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Rezensionen zu
Das Zimmer der Wunder

Julien Sandrel

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Realitätsnähe ist nicht unbedingt das hervorstechende Merkmal des mir vorliegenden Titels „Das Zimmer der Wunder“. Die Idee des Buches ist allerdings hervorragend: An einem ganz banalen Samstagmorgen auf dem Weg zum gemeinsamen Frühstück mit der Großmutter fährt der 12-jährige Pariser Louis seiner zu Fuß gehenden Mutter auf seinem Skateboard voraus. In einem Affenzahn schlängelt er sich durch die Menschen auf dem Trottoir. An einer Kreuzung zischt er über die Straße, übersieht einen heranfahrenden LKW und wird von ihm erfasst. Louis überlebt, er kommt ins Krankenhaus, muss aber ins künstliche Koma versetzt werden. Nach 9 Tagen werden die Medikamente abgesetzt, um ihn aufzuwecken – doch er wacht nicht auf und die Hirnaktivitäten sind nicht regelmäßig. Die Ärzte schlagen einen Zeitraum von 4 Wochen vor, in dem abgewartet werden soll, in dem Louis künstlich am Leben erhalten wird – in dem aber auch überlegt werden muss, was passiert, wenn Louis nicht wieder aufwacht. Als die alleinerziehende Mutter Thelma, erschöpft von all dem Wahnsinn, nach Hause zurückkehrt, um sich mal auszuschlafen, sucht sie in dem Zimmer ihres Sohnes nach etwas, was ihr Mut machen könnte. Sie stößt dabei auf ein kleines Heft, das ihr Sohn als „Mein Heft der Wunder“ betitelt hat. Sie beginnt zu lesen und kann es kaum glauben, was sie da sieht: Louis hat einen Katalog mit Dingen angelegt, die er in seinem Leben einmal gemacht haben möchte, bevor er stirbt. Und so entsteht langsam, aber sicher eine Idee in Thelmas Kopf, die verrückter und liebevoller nicht sein könnte: Sie beschließt, all die Dinge für ihren Sohn zu machen, das zu dokumentieren, ihm davon zu erzählen, was er in seinem planmäßig langen Leben vor seinem Tod machen wollte, damit er angesichts dieser Lebensfülle, die da draußen auf ihn wartet, alle verfügbaren Kräfte mobilisieren kann, um wieder aufzuwachen. Großartige Idee! Weniger großartig finde ich allerdings die Umsetzung. Ich weiß, jeder hat eine andere Art zu trauern und eine andere Art, mit Stresssituationen umzugehen, aber ich habe sehr, sehr lange in mich hineingehorcht und kann einfach nicht glauben, dass es eine alleinerziehende Mutter gibt, die tatsächlich nach Japan aufbricht, während ihr Sohn in Europa im Wachkoma liegt. Halt! Doch, das kann ich mir sogar noch vorstellen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dann kichernd mit ihrer Mutter (also Louis‘ Großmutter), die – ohne es mit Thelma abzusprechen – ebenfalls nach Japan gereist ist, um ihre Tochter zu unterstützen, einen spaßigen Abend verbringt. Dass man in Trauer- und Ausnahmesituationen dennoch Freude empfinden kann, auch lachen kann, das weiß ich, aber ich habe erlebt, dass die Trauer alles andere doch überschattet, dämpft, mildert. Und dass nach jedem Lachen umso stärker die Trauer zurückkommt, vielleicht sogar noch gepaart mit einem schlechten Gewissen, weil man ja eigentlich traurig ist und gar nicht fröhlich … Beispiel für den mir unpassend erscheinenden Stil: An einer riesigen Kreuzung in Tokio, bei der die Fußgänger auch quer über die Straße laufen können, haben die beiden Damen einen lustigen Einfall. „Bei drei schließen wir die Augen.“ „Du machst Witze. Willst du, das ich hier sterbe, oder was?“ „Bei drei schließen wir die Augen, Mama.“ „Jesus, Maria und Josef, was habe ich dem Gütigen nur getan …“ „Mama, tu nicht so, als hättest du jemals an Gott geglaubt!“ „Das erklärt vielleicht einiges.“ Wir feixten, bis ich rief: „Eins, zwei, drei, Augen zu!“ Die Ampel schaltete auf Grün, wir marschierten los, die Augen geschlossen. Meine Mutter kreischte jedes Mal, wenn jemand sie streifte, und ich musste die ganze Zeit vor Aufregung kichern.