebstahl ereignet hat, kann er nicht verhindern, dass er im Stillen Osarobo bezichtigt, der regelmäßig zum Klavierspiel gekommen war. Ob er es tatsächlich war, lässt die Autorin offen. Die Asylbewerber (genauer: ein Teil von ihnen) sind differenziert gezeichnet. Die Sprache ist einfach, die Sätze meistens kurz. Öfter werden Wiederholungen als Stilmittel verwendet. Auch tiefere Gedanken sind gut verständlich (einfach) formuliert. Richard vor der Begegnung mit den Flüchtlingen: „Richard wartet, aber er weiß nicht, worauf. Die Zeit ist jetzt eine ganz andere Art von Zeit. Auf einmal. Denkt er. Und dann denkt er, dass er, natürlich, nicht aufhören kann mit dem Denken. Das Denken ist ja er selbst, und ist gleichzeitig die Maschine, der er unterworfen ist. Auch wenn er ganz allein ist mit seinem Kopf, kann er, natürlich, nicht aufhören mit dem Denken. Auch, wenn wirklich kein Hahn danach kräht, denkt er.“ Gut finde ich auch, dass der Roman auf gründlicher Recherche beruht (wozu auch viele Gespräche mit Asylsuchenden gehören). Die Danksagungen am Schluss lassen darauf schließen. Jenny Erpenbeck: Gehen, ging gegangen. Roman. Albrecht Knaus Verlag, München 2015, 352 Seiten, 19,99 EUR Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; Bild: Umschlaggestaltung des Verlages. Verfasst am 28. November 19 um 17:22 Uhr | Permalink Tags: gehen ging gegangen, Jenny Erpenbeck, knaus

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Überzeugend

Von: Jörg Schneider aus Zollikerberg

25.06.2019

Tatsachenroman, überzeugend, sehr interessant und fesselnd geschrieben. Ich habe jede Seite von A bis Z gelesen. Das kommt bei mir fast nie vor.

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In ‚Gehen, ging, gegangen‘ konjugiert Jenny Erpenbeck das gesellschaftspolitische Dauerthema, die sog. „Flüchtlingskrise“ anhand der persönlichen Schicksale einer Gruppe geflohener Afrikaner. Um auf die Zustände bzw. Missstände aufmerksam zu machen, protestieren sie in einem Camp vor dem Rathaus. Auf diese Aktion wird, eher passiv und zufällig, ein ehemaliger Professor aufmerksam, Richard. Nach dem ersten Kontakt mit der Gruppe lässt das Thema ihn nicht mehr los. Es treibt ihn um, was dort mit den Menschen geschieht, und er tritt in Aktion. Skeptisch, zögernd zu Beginn. Aufopfernd und intensiv am Ende. Flucht und Heimat, so stellt er fest, sind auch zu bestimmenden Determinanten seines Lebens geworden, denn auch er ist durch die Wiedervereinigung heimatlos geworden. Wo früher noch eine Mauer stand und seine Strasse, scheinbar für immer endete, führt sie heute weiter. Die meisten Grenzen sind willkürlich, ob im großen Afrika oder auf wenigen Quadratkilometern in Berlin und können quasi per Verwaltungsakt verschoben werden, wenn der politische Wille dazu besteht. Die nicht aufgearbeitete Wiedervereinigung wird so zum Zweitthema des Romans, quasi zur Leiche im Keller; bzw. zum toten Taucher im See vor Richards Haus oder zu den Leichen Geflüchteter im Mittelmeer. Ein großartiges Buch zum Verständnis der Unmenschlichkeit. Leider ist es sehr einseitig aus der Perspektive der Willkommenskultur geschrieben und fasst andere wichtige Aspekte der Debatte zu kurz, aber für einen emphatischen Leser ist es eine unbedingte Leseempfehlung!

