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Rezensionen zu
Mittagsstunde

Dörte Hansen

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Die Inhaltsangabe lasse ich mal weg. Die findet sich leicht. Lieber meine Gedanken. Das Buch ist gut, einfach gut. Chapeau, Dörte Hansen. Völlig stimmig in Sprache und den Bildern, die sie zeichnet. Immer wieder hielt ich inne, dachte, ja, so ist das, so war das, alles wahr. Altes Land habe ich (noch) nicht gelesen, das Thema sprang mich nicht so an. Dieses hier schon eher. Reingelesen, weitergelesen, auch wenn das, was da kommen mag, am Anfang ein wenig zerfahren scheint. Es wird sich fügen. Und selbst im etwas zähen Beginn finden sich schon Sätze, die einen staunen, lächeln machen. Und ein wenig glücklich. Ein Buch das so viele Bilder in den Kopf zaubert. Ein Buch, in dem die Autorin streckenweise, so empfand ich es für meinen Lesestil, fast lyrisch textet und jedes Wort passt und trifft und berührt. Neben Robert Seethalers "Ein ganzes Leben" für mich eines der schönsten Bücher der vergangenen Jahre. Sechs Sterne!

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Drei Jahre mussten wir auf den zweiten Roman von Dörte Hansen (54) warten, deren Debüt „Altes Land“ auf Platz 1 der Jahresbestsellerliste 2015 geschafft hatte. Im Oktober erschien nun ihre „Mittagsstunde“ und verspricht, ein ähnlich großer Erfolgsroman zu werden. Hatte Hansen im „Alten Land“ die Landflucht der Großstädter zum Thema, die das Landleben zum Bauerntheater verkommen lassen, so nimmt Hansen in ihrem Folgeroman das Thema erneut auf, schildert hier aber die Flucht – oder ist es eher eine Vertreibung? – der Dorfbewohner in die Stadt. Die Bewohner von Brinkebüll, die im Dorf ihrer Vorfahren keine Zukunft sehen, geben ihre angestammte Heimat auf, um in der Stadt neues Glück zu suchen. „Es war so still im Dorf, kein Hund, kein Hahn. Kein Schleifen aus der Tischlerei, kein Hämmern mehr auf Haye Nissens Amboss. …. Man hörte keine Tiere mehr. Auch nicht die Stimmen, die die Tiere riefen, laut genug, um große Felder zu beschallen.“ Der große Umbruch kam Mitte der sechziger Jahre mit der Flurbereinigung. Haine, Hecken und Knicks am Rand jener kleinbäuerlichen Felder, die ihre Vorväter über Jahrhunderte beackert hatten, waren verschwunden. Sogar den riesigen Findling, der Jahrtausende an derselben Stelle mitten im Acker gelegen hatte, wurde, als Denkmal für die Flurbereinigung missbraucht, an die Ortseinfahrt verbracht. Nichts blieb wie früher, die alte Ordnung der Dörfler war zerstört. Wie sich das kleinbäuerliche und dörfliche Leben im nordfriesischen Geestdorf über Jahrhunderte nach ungeschriebenen Regeln abgespielt hatte, zeigt Hansen in lebendigen, prallen Bildern und atmosphärisch stimmiger Sprache mit plattdeutschen Einschüben. Voller Mitgefühl beschreibt sie ihre teilweise skurrilen Charaktere voller Ecken und Kanten. Als Leser liebt und leidet man mit diesen Dörflern. Doch trotz aller Empathie schafft es die Autorin, durch die Augen ihres vor Jahrzehnten ausgewanderten Protagonisten Ingwer Feddersen, Archäologe an der Universität Kiel, den objektiven Blick auf die eingeborenen „Dörpsminschen“ mit ihren Ecken und Kanten zu halten. An keiner Stelle ihres Romans läuft sie Gefahr, „die gute alte Zeit“ zu verherrlichen. Denn gut war die alte Zeit auf dem Land sicherlich nicht – einer der Gründe für den dörflichen Wandel. In den Erinnerungen ihrer Hauptfigur spult Hansen fünf und mehr Jahrzehnte zurück und zeigt diesen Wandel ländlichen Lebens. Der knapp 50-jährige Ingwer Feddersen hat sich in Kiel eine einjährige Auszeit genommen, um seine 90-jährigen Großeltern Sönke und Ella in seinem Heimatdorf zu pflegen. Ella leidet an zunehmender Demenz, aber Sturkopf Sönke steht sogar mit Rollator noch tagtäglich am Tresen seines Dorfkrugs. Doch längst bleiben die Gäste aus. Erst verschwanden die Hecken, dann die Störche. Die alten Kastanien am Straßenrand wurden gefällt, die Chaussee verbreitert, begradigt und asphaltiert. Die von den Bewohner früher stets eingehaltene Mittagsruhe wird jetzt gestört. Wenige Höfe wachsen, die Nebenerwerbshöfe werden aufgegeben. Städter kaufen die leerstehenden Hofgebäude und zimmern sich ihre eigene, unwirkliche Landidylle. In detailreichen und mit Humor geschilderten Episoden, die sich kapitelweise wie ein Puzzle zu einem farbigen Gesamtbild erschließen, erfahren wir einiges aus dem Dorfleben – auch manches, worüber dort niemand spricht: Nicht einmal Ingwer Feddersen kennt seinen Vater. Auch dass nicht Großvater Sönke, sondern Dorflehrer Steensen der leibliche Vater seiner schrulligen Mutter ist, wissen zwar alle, aber man spricht nicht drüber. Hansen beschreibt das Dorfleben als hartes, oft erbarmungsloses und tragisches Dasein. Doch die Dörfler hatten sich immer klaglos in ihr Schicksal gefügt: Nur drei Käsesorten im kleinen Laden, „mehr bruukt wull keen normale Minsch!“ Auch den Dorfladen gibt es längst nicht mehr. Dörte Hansens Roman „Mittagsstunde“ ist ein ausgezeichnetes und unbedingt lesenswertes Stück Heimatkunde.

