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Rezensionen zu
Alles, was ich nicht erinnere

Jonas Hassen Khemiri

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Er ist geboren worden, er lebte, er starb – Jonas Hassen Khemiri: Alles, was ich nicht erinnere Samuel ist tot. Wir erfahren das ganz zu Beginn der Geschichte. Wir wissen nicht gleich, wie er starb, und die Frage nach dem Warum ist jene zentrale Frage, die den Roman überhaupt erst antreibt, aber wir wissen gleich, dass er nicht mehr lebt. Und dass sein Tod ein Rätsel ist. Samuel schwebt wie ein Geist über den gesamten 330 Seiten, die der Roman umfasst. Er ist die Hauptfigur, derjenige, der im Mittelpunkt steht und doch nichts mehr sagen kann, der, dessen Bild sich nur durch das zusammenfügt, was die anderen über ihn sagen. Dessen Konturen so mit der Zeit zwar deutlicher werden, wenn auch nie ganz klar sein kann, wer Samuel wirklich war. Es ist, als sei dies eine der Fragen, die der Roman außerdem noch stellt: Die Frage danach, ob das überhaupt möglich ist: Ob wir eigentlich jemals sagen können, wer der andere ist, ob wir ihn kennen können. „Alles, was ich nicht erinnere“ von Jonas Hassen Khemiri nähert sich dem inzwischen verstorbenen Samuel von verschiedenen Perspektiven aus. Ein Schriftsteller recherchiert zu Samuels Tod. Was wir lesen, ist nicht das Endprodukt seiner Recherche, sein Buch, sondern die Sammlung dessen, was er von der Familie und den Freunden Samuels hört, im Wortlaut, so, wie er es in Interviews aufgenommen hat. Dadurch entsteht der Eindruck von Unmittelbarkeit: Der Schriftsteller (der selbst sehr im Hintergrund bleibt) präsentiert uns somit nicht die überarbeitete, geschliffene Version. Wir sind wirklich nah dran an Samuels Leben – soweit wir können. Es sind drei Personen, die neben Mutter und Großmutter eine besonders große Rolle in Samuels Leben eingenommen haben: Da ist Vandad, ein Typ wie ein Schrank, ein wenig undurchsichtig und jähzornig, der in Samuel aber einen Freund wie einen Bruder sah. Da ist Laide, seine große Liebe, mit der alles anders war als jemals zuvor, mit der er eine intensive, rauschhafte Zeit erlebte. Und da ist seine alte Freundin, die Pantherin, der er einst half, als sie familiär eine schwere Zeit hatte und nicht wusste, wohin. Samuel hat mit diesen dreien gemeinsam, dass sie zwar alle seit langem in Schweden leben oder dort geboren sind, dass aber sie oder ihre Eltern bzw. ein Elternteil aus dem arabischen Raum kommen. Samuel selbst war der Sohn einer schwedischen Mutter und eines arabischen Vaters (eine Parallele zum Autor des Romans). „Alles, was ich nicht erinnere“ schenkt uns einen Einblick in das Leben derjenigen, die einerseits zwar in Schweden zu Hause sind, die andererseits aber eben doch immer ein Stück außen vor bleiben. Durch die Berichte seiner Freunde und seiner Familie erleben diese die Zeit vor Samuels Tod noch einmal, wobei Vandad die größte Rolle einnimmt. Er scheint allgegenwärtig, war ganz offenbar der wichtigste Mensch. Seine Geschichte mit Samuel zieht sich durch das gesamte Buch, während die anderen, seine Mutter, die Pantherin, Laide, vorbeiziehen, wieder aus dem Vordergrund verschwinden. Ist diese so intensive Freundschaft wirklich so, wie es scheint? Die Personen wechseln sich in ihren Erzählungen über Samuel ab, teilweise lesen wir die Geschehnisse zeitlich leicht versetzt, springen immer wieder vor und zurück in der Geschichte. Khemiris Sprache ist meist einfach und direkt, teils umgangssprachlich und grammatikalisch falsch, stets wirkt sie authentisch. Es gelingt dem Autor großartig, zu verdeutlichen, dass jeder in seiner Geschichte einen anderen Samuel gekannt hat, dass jeder ein anderes Bild von ihm hatte – dass womöglich Samuel selbst jedem einen anderen Teil von sich gezeigt hat. Und auch die übrigen Personen charakterisieren sich gegenseitig und sehen doch andere Eigenschaften im jeweils anderen als sie selbst in sich sehen. Der Roman ist so kurzweilig, so frisch und locker auf der einen Seite, so voller Tiefe und Schwere auf der anderen, dass man manchmal ganz vergisst, dass Samuel tot ist, mit dem Auto der Großmutter gegen einen Baum gefahren, und dass niemand genau weiß, ob dies Absicht war oder doch ein Unfall. Was ging wirklich in ihm vor? Was bedeuteten ihm Laide und Vandad, die beide wohl glaubten, das Wichtigste Person in Samuels Leben zu sein? „Alles, was ich nicht erinnere“ ist ein facettenreicher Roman, der seine ganze Kraft erst nach und nach entfaltet und in dem viel mehr steckt als das Rätsel um die Frage, ob Samuels Tod Selbstmord oder ein Unfall war. Ein Roman, der ein Stück Leben junger Leute in Stockholm zeigt und wie nebenbei das Thema Migration in verschiedenen Facetten miteinfließen lässt. Nach kurzer Zeit geriet ich bei der Lektüre von Khemiris Roman bereits in einen Lesesog und konnte das Buch kaum noch weglegen. Ein intensiver Roman von einem interessanten Autor, der auch Theaterstücke schreibt: Sein Stück „Ungefähr gleich“ ist zur Zeit an der Berliner Schaubühne zu sehen, in Fragmenten nähert er sich auch dort dem Leben von Migranten in Europa.

