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Rezensionen zu
Achterbahn

Ian Kershaw

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Unbedingt lesen!

Von: Karsten Joost aus Bad Homburg

28.06.2020

Ian Kershaw hat hier einmal mehr ein Meisterwerk verfasst. Die Fortsetzung von "Hölllensturz" ist den hohen Erwartungen, die man zurecht an Kershaw stellen darf, mehr als gerecht geworden! Englische Historiker beherrschen häufig die besondere Gabe, komplexe Sachverhalte fesselnd und informativ darzustellen. Und Kershaw versteht sein Handwerk auf jeden Fall. Mit dem Begriff Achterbahn beschreibt er die Europäische Geschichte seit 1950 sehr treffend - eine Geschichte, die von zahlreichen Aufs und Abs gekennzeichnet war und immer noch ist. Neben der gelungenen Metapher Achterbahn spricht Kershaw sehr treffend von einem Schraubstock, wenn er das kommunistische Herschaftssystem im ehemaligen Ostblock beschreibt. Ein Schraubstock kann gelockert oder fester gezogen werden. Das Objekt, das es hält, bleibt bestehen. Die Sowjetunion hat nach Stalins Tod zwar den Schraubstock gelockert. Aber grundsätzlich durfte dieses Herrschaftssystem nicht in Frage gestellt werden. Deshalb wurden Unruhen in Osteuropa, die die absolute Macht der kommunistischen Parteien in Frage stellten, brutal niedergeschlagen. Westeuropa hat mit dem Bekentnis zu einer parlamentarischen Demokratie und der freien Marktwirtschaft eine beeindruckende Erfolgsgeschichte seit 1950 geschrieben. Im direkten Systemvergleich hatte der freie Westen gegenüber der kommunistischen Komandowirtschaft im Osten und ihren brutalen Unterdrückungsapparaten klar die Nase vorne. Eine klare Erfolgsgeschichte ist in diesem Zusammenhang die Europäische Gemeinschaft (die spätere EU) gewesen, die vor allem wirtschaftlich ihren Mitgliedsstaaten enorme Vorteile gebracht hat und besonders auf die ökonomisch rrückständigen Staaten in Süd- und Südosteuropas eine große Anziehungskraft ausgeübt hat. Michael Gorbatschow hat in den 80er Jahre versucht, durch innere Reformen den wirtschaftlichen Niedergang der Sowjetunion und ihrer Vasallen im Ostblock zu stoppen. Er wollte keinesfalls den Zusammenbruch der Sowjetunion und der Warschauer Pakt Staaten auslösen. Aber da er nicht bereit war, die friedliche Revolution von 1989 mit militärischer Gewalt zu beenden, musste er den Dingen machtlos ihren Lauf lassen. Warum ist die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union nach 1990 nicht einfach weitergegangen? Was lief in den letzten Jahren schief? Mit dieser Frage hat sich Kershaw sehr intensiv und durchaus emotional auseinandergesetzt. Die EU war - so ehrlich muss man sein - immer vor allem ein wirtschaftliches Zweckbündnis. Ihre Mitglieder sind Nationalstaaten mit einer jeweils spezifischen Kultur und eigener Geschichte, auf die (von Deutschland abgesehen), jedes Land auch stolz ist. Die Vorstellung eines Europäischen Zentralstaates macht vielen Mitgliedsstaaten Angst. Und im Krisenfall vertraut man halt den eigenen Regierungen mehr als der schwer durchschaubaren Bürokratie in Brüssel. Wie wird es weitergehen? Kershaw verweist zu Recht darauf, dass Historiker keine Wahrsager sind. Europa steht vor gewaltigen innen und außenpolitischen Herausforderungen. Achterbahn wurde Ende 2017 Im englischen Original veröffentlicht. Kershaw konnte noch den Brexit und die verhängnisvolle Wahl von Donald Trump erwähnen. Die Corona Krise von 2020 hat er nicht vorhersehen können. Sie ist aber nur eine weitere, schwere Belastungsprobe für die Zukunft Europas. Wie es weitergeht? Warten wir es ab!

