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Rezensionen zu
Kallocain

Karin Boye

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Karin Boyes 1940 erschienener Roman „Kallocain“ gilt als Klassiker der dystopischen Literatur und wird mit Werken wie Aldous Huxleys „Brave New World“ und Orson Welles „1984“ in eine Reihe gestellt. Im Rahmen der Twitter-Leserunde von 54books (#54readsKB) habe ich mir die schwedische Dystopie näher angeschaut. Der Chemiker Leo Kall entwickelt ein Wahrheitsserum, das wirklich jeden zum Reden bringt. Nicht uneitel benennt er das Mittel nach sich selbst „Kallocain“. Als treuer Staatsbürger stellt er es sogleich dem herrschenden Regime zur Verfügung – mit fatalen Folgen für alle, deren Gedanken nicht im Gleichschritt marschieren. Karin Boyes „Kallocain“ wurde zwar schon 1947 einmal ins Deutsche übersetzt, aber erst die Neuübersetzung 2018 durch Paul Barf – verbunden mit dem allgemeinen Interesse an dystopischer Literatur – hat den Roman zumindest in der Bloggosphäre stärker ins Bewusstsein gerückt. Die Geschichte nimmt viele Elemente von Orwells unermüdlich zitiertem Roman „1984“ vorweg (hier 10 Gründe, warum 1984 immer noch aktuell ist), reicht in seiner Bekanntheit aber bei Weitem nicht an den später erschienenen Roman heran. Warum? Vielleicht liegt es daran, dass Boye ihren Schwerpunkt nicht auf die Beschreibung und Ausgestaltung der von ihr erfundenen Welt, auf das Worldbuilding, legt. Bis weit in die Geschichte hinein hat der Leser nur eine vage Vorstellung davon, wie der Heimatstaat Leo Kalls organisiert ist, welche Machtstrukturen und politischen Seilschaften es gibt und was eigentlich das erklärte Staatsziel sein soll. Anachronistisch wirkt, dass die Institution der Familie sich bis zum Zeitpunkt der Geschichte bewährt hat und dass das Staatsleben trotz völliger Informationsabschottung seiner Bewohner (sogar geografische Informationen sind verboten) funktioniert. Was Boye nicht in den Entwurf der von ihr geschaffenen Welt steckt, investiert sie in das Innenleben ihres Protagonisten Kall. Als Leser sieht man die Geschehnisse nach Erfindung des Kallocains durch seine Augen. Anfangs fühlt man sich so gar nicht wohl im Kopf des perfekten „Mitsoldaten“, der keinen Dienst verpasst und seine Frau Linda dafür hasst, dass kein offenes Gespräch mit ihr möglich ist, während er selbst jederzeit zum Denunzieren bereit ist. Langsam setzt dann ein Wandel in Kalls Denken ein; leise Zweifel melden sich an, bis er schließlich zum ersten Mal eigenen, frischen Gedanken Einlass in sein Bewusstsein gestattet. Der Kopf des Einzelnen ist zweifellos der spannendste Ort im totalitären System. Boye gelingt es, ein Abbild des möglichen Denkens und Fühlens im nationalsozialistischen Deutschland und im Stalinismus zu schaffen. Beide Systeme kannte sie aus eigener Anschauung. Und doch fehlte es für meinen Geschmack an einer pointierten Darstellung. Einige der Figuren wagen es, über die Fehler des Systems zu sprechen, doch bleibt dies immer seltsam nebulös, geschieht nie in griffigen Worten. Insbesondere beim Scharfprozess gegen Kalls Kollegen Rissen hat Boye aus meiner Sicht die Gelegenheit verpasst „einen Punkt zu machen“. Vielleicht war dieses Verweilen im Unscharfen auch nötig, um das Manuskript durch die selbstauferlegte Zensur des nicht besetzten Schwedens der 40er Jahre zu schleusen. Etwas besser gelingt Boye der Drahtseilakt bei Lindas Reflexion über ihre Rolle als Frau, Mutter und Mitsoldatin – für mich die stärksten Worte im Roman. Kallocain verdient sicher seinen Platz in der Reihe klassischer Dystopien/Romane mit dystopischen Elementen. In seiner Mahnwirkung reicht es für mich an „Brave New World“ und „1984“ aber nicht heran.