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Ein wunderbares und unbedingt lesenswertes Stück Heimatkunde

Von: Sigismund von Dobschütz/Buchbesprechung

08.02.2019

Drei Jahre mussten wir auf den zweiten Roman von Dörte Hansen (54) warten, deren Debüt „Altes Land“ auf Platz 1 der Jahresbestsellerliste 2015 geschafft hatte. Im Oktober erschien nun ihre „Mittagsstunde“ und verspricht, ein ähnlich großer Erfolgsroman zu werden. Hatte Hansen im „Alten Land“ die Landflucht der Großstädter zum Thema, die das Landleben zum Bauerntheater verkommen lassen, so nimmt Hansen in ihrem Folgeroman das Thema erneut auf, schildert hier aber die Flucht – oder ist es eher eine Vertreibung? – der Dorfbewohner in die Stadt. Die Bewohner von Brinkebüll, die im Dorf ihrer Vorfahren keine Zukunft sehen, geben ihre angestammte Heimat auf, um in der Stadt neues Glück zu suchen. „Es war so still im Dorf, kein Hund, kein Hahn. Kein Schleifen aus der Tischlerei, kein Hämmern mehr auf Haye Nissens Amboss. …. Man hörte keine Tiere mehr. Auch nicht die Stimmen, die die Tiere riefen, laut genug, um große Felder zu beschallen.“ Der große Umbruch kam Mitte der sechziger Jahre mit der Flurbereinigung. Haine, Hecken und Knicks am Rand jener kleinbäuerlichen Felder, die ihre Vorväter über Jahrhunderte beackert hatten, waren verschwunden. Sogar den riesigen Findling, der Jahrtausende an derselben Stelle mitten im Acker gelegen hatte, wurde, als Denkmal für die Flurbereinigung missbraucht, an die Ortseinfahrt verbracht. Nichts blieb wie früher, die alte Ordnung der Dörfler war zerstört. Wie sich das kleinbäuerliche und dörfliche Leben im nordfriesischen Geestdorf über Jahrhunderte nach ungeschriebenen Regeln abgespielt hatte, zeigt Hansen in lebendigen, prallen Bildern und atmosphärisch stimmiger Sprache mit plattdeutschen Einschüben. Voller Mitgefühl beschreibt sie ihre teilweise skurrilen Charaktere voller Ecken und Kanten. Als Leser liebt und leidet man mit diesen Dörflern. Doch trotz aller Empathie schafft es die Autorin, durch die Augen ihres vor Jahrzehnten ausgewanderten Protagonisten Ingwer Feddersen, Archäologe an der Universität Kiel, den objektiven Blick auf die eingeborenen „Dörpsminschen“ mit ihren Ecken und Kanten zu halten. An keiner Stelle ihres Romans läuft sie Gefahr, „die gute alte Zeit“ zu verherrlichen. Denn gut war die alte Zeit auf dem Land sicherlich nicht – einer der Gründe für den dörflichen Wandel. In den Erinnerungen ihrer Hauptfigur spult Hansen fünf und mehr Jahrzehnte zurück und zeigt diesen Wandel ländlichen Lebens. Der knapp 50-jährige Ingwer Feddersen hat sich in Kiel eine einjährige Auszeit genommen, um seine 90-jährigen Großeltern Sönke und Ella in seinem Heimatdorf zu pflegen. Ella leidet an zunehmender Demenz, aber Sturkopf Sönke steht sogar mit Rollator noch tagtäglich am Tresen seines Dorfkrugs. Doch längst bleiben die Gäste aus. Erst verschwanden die Hecken, dann die Störche. Die alten Kastanien am Straßenrand wurden gefällt, die Chaussee verbreitert, begradigt und asphaltiert. Die von den Bewohner früher stets eingehaltene Mittagsruhe wird jetzt gestört. Wenige Höfe wachsen, die Nebenerwerbshöfe werden aufgegeben. Städter kaufen die leerstehenden Hofgebäude und zimmern sich ihre eigene, unwirkliche Landidylle. In detailreichen und mit Humor geschilderten Episoden, die sich kapitelweise wie ein Puzzle zu einem farbigen Gesamtbild erschließen, erfahren wir einiges aus dem Dorfleben – auch manches, worüber dort niemand spricht: Nicht einmal Ingwer Feddersen kennt seinen Vater. Auch dass nicht Großvater Sönke, sondern Dorflehrer Steensen der leibliche Vater seiner schrulligen Mutter ist, wissen zwar alle, aber man spricht nicht drüber. Hansen beschreibt das Dorfleben als hartes, oft erbarmungsloses und tragisches Dasein. Doch die Dörfler hatten sich immer klaglos in ihr Schicksal gefügt: Nur drei Käsesorten im kleinen Laden, „mehr bruukt wull keen normale Minsch!“ Auch den Dorfladen gibt es längst nicht mehr. Dörte Hansens Roman „Mittagsstunde“ ist ein wunderbares und unbedingt lesenswertes Stück Heimatkunde.

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Mittagsstunde ist eine Reise in die Vergangenheit, humorvoll und einfühlsam erzählt. Dörthe Hansen beschreibt die Landschaft Nordfrieslands und die besondere, manchmal auch skurrile Art der Menschen sehr detailliert und einfühlsam. Die Charaktere sind ganz wunderbar gezeichnet und die Autorin weiß, mit einer sehr ruhigen und undramatischen Geschichte zu bezaubern. Mittagsstunde ist ein sehr empfehlenswertes Buch, das mich von der ersten bis zur letzten Seite in seinen Bann ziehen konnte.

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So authentisch!