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Erinnerungen

Von: vielleser18

24.03.2017

"Ich rede mir ein, dass ich ein Teil der wirklichen Welt bin, dass Wörter nicht wichtiger als Menschen sind, dass ich nichts anderes will, als versuchen zu verstehen, was geschehen ist. " (Zitat, S. 315). Samuel ist tot. Gestorben bei einem Autounfall. Selbstmord oder Unfall ? Die Geschichte "Alles, was ich nicht erinnere" ist ein Roman der ganz anderen Art. Interessant, manchmal verwirrend, es braucht auch vom Leser Konzentration und vor allem Aufmerksamkeit. Doch wenn man sich hinein gefunden hat, dann ist es eine sehr intensive Geschichte, bei der man selber nachdenkt, selber versucht sich eine Meinung zu bilden. Das Grundgerüst des Romanes ist einfach. Ein schwedischer Journalist/Autor versucht das Leben des letzten Jahres von Samuel und vor allem dessen Tod zu rekonstruieren. Warum, wieso, weshalb ? Dafür befragt er die Menschen, die Samuel kannten. Angefangen von Mitarbeitern des Heimes, in dem seine Großmutter (deren altes Haus übrigens auch eine große Rolle spielt) liegt, über Nachbarn, der Pantherin (eine Freundin, die in Berlin lebt) und vor allem kommen Samuels Freund und MItbewohner Vandad und seine Freundin Laide zu Wort. Am Anfang muss man sich reinfinden. Wiedergegeben sind immer nur die Antworten, die Berichte der Bekannten und Freunde. Keine Fragen. Es liest sich wie ein Protokoll von Gesprächen, wie die Niederschrift von Aufnahmeprotokollen, was sie auch darstellen sollen. Die Antworten der verschiedenen Interviewpartner werden nur durch Sternchen abgegrenz, wechseln häufig, meist sind es nur sehr kurze Passagen und jedesmal muss man überlegen, wer berichtet hier gerade ? Doch nach einer Weile habe ich mich hineingefunden in diesen besonderen Erzählstil. Mehr als interessant wird es spätestens als Vandad und Laida erzählen. Abwechselnd. Manchmal zu den gleichen Ereignissen. Jeder aus seiner Sicht - meist erzählen sie widersprüchlich. Man kommt als Leser ins Grübeln - wer hat Recht, wer übertreibt oder erzählt nicht die (ganze) Wahrheit? Der Autor zeigt auf, dass je nachdem aus welchem Blickwinkel über Samuel berichtet wird, das Bild sich ändert. Verzerrt wird, verschleiert wird, gefiltert wird. Eine gelungene Darstellungsweise von Khemiri. Man fragt sich, wer war Samuel wirklich ? Wie war er und woran lag es, dass er so unterschiedlich wahrgenommen worden ist. Hat jeder nur sein eigenes (Wunsch)Bild projeziert ? Vor allem sieht man immer Samuel vor sich, der sich wahrscheinlich genauso zwischen seinen Mitmenschen aufgerieben hat. Was hat schlußendlich zu seinem Tod geführt ? Durch die Berichte seiner Mitmenschen merkt man, wie sich die Situation, die Stimmung bei Samuel immer mehr zugespitzte. Als Leser versucht man sich ein eigenes Bild zu machen, was nicht immer leicht ist. Was bleibt ist der Tod eines jungen Mannes, der sich verraten und letztendlich verlassen und ungeliebt gefühlt haben muss, der keinen Sinn mehr in seinem Leben sah, sich entwurzelt gefühlt hat und ohne Hoffnung. Fazit: Man muss ich einlassen auf die Erzählweise, auf die Geschichte und die Protagonisten. Es ist eine ganz andere Leseerfahrung. Anspruchsvoll, manchmal verwirrend, aber interessant, sehr gut aufgebaut, man muss Nachdenken und MItdenken.