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„Die Kollektivität steht bereit, das letzte Gebiet zu erobern, auf dem asoziale Tendenzen bislang noch Zuflucht suchen konnten. Wenn mich nicht alles täuscht, heißt das schlicht, dass die große Gemeinschaft kurz vor ihrer Vollendung steht.“ Was wäre, wenn selbst Gedanken überwachbar wären und der Staat dies gnadenlos ausnutzt, nicht nur um Verbrecher aufzuspüren, sondern um jegliches Andersdenken auszuschalten? Die Reihe an Zukunftsdystopien ist lang. Sie reicht von Aldous Huxleys Brave New World (1932) über George Orwells 1984 (1949) bis hin zu Ray Bradburys Fahrenheit 451 (1953), doch keine von ihnen schafft eine solch beängstigende totalitäre Kontrolle und Überwachung wie Karin Boyes Kallocain. Der erstmals 1940 erschienene Roman entwirft eine düstere Welt mit einer auf Misstrauen gegründeten Gesellschaft, in der das Individuum keinen Wert besitzt und nur eine winzige ‚Zelle‘ im gewaltigen Staatsapparat ist, den es selbst nicht zu durchschauen vermag. Nach seinem Erscheinen wurde der Roman von der Kritik als Meisterwerk gefeiert, doch heute ist er im Vergleich zu Orwells oder Huxleys Werken in Vergessenheit geraten. Dabei hat er nichts an Aktualität eingebüßt und ist angesichts der immer weiter voranschreitenden Wissenschaft umso erschreckender. Kallocain ist jetzt bei Btb in einer Neuausgabe mit einem Nachwort zum biografischen und geschichtlichen Kontext der Autorin erschienen. In der Zukunft, in der wir uns befinden, ist die Welt unter zwei Supermächten aufgeteilt: dem Weltstaat einerseits und dem Universalstaat andererseits. Ersterer ist wesentlicher Schauplatz der Handlung. Er ist totalitär und militärisch organisiert, d.h. jeder ‚Mitsoldat‘, wie die Mitbürger hier genannt werden, muss neben seiner normalen Arbeit Militär-und Polizeidienst leisten, der hauptsächlich aus Überwachung der Mitmenschen besteht. Die Kontrolle endet jedoch nicht an der Haustür sondern dringt sogar bis ins eheliche Schlafzimmer vor, da alle Räume der standardisierten Wohnungen mit Mikrofonen ausgestatten sind. Überhaupt ist hier alles standardisiert und genormt: das Essen, die Kleidung und selbst die Arbeit. Niemand soll hier auf den Gedanken kommen, mehr als nur ein Rädchen im Getriebe des Staates zu sein. Jeder ist austauschbar. Besonders beeindruckend vermittelt Boye dies über das Konzept des freiwilligen Opferdienstes, bei dem Menschen sich aufgrund ihrer scheinbar marginalen Rolle aus freien Stücken dazu entschließen, an sich Experimente mit ungewissem Ausgang durchführen zu lassen. Wie es bei Dystopien oft der Fall ist, wird hier nicht aus bloßer Fantasie eine Zukunftsvision entworfen, sondern es werden zugleich aktuelle Entwicklungen gespiegelt. Auch Boyes Werk wird zur Gesellschaftskritik und es lassen sich zwei totalitäre Systeme ausmachen, die ihr als Vorbild dienten: die stalinistische Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutschland. Sprachlich brillant zeigt Boye, wie Unterdrückung auf der Basis von Sprache funktioniert. Der Befehlston, das durch Militärbegriffe geprägte Vokabular und die teilweise hetzerischen Reden von Höhergestellten könnten durchaus dem nationalsozialistischen Regime entstammen. „Aus Gedanken und Gefühlen entstehen Worte und Taten. Wie sollen Gedanken und Gefühle denn die Sache des Einzelnen sein können? Gehört nicht der ganze Mitsoldat dem Staat? Wem sollen seine Gedanken und Gefühle gehören, wenn nicht dem Staat? Bisher ist es nur nicht möglich gewesen, sie zu kontrollieren – aber nun ist, wie gesagt, das Mittel dazu entdeckt worden.“ Leo Kall, Chemiker und treuer Untergebener, entwickelt Kallocain, ein unfehlbares Wahrheitsserum, das jeden Menschen seine intimsten Gedanken offenbaren lässt. Im Überwachungsstaat ist eine solche Erfindung unbezahlbar und die Regierung beginnt unverzüglich, mithilfe des Serums Staatsverräter aufzuspüren. Schon bald jedoch gerät die Entdeckung außer Kontrolle und unter den Menschen verbreiten sich Angst und Schrecken. Jeder kann nun zur Polizei gehen und gegen beliebige Mitsoldaten Anzeige wegen Hochverrats erstatten, denn wie sich herausstellt, hat beinahe jedes Mitglied der Gesellschaft regimekritische Gedanken. Auch Kall selbst muss einsehen, dass er Gefühle hat, die im Weltstaat unerwünscht sind: Sehnsucht zum Beispiel nach seinem kleinen Sohn, der – wie in dieser Gesellschaft üblich – in einem Kinderlager lebt oder Eifersucht, weil er vermutet, seine Frau könnte eine Affäre haben. Diese Empfindungen machen Kall im durch unterkühlte Gespräche geprägten Weltstaat zu einer sympathischen Figur. Im Verlauf wird immer mehr deutlich: Universell menschliche Bedürfnisse nach Liebe, Wärme und Nähe lassen sich nicht unterdrücken oder kontrollieren. Kollocain wäre vielleicht eine Möglichkeit gewesen, genau dies zu beweisen, Gefühle und Individualität zu legitimieren und die totalitären Verhältnisse aufzulösen, doch das Misstrauen sitzt zu tief. Das Serum wird nur noch dazu verwendet, unliebsame Mitsoldaten diskret aus dem Weg zu schaffen. Kall kommt über den Nuten seiner Entdeckung ins Grübeln, doch dafür scheint es inzwischen zu spät zu sein… Der Roman ist auf eine doppelte Weise beängstigend und fast schon real: Zum einen ist da die totale Überwachung, nicht nur durch Mitmenschen, sondern besonders auch durch Technik wie Mikrofone und Kameras. In Zeiten von Big Data und der Diskussion um Datensicherheit ist Boyes Dystopie in Teilen sicher schon real geworden. Und genau wie die Menschen in ihrem Roman nehmen wir die Dinge einfach hin. Wir sind uns der Zustände bewusst und prangern die Speicherung unserer Daten und deren Weiterverwertung an, doch das hält uns trotzdem nicht davon ab, weiterhin Onlineshopping zu betreiben oder intimste Dinge in sozialen Netzwerken zu posten. Nach der Lektüre fragt man sich, wie frei die Welt in der wir heute leben wirklich ist und besonders wie frei man selbst darin noch ist. Beängstigend wird Kollocain zum Anderen auch durch das Hervorkehren der Tatsache, dass es in der Wissenschaft keinen Weg zurück gibt. Der ‚piont of no return‘ war bereits bei der Entwicklung des Wahrheitsserums überschritten und Kall hat, nachdem er das Mittel an die Regierung abgegeben hat, keinen Einfluss mehr über dessen Verwendung. Das wirft die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft auf. Wie weit darf man zum Beispiel bei der Genmanipulation gehen? Der Roman liefert einen entscheidenden Fakt, um diese Frage nach Ethik in der Wissenschaft zu beantworten: Man muss sie vor der Erfindung beantworten, denn danach gibt es kein Zurück mehr… Kallocain – eine reale und beängstigende, aber dennoch beeindruckende Dystopie, die unbedingt in einem Satz mit George Orwells 1984 und Aldous Huxleys Brave New World genannt werden muss.