Von: Ursula

23.01.2019

Ingwer Feddersen, 47 und Professor für Archäologie in Kiel, nimmt sich ein Sabbatjahr und kehrt in sein Heimatdorf Brinkebüll zurück, um sich um seine Großeltern zu kümmern. Doch in den letzten Jahren hat sich viel verändert: Es gibt keine Schule, keinen Kaufmann und fast keine Bauern mehr und selbst die Störche scheinen nicht mehr auf den Dächern zu sitzen. Doch wann haben die Veränderungen begonnen? Und warum? Beim Versuch, Bilanz zu ziehen, hat Ingwer am Ende eine ernüchternde Erkenntnis. Die Kapitel werden abwechselnd aus den Perspektiven Vergangenheit und Gegenwart erzählt - die Geschichte verschmilzt so nach und nach ineinander. Nach ein paar wenigen Kapiteln war ich voll im Geschehen drin, konnte mich vollkommen fallen und in das Dorf versetzen lassen. Dörte Hansens Sprache hat mich wieder vollkommen überzeugt, denn sie schafft es wie kein anderer, das Geschriebene so authentisch wirken zu lassen: Jeder Stein, jedes Haus, jeder Windzug ist so nah am Leser, wie wohl in kaum einem anderen Buch. Dabei hat sie einen Roman erschaffen, der sich mit dem Niedergang der bäuerlich-dörflichen Welt, mit dem Leben und mit dem Tod befasst und damit, was eigentlich am Ende bleibt. Im Gegensatz zu "Altes Land" fand ich "Mittagsstunde" allerdings ein kleines bisschen zu erinnerungsträchtig - die Erkenntnis am Ende wiegt das allerdings meiner Meinung nach wieder auf. Also bitte unbedingt lesen! ❤️

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Ich habe das Buch innerhalb von drei Tagen gelesen und es war ein wahrlicher Genuss. Im Zentrum des Romans steht das fiktive Dorf Brinkebüll und seine Bewohnerinnen und Bewohner, die teilweise mit skurrilen Charaktereigenschaften ausgestattet sind, so dass ich beim Lesen oftmals richtig schmunzeln musste. Im Buch werden die ca. letzten 50 Jahre des Dorfes geschildert und seine Veränderungen, die sehr plastisch dargestellt werden. Das Dorfleben wird so erzählt, wie ich es mir als Stadtmensch vorstelle: ein Gasthaus, wo Feste gefeiert werden, ein Lehrer, der Heimatkunde unterrichtet und manchmal etwas „gröber“zu den Kindern ist, Verhältnisse und Geheimnisse, die nicht sein dürften, Kuckuckskinder, Bauernhöfe, die bewirtschaftet werden und ein einziges Geschäft, wo man noch bedient wird. Das Dorfleben ändert sich jedoch mit der sogenannten Flurreinigung. Nach und nach wird erzählt, was das für Brinkebüll und seine Leute bedeutet. Für mich ist das Konzept des Romans voll aufgegangen, Vergangenheit und Gegenwart werden in den Kapiteln abwechselnd erzählt, so dass es auf ein stimmiges Ende des Buches hinausläuft, immer wieder gespickt mit Plattdeutsch, genial