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Dieses Buch ist ein Solitär in der Vermittlung jüngerer europäischer Geschichte. Am Ehesten würde man ihm gerecht, wenn man es zum Ausgangspunkt möglichst vieler Debatten zwischen Generationen, Nationalitäten, politischen Einstellungen machte – eine Hoffnung, die in scharfem Kontrast zum herrschenden Geist in der Politik, in den Medien und leider auch zur mangelnden Sorgfalt in der Gestaltung von Schulbüchern und Lehrplänen steht. Den Titel hat Ian Kershaw trefflich gewählt. Sowohl was das schwindelerregende Auf und Ab, das Tempo und die Rasanz anlangt, mit der seit 1950 Geschichte „erfahren“ wird, als auch die rasch wechselnden Perspektiven und atemberaubenden Momente nahe am Absturz: Der Zeitgenosse bestätigt ihm, dass er ihn zu einer großartigen Reise einlud. Sie führte durch erschreckende und bezaubernde Landschaften, lenkte den Blick auf unbekannte Details, schärfte das Gefühl für abrupte Wendungen. Sie ist noch nicht zu Ende. Die Bibliographie belegt ein veritables Gebirge an Informationen, das Ian Kershaw durchforscht hat, er hat dort hinein klug die Trasse seiner Achterbahn konstruiert, er baut Ausblicke auf Krisen und Umbrüche, Personen und Parteien, Ökonomie, Politik und Kultur, auf Nationen, Europa und die Welt ein und setzt sie zueinander in Beziehung. So wird etwa das Panorama des Kalten Krieges zugleich breit und tiefenscharf. Beim Betrachten desselben ebenso wie beim Passieren von Abgründen möglicher nuklearer Konflikte oder des hochbrandenden Jubels nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs erlebte ich meine eigene Vergangenheit als sehr präsent – wie viel Glück ich hatte, dem DDR-Sozialismus zu entkommen! – und doch sehr, sehr fern. Das liegt wohl an der klaren, unverschnörkelten Sprache des Erzählers, sie ist frei von Effekten, aber keineswegs ermüdend. Dafür ist gewiss auch dem Übersetzer Klaus-Dieter Schmidt zu danken. Freilich: Wer Höhen und Tiefen der Historie selbst “durchwandert” hat, schaut mit anderen Augen auf die Bilder dieser Berg- und Talfahrt als Jüngere. Ihnen mögen sie wie Kulissen erscheinen, die sich mit anderen Geschichtsbildern vergleichen lassen. Ian Kershaw verhehlt nicht, dass er seine Route durchs zurückliegende Jahrzehnt an offiziösen Sichtachsen ausrichtet. So erscheinen etwa Klimawandel und Energiepolitik in allzu bekanntem Ausschnitt. Der Sachverstand von Naturwissenschaftlern und Technikern (nicht einmal der des IPCC) blendet die Chancen der Nukleartechnik für eine gewünschte Begrenzung des Kohlendioxyds in der Atmosphäre längst nicht mehr aus. Kershaw verweilt dagegen beim populistischen Ruf nach “Atomausstieg” – wegen der in Tschernobyl und Fukushima offenbarten Gefahren dieser Technik. Aber wenn dieser Ruf auch ein langes Echo hat: Der vermeintliche Echofelsen ist aus Medienmaché. Ian Kershaw ist klug genug, kritische Fragen an die Zukunft seiner britischen Heimat und der EU zu stellen, er ermahnt dringlich zu Reformen. Was er sich dabei vom Walten der Bundeskanzlerin Merkel und des Präsidenten Macron verspricht, blieb mir rätselhaft. Bisweilen verengt er die Perspektive, etwa wenn er zunehmenden Islamistischen Terror auf Kolonialismus und fraglos verderbliche Interventionen des Westens im Nahen Osten bzw. in Afrika sowie Benachteiligungen von Moslems in Europa zurückführt. Innersystemische Impulse religiös grundierten Machtwillens kommen kaum ins Blickfeld. Zeit, einen Blick auf eine zweite Metapher des Autors zu werfen, den “Schraubstock”. Er verwendet sie für die totalitären Regimes des Ostblocks, sie ist einprägsam aber etwas simpel. Es drehten ja nicht nur ein Stalin, Breshnew, Honecker und ihre Gefolgschaft an der