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Kallocain ist eine klassische Dystopie und braucht den Vergleich mit „1984“ und „Schöne neue Welt“ nicht scheuen. Die Geschichte spielt in einem totalitären, militärisch organisierten Überwachungsstaat, der seine Bürger systematisch unterdrückt. Es gibt Kameras und Mikrofone in jeder Wohnung, das Sozialleben wird durch Arbeit, Polizei- und Militärdienst auf ein Minimum reduziert und auch untereinander herrscht großes Misstrauen. Jeder sieht in jedem einen potentiellen Verräter und Staatsfeind. Da trifft es sich gut, dass der Protagonist und Chemiker Leo Kall gerade an einem Wahrheitsserum arbeitet, das die Zunge lockert und demnach jedem Menschen auch noch die geheimsten Gedanken und Gefühle entlockt. Der Weltstaat hat natürlich großes Interesse an diesem Mittel und auch Leo Kall sieht nur den Nutzen für die Ordnung, bis er Kallocain an den ersten Probanden testet… Mein Eindruck: Ich bin ein großer Fan klassischer Dystopien und daher froh, dass ich mit Kallocain einen weiteren Titel aus diesem Genre entdecken durfte. Außerdem ist dieser Vertreter von einer Frau geschrieben und ich hoffe, dass er nicht deshalb weniger bekannt ist. Aufbau und Verlauf der Geschichte entsprechen dem klassischen Schema. Die Autorin zeigt die negativen Veränderungen der Gesellschaft und des Zwischenmenschlichen durch totale Überwachung und ständiges Misstrauen. Die Menschen sind kalt, vorsichtig und distanziert, selbst zwischen Eltern und Kind kann durch räumliche und zeitliche Trennung keine tiefe Beziehung aufgebaut werden, denn letztlich würde ein jeder seinen Nachbarn, Partner oder Verwandten anschwärzen, wenn sich der Verdacht auf Verrat verhärtet. Diese beklemmende Atmosphäre verdichtet sich im Verlauf der Geschichte, denn es gibt keinen Ausweg aus dem System, wenn man niemandem trauen kann. Die Staatstreue findet ihren traurigen Höhepunkt in der Institution des freiwilligen Opferdienstes aus dessen Personenkreis Leo Kall seine ersten Probanden erhält. Diese Gesellschaft mit all ihren geheimen Wünschen und Gedanken sorgte für einige gruselige und tieftraurige Szenen, die mir in ihrer Kritik sehr gut gefielen. Die wohlformulierte Sprache von Karin Boye gefiel mir dabei sehr. Fazit: Eine klassische Dystopie, die in ihrer Botschaft nichts an Aktualität verloren hat und sehr deutlich zeigt wie eine Gesellschaft aussieht in der es weder Mitgefühl noch Geborgenheit gibt. Es steht nun völlig zurecht neben „1984“, „Schöne neue Welt“ und „Fahrenheit 451“ in meinem Regal.