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"De Welt geiht ünner!" Wenn auch ganz anders als von der leicht ver-rückten Marret immer wieder angekündigt, geht in Dörte Hansens Roman „Mittagsstunde“ tatsächlich eine Welt unter. Es ist der Untergang des Dorfes in Deutschland, hier des fiktiven nordfriesischen Dorfs Brinkebüll, der damit verbundenen Verlust von dörflichem Leben und der gesellschaftliche Wandel, der damit einhergeht, von dem die Autorin, die aus einem ebensolchen Dorf in Norddeutschland stammt, hier erzählt. Bereits ihr 2015 sowohl zum bestverkauften deutschsprachigen Roman als auch zum Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen gekürter Erstling „Altes Land“ hatte den ländlichen Raum zum Schauplatz, hier allerdings als Rückzugsort heutiger gestresster Städter. In „Mittagsstunde“ setzt die Autorin viel früher an. Eine Handlungsebene führt in die Jahre 1965/66 zurück, die andere wechselt zu 2013/14. Im Rahmen der mit dem 1953 verabschiedeten gleichnamigen Gesetz beschlossenen Flurbereinigung kommen gewaltige Veränderungen auf Brinkebüll zu. Jahrhundertelang gewachsene Strukturen, Ordnungen und Traditionen werden durchgerüttelt und verlieren sich mit der Zeit. Das sind zunächst die kleinen Parzellen, die zur effektiveren Bearbeitung, auch durch die modernen, immer gigantischer werdenden Landwirtschaftsmaschinen, zusammengelegt werden, die Hecken und Gehölze, die gerodet werden, die Bäume und Findlinge, die weichen müssen. Zunächst freuen sich die Bewohner von Brinkebüll, dass ihre Straße begradigt und schön glatt geteert wird, auch wenn die uralten Kastanien dafür weichen müssen. Dafür lässt es sich nun formidabel Rad und Rollschuh laufen auf der neuen Wegdecke. Bis das erste Kind unter die Räder eines Lastwagens gerät. Mit der Flurbereinigung kommen auch die Landvermesser aus der Stadt ins Dorf. Einer davon macht der labilen, 17 jährigen Marret wohl „schöne Augen“, jedenfalls wird neun Monate nach den Vermessungsarbeiten der kleine Ingwer Feddersen geboren, der Hauptprotagonist des Romans. Mangels eines Vaters und angesichts der zunehmenden Verwirrtheit seiner jugendlichen Mutter, nehmen sich die Großeltern, das Wirtsehepaar Ella und Sönke, seiner an. Ihre Dorfkneipe bleibt lange, auch lange nachdem der Dorfladen der strengen Ella Koopmann und die Dorfschule geschlossen worden sind, das eigentliche Herz des alten Weilers. Hier treffen sich die Männer, wenn sie den Gottesdienst bei Pastor Ahlers überstanden haben, hier feiert das ganze Dorf Taufe, Konfirmation, Hochzeit, silberne und goldene, und schließlich Beerdigung, all die Bahnsens, Martensens, Hamkes und Ketelsens. Mit großer Liebe und Sorgfalt charakterisiert Dörte Hansen eine Dorfgemeinschaft, ohne in die Kitsch- oder Stereotypenfalle zu tappen. Ein wenig Nostalgie und Sentimentalität ist schon dabei, aber auf die angenehmste Art, und wie sollte auch nicht, wenn man vom Verschwinden etwas lange Gewachsenen erzählt. Niemals verschweigt der Roman aber, dass sich das Leben im Dorf wandeln musste, dass die Beschränktheit der Möglichkeiten, die soziale Kontrolle und Engstirnigkeit dort auch zur Last werden konnten. Es ist schon