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Ein starker Roman, mit tollen Worten, einem gelungenen und fesselnden Stil und einer wichtigen Intention. Jenny Erpenbeck legt einen außergewöhnlichen Roman dahin, in dem Richard die Hauptrolle spielt. Der alte Professeor und die Flüchtlinge. Eine Flucht von damals, Probleme und die Zeit der DDR gegen die der momentan Asylsuchenden. Erpenbeck schreibt in einem ungewöhnlichen Stil, ohne Anführungszeichen vor den wörtlichen Reden, was den Lesefluss zumindest zu Beginn ein wenig hemmt. Doch je weiter man liest, desto mehr wird man von der Art und Weise begeistert und mitgerissen. Die Stellen, in denen es dann um Richard privat geht bzw. um seine Vergangenheit, sind zwar nicht so spannend, wie die Situationen, in denen er mit der Flüchtlingsproblematik konfrontiert wird, aber dennoch wichtig für die Gesamtgeschichte. Fazit: Ein gelungener Roman mit starken Worten, den jeder lesen sollte!

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"Oft war es so, dass er am Beginn eines Projektes nicht wusste, was ihn vorantrieb, so als hätten seine Gedanken ein von ihm unabhängiges Leben und ihren eigenen Willen und warteten nur darauf, von ihm endlich gedacht zu werden, als existiere eine Untersuchung, die er erst anstellen würde, bereits, bevor er sie machte, und als sei auch der Weg quer durch das, was er wusste, sah, was ihm begegnete oder zustieß, in Wahrheit immer schon da, um von ihm, war er nur endlich so weit, begangen zu werden. ... Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr hinausgefallen sind." Der emeritierte Professor der Humboldt Universität, Richard, Fachgebiet Alte Sprachen, aber auch Philosophie, lebt allein in einem Haus an einem See, irgendwo im früheren Ostteil der Stadt Berlin. Ich stelle mir vor, Richtung Müggelsee. Sein Leben lang hat er sich mit philosophischen Fragen beschäftigt und in seinem Kopf über Sinn und Zweck der menschlichen Existenz nachgegrübelt, durchaus in einem auf Intellekt gegründeten Sicherheitsabstand von dieser. Dass dabei auch seine eigenen menschlichen Beziehungen vielleicht eher distanziert blieben, wird immer dann klar, wenn er von seiner vor fünf Jahren verstorbenen Ehefrau und seiner Geliebten berichtet. In dem See, auf den er von seinem Haus blickt, war im Sommer jemand ertrunken, deshalb ist das ganze Jahr niemand darin schwimmen gegangen. Der See bleibt still und ungenutzt, ein beunruhigender Anblick. Der Tote im See ist vielleicht einer der Gründe dafür, dass Richard so besonders die Endlichkeit seiner Existenz und deren Leere, nach der Pensionierung, bewusst wird. All die Zeit, mit der er nicht mehr wirklich etwas anzufangen weiß. Also ein Projekt muss her. Ja, und vielleicht ist es wahr, dass die Dinge, die wir entdecken sollen, die Rätsel, die wir im Leben zu lösen haben, immer schon gelöst da sind, auf uns wartend, damit auch wir die Lösung begreifen können. Richard wurde pensioniert etwa zum gleichen Zeitpunkt, als die Flüchtlinge sich auf den Weg machten gen Berlin, um dort sichtbar zu werden, um dann ein Zeltlager am Oranienplatz aufzuschlagen, in der Hoffnung, damit den Staat Deutschland dazu zu bringen, ihre Situation wahrzunehmen und möglicherweise zum Besseren zu wenden. All das interessiert Richard nur peripher. Er ist ein stiller Mensch, der in seinen Gedanken lebt, auch in seinen Erinnerungen und seit der Pensionierung, allein, auch ein wenig aus der Zeit gefallen ist. Irgendwann nimmt er die Flüchtlinge aber wahr, in den Nachrichten, und etwas an ihnen zieht ihn stark genug an, so dass er sich eines Tages aufmacht zum Oranienplatz. Das hat mit Zeit zu tun. Er setzt sich zwei Stunden auf eine Bank und beobachtet das Treiben im Camp. Währenddessen kann der Leser beobachten, wie