Schraube gesellschaftlicher Kontrolle. Da sind Hunderttausende von Rädchen und Hebeln im Gestell des Staates und der Medien, “An-Gestellte”, und was sie treibt, ist nicht nur Einkommen, sondern auch informelle Teilhabe an der Macht. Sie gehören dazu, und Konformität ist der Eintrittspreis. Solche Organisationen, gern auch als Bürokratie bezeichnet, waren in der Geschichte erstaunlich resilient gegenüber Machtwechseln: Deutsche Beamte blieben nach Hitlers Ermächtigung ebenso in Lohn und Brot wie nach dessen Untergang. Jüngstes Beispiel sind fast problemlos vom IS übernommene Behörden in Teilen des Irak; Houellebecqs Roman “Soumission” (“Die Unterwerfung”) beschreibt den Übergang zur Herrschaft des Islam in Frankreich aus der Sicht eines Hochschul-Angestellten. Ian Kershaw beweist auf der Fahrt mit der Achterbahn auch seine Sachkenntnis in Kunst, Literatur, Musik. Erstaunlicherweise deutet er nur an, welche Fragen sich insbesondere für die Kultur stellen, wenn in der EU, aber auch den UN und zahllosen immer mächtigeren NGO eine supranationale Bürokratie heranwächst, deren Anspruch auf Konformität schon sichtbar, deren Kompetenz zur Lösung der entscheidenden Konflikte in der Welt aber genau deshalb durchaus zweifelhaft ist. Am Anfang ihrer Amtszeit verkündete Angela Merkel, sie wolle der Bürokratie Schranken setzen. Inzwischen treffen planwirtschaftliche Ausflüge der Bundeskanzlerin – etwa in der Klima-, Energie- und Migrationspolitik – auf ein erstaunliches Einvernehmen bei fast allen Parteien. Auch die Medien gehen gern konform. Widerspruch gegen die uneinlösbaren Wechsel auf europäische, gar globale Lösungen wird gern mit politischem Extremismus in Verbindung gebracht: “Rechts” und “populistisch” sei das. Auch Kershaw zeigt mit dem Finger in diese Richtung. Dass aber in Polen, Ungarn, Österreich konservative Regierungen großen Rückhalt finden, eben weil Frau Merkel und die EU-Bürokratie versagen, klärt er gar nicht als systemischen Mangel auf. Kurz und Orban haben nicht seine Sympathien – anders als der “grüne” Österreichische Präsident Van der Bellen. Das ist schön subjektiv, schmälert nicht das Vergnügen und ist mir viel lieber als vorgebliche „Objektivität“. Am Schluss der “Achterbahnfahrt” spricht Kershaw vor allem von der Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit und Unwägbarkeit aktueller Entwicklungen. Nein, eine EUdSSR wird es nicht geben, schon gar kein neues Nazireich. Aber bewegen wir uns nicht derzeit auf den Gleitkissen politischer Korruption weiter Richtung Konformismus? Viktor Frankl hat ihn als ebenso gefährlich für die Demokratie bezeichnet, wie den Totalitarismus, und mit dem Blick auf China, wo der Staat mit totaler Überwachung Konsens und Konformität der Meinungen durchsetzt, ist das beklemmend aktuell. Unvermeidlich sind und bleiben Konflikte mit solchen Staaten, wenn individuelle Freiheit und Menschenrechte verteidigt werden sollen. Werden die westlichen Demokratien standhalten oder sich – wie auch immer ideologisch fundierten – kollektivistischen Diktaten unterwerfen? Sie haben – z.B. in den KSZE-Verhandlungen – Stärke bewiesen, als sie Menschen- und Bürgerrechte gegen den totalitären Konsens von der Überlegenheit sozialistischer Gesellschaften vertraglich durchsetzten. Vielen Europäern brachte das die Freiheit. Dass ein solcher Prozess in globalen Konflikten möglich wird, ist nicht mehr als eine Hoffnung. Sie zerbräche, wenn in den europäischen Staaten selbst Überwachung und Kontrolle durch bürokratische Apparate – seien es Behörden oder “outgesourcte” Zensur-, Spitzel- und Denunziations-Kollektive – die Freiheit der Bürger auf konforme Schienen zwänge.

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