schwindelerregend, wenn man sich vergegenwärtigt, wie rasant die Veränderungen in den letzten fünfzig Jahren waren. Haben sich die Strukturen in den Jahrhunderten zuvor nur geringfügig verschoben, wird nun alles umgekrempelt. Neben der Flurbereinigung und damit unmittelbar verbunden der Konzentrierung im Agrarsektor – die „Großen“ können die riesigen Flächen immer gewinnbringender bewirtschaften, die „Kleinen“, die sich die modernen Maschinen nicht leisten können, geben auf und verkaufen an „die Großen“ -, ist es vor allem die wachsende Mobilität der Bewohner, die das Leben im Dorf so grundlegend verändert. Nicht nur die Hausfrauen werden von Dora Koopmann dabei erwischt, bei Aldi auf der grünen Wiese statt bei ihr einzukaufen, auch die Jugend flieht, zumindest Samstagnacht. So ist die Dorfdisko bei Ella uns Sönke nicht länger angesagt. Einige der Jugendlichen verlieren ihr Leben an der langgezogenen Kurve kurz hinter dem Dorfausgang. Gleichzeitig kommen die Städter nach Brinkebüll, besiedelt eine Künstlergruppe die alte Mühle, werden Alpakas gezüchtet, ein Dorfkulturverein gegründet und in der Kneipe probt die Line Dance-Gruppe. Nur Hanni Thomsen knattert immer noch mit seinem Mofa durch die Gegend. Damit befinden wir uns auf der zweiten, der gegenwärtigen Handlungsebene, die in unregelmäßigen Perspektivwechseln immer wieder gegen die Kindheit und Jugend Ingwer Feddersens geschnitten wird. Marret ist schon lange aus dem Dorf verschwunden, keiner weiß wohin. Und auch Ingwer hat sich nach dem Studium in Kiel niedergelassen. Hier lehrt er an der Universität Frühgeschichte und lebt in einer etwas unentschiedenen Ménage à trois in einer Wohngemeinschaft mit Ragnild und Claudius. Nun hat sich Ingwer ein Sabbatjahr genommen, um seine greisen Großeltern im Dorf zu pflegen. Ella ist dement und Sönke lebt mit der Sorge, dass sie die bald bevorstehende Gnadenhochzeit, die sie natürlich bei sich in der Kneipe feiern wollen, nicht mehr erleben könnte. Auf anschauliche, leise melancholische Weise schildert Dörte Hansen die Entwicklungen im Dorf, erzählt von den Menschen und lässt darüber nachdenken, wie uns unsere Herkunft prägt, was uns Zugehörigkeit bedeutet. Neben dem von ihr selbst so bezeichneten „Ende der Sesshaftigkeit“ stehen Themen wie Verlust von sozialen Bindungen, Verödung von ländlichen Gemeinden, aber auch Gegenentwürfe dazu, zudem die Sorge um die alternden Eltern völlig unangestrengt auf der Agenda des Romans. Dörte Hansen schreibt nicht nur wunderbar, sie konstruiert ihren Roman auch äußerst geschickt und spannend, lässt genau so viel Nostalgie hinein, dass es nicht sentimental zu werden droht und es dem Leser doch ordentlich warm ums Herz wird. Alle Kapitel tragen Titel von Liedern, von Schlagern, gerne auch vom von Schriftstellern aller Art offensichtlich sehr geschätzten Neil Young. „Junge, komm bald wieder“ und „Wir wollen niemals auseinander gehen“ schallen durch die Dorfkneipe. Es fällt tatsächlich schwer, sich von diesem wieder äußerst gelungenen und auch bereits die Bestsellerlisten stürmenden Roman zu trennen. Und dass sehr bald ein neues Buch von Dörte Hansen kommen wird, darauf darf man hoffen.