in Richards Denken Verbindungen geknüpft werden, Synapsen miteinander reagieren und er am Ende irgendwann zu dem Schluss kommt, dass er ein neues Projekt hat, ein Forschungsprojekt zum Thema Vergänglichkeit und Zeit, und dass die Flüchtlinge am Oranienplatz genau die Richtigen sind, um Fragen zu beantworten, die diese Thematik erhellen können, die damit vielleicht auch noch einmal neu den Sinn des Lebens deutlich machen, oder nicht. Denn sie sind aus der Zeit hinaus gefallen und gleichzeitig in ihr eingesperrt. Ihr Leben ist on hold. Eine Situation, die ihm nicht unvertraut ist. Hat er doch in der DDR gelebt und erfahren, dass ein Staat sich innerhalb weniger Wochen komplett auflösen kann. Dass alles das, worauf wir gerade noch unsere Identität gründen, sich in Nichts auflösen kann. Wenn einem das im eigenen Leben nicht widerfährt, ist das ein Glück, kein angeborenes Recht. Zwei Wochen liest er und stellt einen Fragenkatalog zusammen. Als er dann am Oranienplatz ankommt, um seine Fragen an den Mann zu bringen, ist das Camp gerade aufgelöst worden, die verschiedenen Menschen wurden auf verschiedene Orte in der Stadt, am Stadtrand verteilt, die Gemeinschaft dabei aufgelöst. Richard findet eine Gruppe von ihnen wieder, in einem leerstehenden Altersheim gar nicht weit von seinem Haus und dem See entfernt. Er geht hin und beginnt seine Interviews. Peu à peu erfährt er immer mehr Lebensgeschichten, Umstände, Gründe, warum sich junge, afrikanische Männer auf den verzweifelten Weg nach Europa machen. Richard ist ganz und gar kein politischer Mensch. Er nähert sich den Flüchtlingen nicht, weil er ihre Situation verändern möchte. Naiv geht er auf sie zu, weil er ein Projekt hat, von dem er glaubt, dass sie ihm bei der Erforschung helfen können. Dass diese Forschungsarbeit letztendlich dazu führt, dass auch sein Leben sich vollkommen verändert, ist vielleicht nicht ganz überraschend für den Leser und beweist den Satz, den Richard irgendwann denkt: "Es ist wichtig, dass er die richtigen Fragen stellt. Und die richtigen Fragen sind nicht unbedingt die Fragen, die man ausspricht." Was mir an dem Buch gefallen hat, sind diese Dinge: dass es im Grunde eine Art Poetologie mitliefert. Es ist ein Buch über die Zeit und die Vergänglichkeit, vor allem die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. Man kann während der Lektüre Richards Gedanken- und Entwicklungsgang fast 1 : 1 mitverfolgen und damit die Entstehung dieses Buches. Denn letztlich hat es in seinem Zentrum Richards Projekt, das ihm nicht die Fragen unbedingt beantwortet, die er laut stellt, sondern viele, die er nicht stellt. Am Ende hat er im Grunde ein neues Leben. Am Ende hat er Beziehungen in einer Intensität, die für ihn neu ist. Am Ende hat er auch gelernt, wer seine Freunde sind. Wie kurz ist unsere Zeit nur und wie privilegiert sind jene, die sie selbstbestimmt hier gestalten önnen und dürfen. Wenige sind es, vergleichsweise, die dieses Privileg genießen. In dem Buch trifft man auf so viele, die vom Leben herum geworfen werden. Richard reflektiert all dies, der Wissenschaftler, der Denker, der Belesene. Er sieht in den jungen Afrikanern nicht die normalen Klischees, sondern Charaktere aus Sagen, aus der Literatur, der Geschichte, sie regen ihn dazu an, seine philosophischen Konzepte zu ergänzen und zu überdenken. Von Anfang an versteht er ihre Geschichten in einer menschlichen Allgemeingültigkeit, gerade weil er auf eine Art naiv an sie herantritt. Er hat keine vorgefasste Meinung, keinen politischen Standpunkt. Er ist einfach als neugieriger Mensch, getrieben vom Interesse an der Lösung seiner Forschungsfrage, auf sie als Menschen, von denen er annahm, sie könnten ihm helfen, zugegangen. Da ist soviel Verwunderung, offensichtliches