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Rezensionen zu
Überbitten

Deborah Feldman

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€ 13,00 [D] inkl. MwSt. | € 13,40 [A] | CHF 18,50* (* empf. VK-Preis)

Nachdem mich Deborah Feldmans Geschichte ihres Verlassens der jüdischen Satmarer-Gemeinschaft in „Unorthodox“ sehr bewegt hatte, musste ich sofort lesen, wie es ihr danach weiter ergangen ist. Ihr erstes Buch ließ keinen Zweifel daran, dass das Weggehen aus der Gemeinschaft erst der Anfang war. Die wahren Probleme fingen danach erst an. Im vorliegenden Buch berichtet die Autorin auf 700 Seiten über die sieben Jahre, die auf die Trennung von ihrem Ehemann folgten. Wie lebt man in einer Welt, die man kaum kennt, mit einer Sprache, die nicht die Muttersprache ist, verdient Geld für sich und ein kleines Kind, wenn man keine Arbeit und keinen Abschluss hat? Ohne Hilfe der Familie, Nachbarn und Bekannten, die einem freundlich raten, man möge sich doch gleich umbringen. Was bleibt von der eigenen Identität, wenn das Wertesystem und die Religion, mit denen man immer gelebt hat, weggebrochen sind und sich alle Prioritäten verschoben haben? Wie gelingt die Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit und den Schuldgefühlen? („Überbitten“ ist ein jiddisches Wort für die Bitte um Verzeihung.) Deborah Feldman beschreibt, wie sie „die Kunst erlernt hat, glücklich zu sein“. Denn Glücklichsein war für die Satmarer kein erstrebenswertes Ziel. Feldman ist eine Frau, die Antworten und Auseinandersetzung stets in Büchern gesucht und gefunden hat. Nach ihrem Weggang aus ihrer Gemeinschaft konnte sie erstmals ungehindert alles lesen, was sie wollte. Sie verschlang die Werke der Weltliteratur und vor allem der jüdischen Autorinnen und Autoren. Neben allen praktischen Problemen, eine Wohnung zu finden, den Lebensunterhalt zu verdienen, das Sorgerecht für ihren Sohn und eine gültige Zivilscheidung zu erhalten, berichtet die Autorin vor allem über ihre lange Suche nach Identität und Heimat, nach innerer Sicherheit und Zugehörigkeit in der Welt. Dabei erweiterte sie ihren Radius ganz langsam, zuerst hinaus aus dem bekannten Viertel Williamsburg, dann nach Manhattan, später nach New England und auf die ersten Auslandsreisen. Die äußere Ortsveränderung wurde jeweils ermöglicht durch das Verlassen der inneren gewohnten Denkmuster. Feldman machte einen Universitätsabschluss, schrieb ihr erstes Buch, kam mit ganz neuen Menschen in Kontakt. Die ersten Jahre waren vom nackten Überleben geprägt. Ein inneres Ankommen gab es nicht. Die Autorin hatte stets ein enges Verhältnis zu ihrer Großmutter, die sie aufgezogen hat. Mehr und mehr wird ihr deutlich, dass das Leben ihrer Großmutter wegweisend für die Suche nach ihrem eigenen Ich sein könnte. Ihr ist bewusst, dass die Großmutter vor dem Krieg in Ungarn ein völlig anderes Leben geführt hat als danach, dass ihr Überleben der Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen alles für immer verändert hat. Über die Zeit vor der Immigration in die USA hat diese aber nie gesprochen. Feldman betreibt Nachforschungen, reist mehrfach nach Europa und sucht nach den Spuren des früheren Lebens ihrer Großmutter. Die erste Begegnung mit Deutschland, der „verbrannten