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Marret Feddersen sieht in allem Möglichen Zeichen des nahenden Untergangs Schon als Kind war sie seltsam, „verdreiht“. Auf ihren Runden durch das Dorf Brinkebüll erkennt sie jeder am Geräusch ihrer Klapperlatschen. „Marret Ünnergang“ wird sie nur mehr genannt. Als viel später ihr Sohn Ingwer nach jahrelanger Abwesenheit nach Brinkebüll zurückkehrt, zieht er Bilanz. Sein Leben, das Dorf, alles hat sich gewandelt. So nimmt auch er eine Auszeit, um seinen greisen Großeltern Sönke und Ella beizustehen. Mittagsstunde, High Noon in Brinkebüll, nur dass sich hier nicht Gut und Böse im ewigen Kampf gegenüberstehen, sondern alt gegen neu, Tradition gegen Fortschritt. Es sind viele berührende Szenen, die Dörte Hansen aus dem Dorfleben beschreibt. Die Handlung verläuft in zwei Zeitebenen. Zum einen befinden wir uns in den Nachkriegsjahren bis in die 60er, Jahre des Aufbaus, der Beginn einer neuen Zeit und zum anderen in der Gegenwart, in der Brinkebüll fast wie eine Geisterstadt anmutet. Schule, Laden, die alten Höfe gibt es nicht mehr. Gerade noch Sönkes Wirtshaus besteht noch. Die Zeit der Feste im Brinkebüller Saal sind vorbei, kein Frühschoppen, kein Umtrunk bis zum Morgen. Es ist eine verkehrte Welt. Städter ziehen nach Brinkebüll, um die Ursprünglichkeit zu suchen, die die Landwirte im Zuge der Modernisierung abgeschafft haben. Es ist nicht nur das Dorfsterben, dass die Autorin beschreibt. Sie greift sehr viele Themen auf, sehr breit angelegt: Pflege der Familienangehörigen im Alter, Demenz, Inklusion, unbewältigte Kriegstraumata, die Bildungsschere zwischen Stadt und Land und vor allem die Einsamkeit und Isolation in unklaren oder ungeliebten Beziehungen. Paare, die jahrzehntelang mehr nebeneinander statt miteinander leben, die nicht miteinander reden, sondern übereinander, das macht die Geschichte über das Dorfleben hinaus universell. Es ist eine nostalgische Erzählung, durchsetzt mit wehmütigem Humor. Skurrile Figuren damals wie heute geben dem Buch eine zutiefst menschliche Seite. Aber Hansen erzählt auch von den Chancen eines Neuanfangs, einer Weiterentwicklung, der Suche und nach dem Platz im Leben.

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