Überraschtsein über die Lebenssituation der Männer, aber auch über den Umgang der deutschen Bürokratie mit Mord und Totschlag. Man kann ja alles verwalten. Man kann, bürokratisch genug, ein ganzes Leben in den Staub einer Aktenlandschaft hinein verwalten. Da bleibt keine Lebendigkeit mehr übrig. Diese Unschuld, könnte man beinahe sagen, erhält er sich die ganze Zeit. Auch als er so viele der Geschichten der Männer kennt, ihnen Schritt für Schritt näher kommt, spulen in seinem Kopf niemals Vorurteile ab. Seine Reaktionen sind immer genuin und souverän. Wenn einer der Männer aufs Amt geht, begleitet er ihn. Er regt sich auf, wenn dort etwas ungerechtes geschieht. Er hilft, wenn er kann. Er drängt sich nicht auf. Wenn einer der Afrikaner ihn einen Unterstützer nennt, scheint das Richard beinahe zu irritieren, denn er sieht sich selbst nicht als Unterstützer. Weshalb sein Umgang mit den Männern respektvoll und auf Augenhöhe geschehen kann. Er sieht sie nicht als Opfer. Ihm ist bewusst, wie leicht er selbst in einer derart machtlosen Lebenssituation hätte landen können. Dass es niemandes Verdienst ist, wenn er die Mittel hat, sein Leben im Griff zu haben. Man kann die Situation anderer Menschen ja niemals beurteilen. Gestern sah ich mit einer Freundin den Film I Am Not Your Negroe, über James Baldwin und sein nicht vollendetes Buchprojekt über den Mord an seinen Freunden Medgar Evers, Malcolm X und Martin Luther King. Es ist ein Film über den Rassismus in den USA. Ich sah ihn aber als Film über Rassismus im allgemeinen. Die Weigerung, sich mit dem Leben jener auseinanderzusetzen, denen es durch unsere Privilegien schlecht geht. Denn wenn wir uns damit auseinandersetzten, müssten wir unsere Privilegien fahren lassen. Alles ist mit allem verbunden. Die, denen wir es schlecht ergehen lassen, formen unser Land mit. Gerade wird Europa weniger von den Europäern, als von jenen geformt, denen wir den Tod an Europas Grenzen verordnen. So wie Amerika geformt wurde und wird von den Schwarzen, die es diskriminiert. Man kann die Situation anderer Menschen niemals beurteilen. Ich habe keine Ahnung, was es heißt, auf einem Schlauchboot von Afrika nach Italien zu fahren, oder ein fünfzehnjähriges Mädchen zu sein, das von ihren Nachbarn und Mitschülern angespuckt wird, weil sie keine nach Hautfarbe getrennte Schule, sondern eine für alle Kinder besuchen möchte. Ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn die eigene Familie vor den eigenen Augen massakriert wird. Aber viele von denen, die in Deutschland stranden, wissen sehr genau, wie sich das anfühlt. Jenny Erpenbeck gibt Menschen eine Stimme und eine Geschichte, die hier oft nur bürokratische Manövriermasse sind. Richard beobachtet und kommentiert das Ganze, trocken und präzise. Wenn mich dieses Buch eines gelehrt hat, nein, es hat mich vieles gelehrt, aber eines ragt heraus: Erlaube Dir kein Urteil über jemand anderen. Du hast keine Ahnung! Konzentriere dich auf die wichtigen Fragen. Habe die Geduld, mit ihnen zu sein. Warte auf die Antworten. Für mich ist Gehen Ging Gegangen ein perfektes Leseerlebnis gewesen. Denn Jenny Erpenbeck schafft es, aktuelle politische und gesellschaftliche Geschehnisse in eine spannende und nicht konstruierte, sehr intelligente Geschichte zu verpacken. Das stand 2015 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Ich hätte mich gefreut, wenn sie ihn gewonnen hätte. Natürlich ist dieser Richard wie so eine ideale Gestalt, aber auch das hat mir am Buch gefallen: dass es ein wenig träumt. Abgesehen davon kenne ich so viele Menschen, die seit dem Beginn der Flüchtlingskrise ihr Leben verändert haben, gar nicht so anders als Richard, dass ich die Geschichte nicht als unrealistisch empfinden kann. (c) Susanne Becker