Erde“, erlebt sie als befremdlich und bedrohlich. Sie setzt sich mit Rassismus und der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland auseinander, lernt Deutsche kennen. Deborah selbst ist überrascht, dass ausgerechnet Berlin ihr zum Rettungsanker wird. Berlin wird der Ort, an dem sie es erstmals für möglich hält, einen für sich passenden Platz in der Gesellschaft zu finden, eine Zugehörigkeit. Sie beantragt die deutsche Staatsangehörigkeit aufgrund der Vertreibung ihrer Vorfahren, über deren frühere Lebensumstände sie deutlich mehr erfährt, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie schafft es, sich von der ererbten „Schuld überlebt zu haben“, die ihr die Großeltern vermacht haben, zu distanzieren. Das zweite Buch Deborah Feldmans unterscheidet sich stark von ihrem ersten („Unorthodox“). Im ersten Buch stehen die äußeren Lebensumstände der chassidischen Sekte und ihre jugendliche Naivität im Mittelpunkt. Zu Beginn der Schilderung dieses zweiten Buches ist Deborah Anfang zwanzig und hat täglich eine beängstigende Realität zu bewältigen. Im Fokus der Erzählung steht aber vor allem ihr innerer Kampf, ihre Suche nach einem Ich, von dem sie nicht weiß, ob es überhaupt existiert. Die von ihr geschilderten Auseinandersetzungen mit sich und der Welt führt sie auf einem ausgesprochen hohen intellektuellen Niveau. Schon die Zitate, die sie jedem Kapitel voranstellt, sind von derartiger philosophischer Tiefe und sprachlicher Komplexität, dass sie teilweise schwer zugänglich sind, wenn man das zitierte Gesamtwerk nicht kennt. Ihr eigener Text ist sprachlich ebenfalls sehr komplex, von langen, verschachtelten Sätzen geprägt und von großer emotionaler Tiefe. Manchen Absatz musste ich zweimal lesen, um ihn wirklich zu erfassen. Feldmans erstes Buch ist deutlich leichter lesbar, aber dennoch sehr kraftvoll. Das vorliegende Buch ist sprachlich und intellektuell anspruchsvoller. Die größere Leseanstrengung lohnt sich aber. Die Autorin nimmt den Leser mit durch alle Widersprüche, Höhen, Tiefen und Sackgassen ihrer inneren Suche. Man darf miterleben, wie sich ihr Denken und ihre Überzeugungen langsam wandeln und neu ausrichten. Ihre Schilderung hat in mir viel Nachdenken über meine eigene persönliche und kulturelle Identität ausgelöst. Ich habe mein eigenes Verhältnis zu und meine Vorurteile gegenüber Juden und Menschen unterschiedlicher Herkunft hinterfragt. Deborah Feldman beschreibt das bis heute schwierige Miteinander von nichtjüdischen Deutschen und Juden jeglicher Nationalität. Sie macht deutlich, dass es keine einfachen Antworten gibt. Sie reflektiert mit entwaffnender Ehrlichkeit ihre eigenen Vorurteile gegenüber Juden und nichtjüdischen Deutschen. Sie bleibt dabei nicht in einer rein intellektuellen Auseinandersetzung stecken, sondern lässt uns Leser auch an ihrer starken Emotionalität teilhaben, ihrer Wut gegen Neonazis, der Frustration über erlebte Diskriminierung, der überwältigenden Trauer und Verzweiflung über die ungeheuren Schrecken des Holocausts und die Angst davor, es könnte wieder geschehen. Ein schwieriges, umfangreiches und lohnendes Buch. Die Kombination aus starken, nachfühlbaren Emotionen und einem sehr reflektierten intellektuellen inneren Dialog macht es so besonders.