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Wer war Samuel? Ein guter Freund und Mitbewohner von Vandad. Ein liebender Enkel, der sich um seine zunehmend demente Oma kümmerte. Ein Menschenfreund, der Flüchtlingen zu helfen versuchte. Ein Freund der exzentrischen Pantherin. Der Liebhaber von Laide. Aber wer kannte ihn wirklich? Jede Begegnung zeigt ein anderes Gesicht, geradezu eine andere Person. Jetzt ist er tot und die Rekonstruktion seines Charakters erfolgt über das Gespräch mit den Menschen, die ihn kannten und von ihren Begegnungen erzählen. Jonas Hassen Khemiri hat einen Roman geschrieben, der sich Kaleidoskop-artig um seinen Protagonisten dreht und versucht, diesen einzufangen. Die Geschichte könnte sich überall in Europa zugetragen haben, dass Stockholm der Handlungsort ist, ist fast nebensächlich, denn die beschriebene Generation ist nicht mehr verwurzelt in ihrem Land. Die Jugendlichen haben Eltern aus verschiedenen Ländern, wohn(t)en selbst in unterschiedlichen Städten und Staaten und sind es gewohnt auf andere mit disruptiven Lebensläufen und mehreren Muttersprachen oder Kulturen zu treffen. Die fehlende Kontinuität und Zugehörigkeit schlägt sich insbesondere in Samuel nieder, dessen Familiengeschichte vage bleibt: ein abwesender Vater, eine Mutter, die ihren Schmerz nicht öffentlich machen will, eine Schwester, die gänzlich außerhalb der Geschichte zu existieren scheint. Dies unklare Selbstbild schickt ihn auf die Suche nach der Wahrheit im Leben und so wie er versucht, die Welt zu begreifen, so spiegelt er sich in anderen Menschen. Gleichzeitig kann er nicht erinnern, was er erlebt hat, als wäre er gar nicht am leben – auch schon als er noch gelebt hat. Daneben beschreibt Khemiri eine schwierige Liebesbeziehung, die wilden Schmetterlinge im Bauch und schleichend die Einsicht, dass ein Mindestmaß an gemeinsamen Idealen und Werten, aber auch Lebensentwürfen für eine gemeinsame Zukunft erforderlich sind. Freundschaften hingegen können mehr aushalten, Samuel und Vandad sind füreinander da, wenn es darauf ankommt, unterstützen sich, ohne Bedingungen an den jeweils anderen zu stellen. Und dann sind da noch die Flüchtlinge, die hilfsbedürftig erscheinen, aber dann die ihnen gebotene Hilfe immer weiter ausreizen, bis ein Unglück geschieht, das die Nachbarn ebenfalls nachhaltige Meinungen bilden lässt. Ein ungewöhnlicher Roman, der durch die schnellen Perspektivenwechsel nicht nur ungemein lebendig wirkt, sondern auch ein wenig exaktes und doch zugleich umfangreiches Bild liefert. Der Journalist, der offenbar all die Informationen zusammenträgt, bleibt im Hintergrund und lässt die Figuren sich erinnern. Sie leisten das, was Samuel nicht Imstande war zu leisten. Sie verarbeiten so auch die Trauer und Selbstvorwürfe, die nicht ausbleiben können. Was bleibt beim Leser ist ein Bild eines verzweifelten jungen Mannes, der nur sich und das Leben fassen und verstehen wollte und damit doch letztlich alleingelassen wurde. Sinnbildlich für eine Generation auf der Suche nach sich und der eigenen Identität.

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