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Im Oktober beschloss unser “Buchclub”, dass wir doch auch mal was von der Shortlist für den Deutschen Buchpreis lesen könnten. Die Wahl fiel schnell auf Jenny Erpenbecks “Gehen, ging, gegangen”. Ehrlich gesagt hatte ich wenig Lust darauf. Irgendwie hat es sich in meinem Kopf verankert, dass Bücher, die Buchpreise kriegen oder auch nur dafür nominiert sind, in der Regel sperrig sind, vielleicht alles klein geschrieben ist oder man zwei Texte parallel lesen muss. Ich habe so kaum Zeit zum Lesen, da muss ich mich nicht noch mit Texten herumschlagen. Doch welche Überraschung! Jenny Erpenbecks Roman liest sich ganz fantastisch und die Geschichte nimmt einen sofort gefangen. Es ist die Art, wie sich Richard, der emeritierte Professor mit der Situation der afrikanischen Flüchtlinge vom Oranienplatz auseinandersetzt. Er hinterfragt, er hört zu, er zeigt Einfühlungsvermögen, ohne ins Mitleid zu verfallen. Die Schicksale der Flüchtlinge sind dramatisch, jedes für sich – in der Summe zeigen sie, dass in unserer einen Welt etwas nicht richtig läuft. Für Richard ändert sich vieles, nicht nur bekommt sein Alltag einen neuen Sinn, auch seine Gedanken gehen neue Wege, Dinge bekommen neues Gewicht oder verlieren an Bedeutung. Mit klaren Worten, oft eindringlich erzählt Jenny Erpenbeck von der Situation junger Flüchtlinge in Deutschland, von Dublin II und seinen Folgen, von Grausamkeit und von Menschlichkeit. Dabei spielt sie oft mit Sprache, gerade im richtigen Maß, ohne dabei das Erzählen zu vergessen. Indem sie Richard im Osten Berlins wohnen lässt, als jemand, für den sich durch die “Wende” auch vieles im Leben geändert hat, schon einmal alles in Frage gestellt wurde, zeigt sie auf, dass auch bei uns in Deutschland manchmal schneller einschneidende Veränderungen passieren können, die unser eigenes Dasein auf den Prüfstand stellen. Während ich das Buch las, habe ich bei Facebook gelesen, wie “Gehen, ging, gegangen” mit den Worten “ein Roman, dessen fiktive Handlung von der Realität eingeholt worden ist” vorgestellt wurde. Dem kann ich nicht ganz zustimmen. Meiner Meinung nach hat hier vielmehr die Realität die Vorlage für den Roman gestellt. Jenny Erpenbeck hat für ihren Tatsachenroman viele Interviews mit den Flüchtlingen vom Oranienplatz geführt, sich mit ihrer Situation, ihren Ängsten und Hoffnungen auseinander gesetzt. Obwohl es sich um eine fiktive Geschichte handelt, ist man so nah an der Realität, dass man durchaus vergessen kann, das sich nicht alles genau so zugetragen hat. Mich hat das Buch sehr beeindruckt, in seiner Intensität, mit seiner wohlgesetzten Sprache, aber auch durch die vielen Gedankenanstöße. Wie oft hat man sich selbst an Stelle des Professors gesehen und sich gefragt: “Ja, was weiß ich eigentlich?” Ein Zitat, das bestens beschreibt, wie es mir mit diesem Buch erging, möchte ich abschließend noch anführen: “Vieles von dem, was Richard an diesem Novembertag, einige Wochen nach seiner Emeritierung, liest, hat er beinahe sein ganzes Leben über gewusst, aber erst heute, durch den kleinen Anteil an Wissen, der ihm nun zufliegt, mischt sich wieder alles anders und neu.” (Seite 177) © Tintenelfe

