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Rezensionen zu
Ich gehe wie ein Haus in Flammen

António Lobo Antunes

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Ein Mietshaus in Lissabon zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Sechs Wohnungen verteilen sich hier auf drei Stockwerke – und hinter jeder Haustür scheint sich ein Abgrund aufzutun. Da ist der verwitwete Rechtsanwalt aus dem zweiten Stock rechts, der mit dem Tod seiner Frau zwar endlich einer lieblosen Ehe entkommen ist, die jahrzehntelangen Demütigungen, die er hier erfuhr, jedoch nicht vergessen kann. „Du bist kein Mann“ – noch immer hallt die spöttische Stimme der Verstorbenen durch die Wohnung, noch immer lässt ihn die Erinnerung an eine katastrophale Hochzeitsnacht vor dreißig Jahren nicht los. Unerfüllte und enttäuschte Liebe: Von ihr kann fast jeder der Hausbewohner ein trauriges Lied singen. So auch die Richterin aus dem zweiten Stock links, die mit ihrem älter werdenden Körper hadert, die plötzlich den „Geruch nach alter Frau“ an sich wahrnimmt, die ihre Falten unter dicken Schichten Schminke zu verbergen sucht und sich vor der Endlichkeit des eigenen Lebens in kurzlebige Affären mit wechselnden Männern flüchtet. Weniger das Alter denn die Angst vor dem Alleinsein treibt hingegen die Finanzbeamtin aus dem ersten Stock rechts um: „bald kommt die Durststrecke der Rentenzeit und keine Menschenseele bei mir, die grauenhaften Sonntage, an denen die Stimmen der Kindheit uns aufsuchen und auf dem herumreiten, was wir am liebsten vergessen würden“. So lässt sie schließlich ihren ehemaligen Abteilungsleiter bei sich einziehen, auch wenn sie für diesen eher Mitleid als Leidenschaft empfindet. Als sie sich jedoch schon bald in der Rolle der Altenpflegerin wiederfindet, muss sie erkennen: „er kam nicht aus Liebe, er kam, um hier zu sterben“. Im dritten Stock links trauert der ehemalige Oberleutnant Augusto um seine Geliebte Sofia Rosa, die er während seiner Stationierung in der portugiesischen Kolonie Angola kennenlernte – und, gefangen in rassistischen Ressentiments, allein zurück ließ, als er von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Doch so sehr er auch versucht nicht an sie zu denken, beschäftigt ihn doch tagein tagaus die Frage: „was war ich für dich und was bin ich heute für dich“. Ein glückliches Zusammenleben ist auch der Familie im ersten Stock links nicht vergönnt. Hier wohnt der Trinker, der nicht über den Tod seiner ersten Tochter hinwegkommt und nun der Zweitgeborenen Alexandra und seiner Ehefrau im Rausch das Leben zur Hölle macht. Sein lautes Gebrüll, das durch Wände und Türen in die Wohnungen der anderen Bewohner dringt, bildet dabei zusammen mit dem lauten Klavierspiel der Richterin die alltägliche Geräuschkulisse im Leben der Hausbewohner. Mit „Ich gehe wie ein Haus in Flammen“ entwirft António Lobo Antunes das Panorama einer Gesellschaft, die auf vielen Ebenen von der lange verdrängten Erinnerung heimgesucht wird: Das Gefühl der Zerrissenheit, die Trauer um das Verlorene und das Leiden an der Vergangenheit ist es, was alle Bewohner eint. Das tragische Einzelschicksal zeigt sich dabei unentwirrbar mit den historischen und politischen Ereignissen verknüpft. Kaum eine Erinnerung, die so nicht bestimmt wird von der Allgegenwart des früheren Ministerpräsidenten Salazar und den „Portugal Portugal Portugal“-Rufen der Faschisten. So träumt etwa die verarmte Schauspielerin aus dem dritten Stock rechts nicht nur von der verpassten Theaterkarriere, sondern spielt gegenüber der Nichte nur allzu gern die Rolle der einstigen Geliebten und Fast-Gattin Salazars. Näher als gewollt kam hingegen der Kommunist aus dem Erdgeschoss links dem Diktator: Bedroht und gefoltert wurde er zum Spitzel der Geheimpolizei PIDE – und lebt nun in der ständigen Erwartung seiner eigenen Ermordung, rechnet täglich mit dem Besuch der Rächer mit der Nylonschnur, „die mir anschließend die Schuhe vertauschen, wie man es mit Verrätern macht“. Von traumatischen Erinnerungen verfolgt wird auch das jüdische Geschwisterpaar, das in der Wohnung nebenan lebt. Achtzig Jahre sind vergangen, seit Bruder und Schwester als Kinder vor den Nationalsozialisten nach Portugal flohen, doch noch immer hören sie jede Nacht die Militärlastwagen, sehen sie in ihren Träumen den Cousin auf der Schaukel: „er lachte mich an, wurde durch einen Schuss ganz ernst, streckte sich auf dem Boden aus, und die Schaukel am Ast der Akazie leer“. Die Geschwister haben überlebt – doch ihre Flucht will kein Ende finden: Sie wohnen im Erdgeschoss „um schneller fliehen zu können“, fühlen sich selbst in der Wohnung „heimlich beobachtet“ und fürchten zugleich, „aus Angst vor den Soldaten und den Bomben“, das Haus zu verlassen. Es sind mäandernde, nur sporadisch von Satzzeichen unterbrochene Gedankenströme, in denen sich Leid und Sehnsüchte der Hausbewohner artikulieren. Zeiten und Räume überlagern sich dabei ebenso wie Wirklichkeit und Traum und nicht immer ist für den Leser erkennbar, wer hier gerade die Stimme erhebt. Manches wird im Verlauf des Romans klarer, anderes wiederum verwirrt sich, entzieht sich dem Verständnis. So spielt der Roman mit der Spannung zwischen intimen Einblicken in das Seelenleben seiner Figuren einerseits und seiner Weigerung, ihre Fremdheit aufzuheben andererseits. Als Leser hat man was Antunes 25. Roman betrifft die Wahl: Man kann sich hineinziehen lassen, in den mitreißenden, immer schneller werdenden Strudel der Erinnerungen. Oder aber man tastet sich langsam und behutsam vor, Wort für Wort, von Stockwerk zu Stockwerk. Dabei fällt weder das eine noch das andere immer leicht, droht man doch aufgrund der sprunghaften Erzählweise und einer fehlenden zusammenhängenden Handlung immer wieder, in den Fluten der Erinnerung unterzugehen oder sich im Labyrinth der Stimmen zu verlaufen. Doch gerade diese Anstrengung, die Antunes seinen Lesern abverlangt ist es schließlich auch, die der Lektüre ihren besonderen, einzigartigen Reiz verleiht.

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