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Was für ein Mut und Durchhaltevermögen, welch gnadenlose Ehrlichkeit und Selbstentblößung auf dem Weg zu einer schmerzhaften Selbstverwirklichung - das war mein Eindruck nach der Lektüre von "Überbitten" von Deborah Feldman. Und was für eine Lebensgeschichte von einer Kindheit in einer ultraorthodoxen Nachbarschaft in Brooklyn, die mit ihren vielen Regeln, Traditionen und sozialer Kontrolle mehr an ein galizisches Shtetl erinnert, bis zum buchstäblichen Neubeginn in Berlin. Ausgerechnet Berlin, der deutschen Hauptstadt, gewissermaßen dem Herzen der Dunkelheit im Kollektivbewusstsein ihrer Großmutter und ihrer früheren Gemeinschaft von Holocaust-Überlebenden. Deborah Feldman aufgrund ihres Geburtsortes eine amerikanische Autorin zu nennen, scheint irgendwie falsch - ihre Muttersprache war Jiddisch, die Familientradition geprägt von der untergegangenen alten Welt, angefangen vom Gulasch der Großmutter über die ewigen Schatten der ermordeten Familienangehörigen. Mit Anfang 20, in einem Alter, wo andere übermütig die Freiheit ihrer Jugend und des Studentenlebens genießen, setzt Feldman, zu dem Zeitpunkt bereits in einer arrangierten Ehe verheiratet und Mutter eines kleinen Jungen, einen Collegebesuch durch. Für ihre Mitstudenten ist sie eine Exotin. Schon zu diesem Zeitpunkt verfolgt sie mit langem Atem einen Plan - sie will raus aus ihrer Ehe, raus aus Williamsburg, will ihrem Sohn eine in Verbote und Vorschriften eingezwängte Kindheit ersparen. Er soll seine Persönlichkeit frei entwickeln können. Sieben Jahre dauert der Prozess der Selbstbefreiung und -verwirklichung, in dem sich Feldman gleich mehrfach neu zu erfinden scheint. Auf fast 700 Seiten ihrer autobiographischen Erzählung schildert sie ihren Weg, die Begegnungen mit Menschen, die sie geprägt haben, Hoffnungen und Zweifel. Zwischen Optimismus und Verzweiflung, Selbstzweifeln und Rücksichtslosigkeit schwankt die junge Frau auf ihrer Lebensreise. Vieles erinnert an einen ungefilterten inneren Monolog, als sei das Schreiben auch therapeutisch - schonungslos ehrlich auch sich selbst gegenüber, wenn sie beschreibt, wie sie über Beziehungen schreibt, in denen sie unfähig scheint, Gefühle zu erwidern. Europa ist anfangs ein Ort jener Kultur, der Bücherliebe, die sie in Amerika vermisst hat, aber zugleich ein Ort der Dunkelheit - kantige Gesichtslinien, blaue Augen, blonde Haare lösen fast automatisch Nazi-Assoziationen aus, wobei Feldman mitunter blind dafür ist, den Menschen hinter dem Stereotypen zu erkennen. Ererbtes Trauma zu bewältigen, sich selbst neu zu beheimaten, Versöhnung mit sich selbst und mit ihrem neuen Land zu finden - auch darum geht es in "Überbitten", in dem Deborah Feldman ihre Leser mit auf eine faszinierende innere wie äußere Reise nimmt. Kann man glücklich werden an einem Ort, der symbolisch für millionenfaches Unglück ist? Kann man jüdisch sein, wenn man das starre Korsett religiöser Traditionen aufgegeben hat? Kann man sich aussöhnen mit der Vergangenheit und ihrem Erbe? Deborah Feldman hat für sich Antworten gefunden. Etwa, "dass es weitaus konstruktiver war, wenn ich mich in eine Gesellschaft, und noch dazu in eine, in die mich einzupassen nicht gerade leicht war, wirklich hineinbegab, als wenn ich sie aus der Ferne hassen und verdammen würde. Und ich habe auf unerklärliche Wege gelernt, dieses Land und seine Menschen zu lieben, ganz so, wie ich gelernt habe, für die irregeleiteten Menschen, die mich erzogen haben, und ihre traumatisierten, aber wohlmeinenden Methoden Zuneigung zu empfinden." Denn: "Sich windend damit zu hadern, deutsch zu sein, ist nicht so anders, als sich windend damit zu hadern, jüdisch zu sein. Eines ist der Kehrwert des anderen", schreibt Feldman am Ende von "Überbitten" über Schuld, Scham und deutsch-jüdische Befindlichkeiten. Ein faszinierendes Buch, auch über die Befreiung des Geistes durch Bücher.

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