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In den Medien erfährt Richard von den Flüchtlingen, die über das Mittelmeer kommen. Er hört von Asylanten, die in seiner Heimatstadt Berlin für eine bessere Behandlung protestieren. Er fragt sich, wer diese Menschen sind, die aus Ländern stammen, von denen er weder die Hauptstadt nennen kann noch wo genau die sich auf dem afrikanischen Kontinent befinden. Um Antworten zu finden auf seine Fragen macht er das für ihn einzig sinnvolle: er sucht sie auf um sie zu befragen. Und so lernen er und wir als Leser einige der jungen Männer kennen, die nach ihrer langen Flucht in Berlin gelandet sind. Täglich hören oder lesen wir von den vielen Menschen, die im Mittelmeer ertrinken. Von dem nicht abreißenden Strom derer, die vor Krieg und willkürlicher Gewalt fliehen, die Freunde und Familie zurücklassen oder verloren haben und in Europa, in Deutschland, Sicherheit und eine stabile Zukunft suchen. Die abstrakten Zahlen, die auf uns niedergehen, lassen viele abstumpfen, man gewöhnt sich daran. Jenny Erpenbeck gelingt es mit ihrem Buch, diese Distanz zu überbrücken. Sie beschreibt die Grausamkeiten, die viele der Flüchtlinge erlebt haben, die Wege, die Tausenden das Leben kosten und die Ungewissheit, wann und wo es für sie eine neue Existenz geben kann. Sie entlarvt aber auch die abstruse Logik derer, die die Grenzen dichtmachen wollen und ihre Hilfe verweigern. „Führt der Frieden, den sich die Menschheit zu allen Zeiten herbeigesehnt hat und der nun in so wenigen Gegenden der Welt bisher verwirklicht ist, denn nur dazu, dass er mit Zufluchtsuchenden nicht geteilt, sondern so aggressiv verteidigt wird, dass er beinahe schon selbst wie Krieg aussieht?" (Seite 298) Die allermeisten Orte in Deutschland werden Flüchtlinge aufnehmen, und ich bin erleichtert, dass sich auch in meiner Umgebung eine positive Willkommenskultur durchgesetzt hat. Es muss eine große Erleichterung sein für jemanden, der in einem fremden Land mit fremder Sprache ankommt, wenn er freundlich empfangen wird und ihm geholfen wird. So viel Menschlichkeit sollte eigentlich selbstverständlich sein. Die jungen Männer dürfen nicht arbeiten und sie dürfen nicht reisen. Die Bürokratie und die Gesetzgebung der EU verdammen sie zum Nichtstun. Ich bekomme durch das Buch ein Gespür dafür, dass die Politik der Situation nicht gewachsen ist. Eine effektive Lösung ist in nächster Zeit wohl leider auch nicht zu erwarten. Hut ab vor all den Menschen und Organisationen, die hier einspringen und die Hilfebedürftigen auch durch den Paragraphenwald lotsen. Richard lebt in Ostberlin, und so wurde er nach dem Fall der Mauer vom „Ossi" zum „Wessi". Ich finde es sehr bemerkenswert, wie die Autorin Richards Leben und damit auch die deutsche Geschichte mit in das Geschehen einbindet. Er weiß, dass die Gesellschaft sich immer wieder verändert. Daher steht er den Fremden völlig aufgeschlossen gegenüber. In einer sehr nüchternen Art betrachtet er, wie mit den Asylsuchenden umgegangen wird. [Persönliches Fazit] Für mich ist das Buch ein großer Wurf. Mit einer kräftigen Sprache und ohne Pathos bringt mich Jenny Erpenbeck ganz nah ran an das Schicksal der afrikanischen Flüchtlinge. Mit Wortwitz und Ironie ist es ein Plädoyer für Menschlichkeit und Toleranz und ist dabei politisch und gesellschaftlich kritisch. Trotz komplexer Zusammenhänge ist es wunderbar klar zu lesen. Völlig zu Recht ist es auf der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises zu finden. © Rezension: 2015, Marcus Kufner