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Ich liebe jede Art von Dystopien, denn sie bieten eine spannende Abwechslung von Romanen und Thrillern. Die Handlungen sind komplett fiktiv, aber nicht unmöglich. Oft spiele ich beim lesen mit der Frage "Was wäre wenn?". In der Regel wollen Autoren von Dystopien mit Hilfe ihrer Geschichte vor einer negativen Entwicklung in der Gegenwart und vor deren Folgen warnen, so ist es auch hier bei Kallocain. Man muss hier den Entstehungszeitraum beachten, denn die Dystopie ist nicht neu, sondern wurde bereits 1940 in Schweden veröffentlicht. Leider war Kallocain das letzte Werk der Autorin, denn ein Jahr später begang sie Suizid. Das ist schrecklich, keine Frage, hat aber meinen Wunsch, dieses Buch zu lesen, noch mehr angeheizt. Das Szenario in Kallocain ist das oft in Dystopien verwendete. Der Protagonist lebt in einem totalitären Überwachungsstaat, in dem Leo als Chemiker arbeitet. Er hat ein Mittel erforscht, dass die Menschen dazu bringt, lockerer zu reden. Der Staat bekommt zu Zugang zu Aussagen, die Menschen ohne Kallocain vielleicht nicht geäußert hätten. Jeder Wohnung ist mir Kameras und Mikrophonen bestückt, sodass der Staat die Menschen ausspioniert. Irgendwann merkt Leo, dass viele Menschen sich kritisch zur Staatsform äußern und auch er kommt ins Grübeln, ob das alles so richtig ist, was da vor sich geht. Die Atmosphäre in Kallocain ist mega krass und für mich unvorstellbar. Durch die krasse Überwachung sind keine normalen Gespräche möglich und auch zwischenmenschliche und intime Beziehungen leiden natürlich sehr darunter. Aber anstatt dass die Menschen zusammenhalten, würden sie sich jederzeit gegenseitig ans Messer liefern, was mich sehr erschreckt hat. Würde man zusammenhalten, wäre vielleicht auch der Umgang mit der Staatsform leichter, weil man sich zumindest auf seine Leute verlassen könnte. Doch vertrauensvolle Beziehungen gibt es nicht, noch nicht einmal in der engsten Familie/Beziehung. Der Schreibstil von Karin Boyne ist unglaublich gut und nicht, wie man ihn bei einer Dystopie erwartet. Sie schreibt flüssig und sehr unterhaltsam, was das Geschichte von Kallocain nicht weniger düster, aber zumindest gut verständlich dastehen lässt. Fazit: Für Dystopie-Fans eine klare Leseempfehlung.