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Phänomenal. Bitte lesen

Von: Eva-Maria Obermann

07.09.2015

Richard hat Zeit. Er ist emeritiert, Witwer, ohne Zeitplan oder Termine. Er weiß sie nicht zu füllen, diese Zeit. Zeit haben auch die Männer, die auf dem Berliner Oranienplatz kampieren. Flüchtlinge sind es. Asylbewerber aus unterschiedlichen Ländern. Sie suchen Arbeit, ein besseres Leben, Schutz vor dem Krieg in ihrem Land. Sie haben Menschen verloren, Freunde, Frauen, Eltern, Kinder. Sie wurden erschossen, sind ertrunken, einfach verschollen. Richard startet ein Projekt, von dem er nicht weiß, wohin es ihn führt. Er befragt die Männer, die in einem nahegelegenem Altenheim zwischenstationiert werden nach ihren Geschichten. Er besucht mit ihnen den Deutschunterricht. Er erfährt ihre Geschichten, die Behandlung, die sie erfahren, das Schicksal das sie teilen. Richard und diese Männer könnten unterschiedlicher nicht sein, kommen aus verschiedenen Welten und haben doch alle unfreiwillig Zeit. Der Roman ist bewegend. Er fasst unglaublich präzise das Leben von in Deutschland gestrandeten Flüchtlingen auf. Unterschiedliche Wege haben sie nach Berlin geführt, wo sie alle eigentlich nicht bleiben dürfen, weil sie dort eben nicht zuerst angekommen sind. Herzergreifend sind manche Geschichten, erschreckend, aufrüttelnd. Und dabei greift Erpenbeck nicht in die Kitsch-Schublade. Erstaunlich sachlich bleibt sie, bleibt der personale Erzähler bei Richard, der eben Professor war und alles etwas sachlicher sieht. Zwischen den Zeilen steckt die Emotion. Sie wird deutlich in Richards Schweigen, in seinem Handeln, in seiner Zeit und darin, wie er sie nutzt. Vielleicht sind es die kleinen Stellen, die diesen Roman so groß machen, die sich festsetzten und nicht mehr loslassen, auch noch Tage nach dem Lesen nicht. Wie der Moment, an dem Richard zweifelt, an einem seiner Schützlinge, an sich selbst. Und keine Antwort findet. Der Zweifel steht im Raum des Romans. Er verletzt auf viele Arten. Dass es hier keine Antwort gibt, ist so ein großer Moment. Ein Moment, der auf alle „aber was ist wenn“ ein etwas stures aber klares „na und“ liefert. Gehen, ging, gegangen ist dabei so sehr kein politisches Buch, wie es im Grunde eben doch eines ist. Richard zumindest ist nicht politisch. Er hat eine Meinung, er hat viel erlebt, diese Erlebnisse haben ihn geprägt und prägen den Leser im Lesen mit, prägen die Geschichte. Als ehemaliger Bewohner der DDR hat er den Mauerfall so emotionslos aufgenommen, wie er sich auch den Asylbewerbern auf dem Oranienplatz annähert. Der Leser ahnt mehr von dem Brodeln in Richards Innern, als dass er es offenbart. Immer wieder geht es dabei nicht nur um Schicksale, sondern um Zeit. Zeit, die vergeht, Zeit, die aufgezwungen ist, festgelegt, Zeit, die vergangen ist und nicht mehr zurück geholt werden kann. Richard eignet sich diese unsichere Zeit der Asylbewerber an, indem er mit den Bestimmungen hadert, denen sie ausgesetzt sind – und denen er ebenso ausgesetzt ist. Er erfährt, wie unterschiedlich Zeit sein kann und wie ähnlich sie doch verläuft. Erpenbecks Roman rüttelt auf, vielleicht nicht als gewaltiger Aufschrei, dafür aber als tief durchdachtes Fundament. Ungerechtigkeiten, Bürokratie und Einzelschicksale treffen aufeinander, vermischen sich um Richard, der in eine neue Welt eintaucht und einen neuen Rhythmus findet. Ein großartiges Buch, eine phänomenale Geschichte, die nicht nur im Sommer 2015 aktuell und lesenswert ist.

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