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Der Chemiker Leo Kall blickt zurück auf die Zeit vor seiner Verhaftung und will nun endlich nach unzähligen Jahren berichten, was damals geschah. In der Chemiestadt Nr. 4 arbeitete er in einem Labor und es gelang ihm ein sagenhaftes Medikament zu erfinden, das seinen Namen tragen sollte: Kallocain. Die Wahrheitsdroge führte dazu, dass die Versuchspersonen ihre Geheimnisse preisgaben und dem totalitären Staat ihre intimsten Gedanken verrieten. Schnell wird man auf ihn aufmerksam und lädt in gemeinsam mit seinem Vorgesetzten in die Hauptstadt ein, um der Staatsführung sein Experiment vorzuführen. Doch all der Erfolg kann Leo Kall nicht vor seinen Ängsten und Unsicherheiten schützen. Sein ganzes Leben lang wird er von Alpträumen geplagt und die für ihn nach all den Ehejahren immer noch offene Frage, ob ihn seine Frau Linda überhaupt jemals geliebt hat, lässt ihn eine Entscheidung mit schwerwiegenden Folgen treffen. Karin Boyes Roman aus dem Jahre 1940 gilt als eines der wichtigsten schwedischen Romane des 20. Jahrhunderts. Ihr letztes Werk, bevor sie sich das Leben nahm, blickt in eine düstere Zukunft und ist stark beeinflusst von den Zeichen der Zeit. Die deutschen Vorfahren der Autorin haben sie immer wieder gen Süden blicken und beobachten lassen, was sich dort in den 1930er Jahren abspielte und wohin sich die Welt bewegte. Leo Kall lebt im sogenannten Weltstaat, der mit seiner Überwachung und starren Struktur sowohl an die Ideen Hitlers anknüpfte wie auch an die stalinistische Sowjetunion erinnert. Ersteres kommt vor allem auch in der nur am Rande angerissenen Rassentheorie zum Ausdruck, der zufolge die Menschen im Weltstaat sich genetisch stark von jenen im verfeindeten Universaalstaat unterscheiden. Das Leben wird von Geburt an vom Staat bestimmt und gelenkt und spielt sich weitgehen unter der Erde ab, es bedarf einer Sondergenehmigung, um an die Oberfläche zu kommen. Die Gesellschaft ist stark kommunistisch ohne große Hierarchien geprägt, gleichzeitig durchdringt sie aber auch eine militärische Struktur, die sich beispielsweise in der Anrede als „Mitsoldat“ niederschlägt. Interessant ist einerseits natürlich Kalls Erfindung namens „Kallocain“, die Wahrheitsdroge, die staatsfeindliche Gedanken aufdeckt und somit eine schnelle Reaktion auf konterrevolutionäre Strömungen erlaubt. Viel spannender fand ich jedoch den Charakter Kalls selbst, der fortwährend von Unsicherheit und Zweifel geplagt wird, der gefallen will und doch beinahe durchgängig starken Ängsten ausgeliefert ist. Letztlich ist das Gefängnis für ihn ein Ort der Befreiung, denn er ist die ihn beängstigende Freiheit im Staat losgeworden und die engen Mauern bieten ihm den Schutz vor sich selbst und seinen Gedanken, den er zuvor schmerzlich vermisst hat. Boyes Roman steht in einer Reihe mit Dystopien wie „Schöne neue Welt“ oder „1984“, die in dieselbe Entstehungszeit fallen. Gerade weil Roman und Autorin einen starken Bezug zu Deutschland haben, ist mir unverständlich, weshalb er nicht weitaus bekannter bei uns ist. Vielleicht mag die Neuübersetzung daran etwas zu ändern, in der aktuellen Zeit kann es gar nicht genug erfolgreiche Literatur, die die Folgen extremer politischer Entwicklungen aufzeigt, geben.

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Klassische, leider wenig bekannte Dystopie

Von: S. Gonser aus Köln

14.07.2018

Ich freue mich sehr, Kallocain als Wiederveröffentlichung zu sehen. Ich habe das Buch selbst vor etwa zehn Jahren gebraucht gekauft und gelesen. Der nüchterne Erzählstil wirkt sehr souverän und stellt den Roman auf eine Stufe mit Huxley oder Orwell. Inhaltlich ist das Buch klar im Kontext seiner Entstehungszeit einzuordnen (1940), jedoch ist auch diese Warnung einer totalitären Zukunft nicht ohne aktuellen Bezug.

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