“ Mhhh …. ganz ehrlich: NEIN! Das sehe ich nicht vor meinem geistigen Auge! Das (Enkel-) Kind legt zu Hause im Krankenhaus an Maschinen angeschlossen und es steht 50:50, ob es wieder aufwacht. Es fällt mir schon schwer, zu glauben, dass ein Mutter-Oma-Gespann da nach Asien aufbricht (zumal allein erziehend). Aber selbst wenn man das täte, würde ich nicht glauben wollen, dass man dann so banal-albern rumblödeln würde vor besagtem Hintergrund. Ich kann mir vorstellen, dass ich Dinge vor Ort machen würde für mein Kind, sodass ich morgens am Bett sitzen könnte, nachmittags einen Wunsch abarbeiten und abends wieder am Bett sitzen würde. Ich würde Menschen organisieren, die sich in der „Bettwache“ abwechseln, solange ich tagsüber weg wäre. Ich bäte andere Leute darum, die Wünsche abzuarbeiten, wenn es für mich zu schwer wäre, sie umzusetzen. Denn: Was ist denn, wenn das Kind NICHT mehr aufwacht? Dann sitze ich da mit dem Wissen, dass ich all die Wünsche ohne das Kind erlebt habe, während mein Kind alleine im Krankenhaus gewesen und am Ende gestorben ist. Die Verzweiflung würde mich packen, dass ich die restliche Zeit, die ich noch gehabt hätte mit meinem Kind, vertan habe mit Ausflügen. Mit Ausflügen, die mir vielleicht im NACHHINEIN helfen könnten, den Tod zu verkraften, mich dem Kind nochmals näher zu fühlen an all diesen Sehnsuchtsorten. Nein, das ist für mich keine realistische Option. Ich sag es ganz ehrlich, wie es für mich ankommt: Das ist ein Roman, geschrieben in der Hoffnung (vielleicht auch bereits in dem Wissen), dass dieser Text einmal verfilmt werden wird. Das sind Szenen, die sich, emotional stark aufgeladen, bestens filmisch umsetzen lassen. Besonders schräg finde ich die eingeschobenen, kursiv gesetzten Kapitel, die (Achtung!) Louis aus dem Koma heraus erzählen lassen, auf lustig-flapsige Weise, wie wir das wohl alle täten, könnten wir uns aus dem Wachkoma heraus artikulieren, wie er das alles so findet und erlebt. Und natürlich findet er es toll, was die Mama da so macht und er lacht sich innerlich scheckig. Ganz ehrlich: Ich hatte einen Kollegen, dessen Tochter nach einem Fieberkrampf ins Wachkoma fiel und nie wieder aufwachte. Die Ehe ging darüber zugrunde, ihn selbst hat das psychisch extrem fertig gemacht und ich habe ihn vor allem als extrem angespannt in Erinnerung, denn er musste sich permanent mit hanebüchenen Formalitäten herumschlagen, Telefonate mit der Krankenkasse führen, die wir bei der Arbeit leider mithören mussten und die uns die Tränen vor Wut über die Sch…bürokratie in die Augen trieben. Ich glaube nicht, dass er diesem Buch etwas abgewinnen könnte. Das Buch hat gute Ansätze, doch allzu viel versinkt im Kitsch: Natürlich kündigt die Mutter den gutbezahlten Job und bekommt eine satte Abfindung. Sie nähert sich ihrer Mutter wieder an und ja, auch das Herz findet ein Gegenüber, das es höher schlagen lässt. Spannend bleibt alleine, ob Louis es am Ende schafft, sich zurückzukämpfen ins Leben oder ob er stirbt … Vor Jahren habe ich im Urlaub aus einem „Bücherschrank“ auf Norderney ein Buch über ein ähnliches Thema herausgefischt von Hera Lind, die ich sonst gar nicht gerne lese. „Der Mann, der wirklich liebte“ ist ein Roman, der auf einer wahren Geschichte beruht, bei der eine Frau im Wachkoma ihren Sohn auf die Welt bringt und sogar wieder aufwacht (leider hat die Geschichte dennoch kein gutes Ende). Natürlich ist auch dieses Buch kein neutrales Sachbuch, kein Bericht, sondern ein Roman, der ans Herz gehen will, der verklärt und kitschig ist. Aber er hat mich angerührt und in keinem Moment hatte ich das Gefühl, dass das Erzählte allzu weit von der Realität abrückt. Das „Zimmer der Wunder“ jedoch hat mich von Anfang an auf Abstand gehalten, ich wurde nicht gefesselt von der Story. Ich bemerkte, wie ich ständig überprüfte, ob ich auch nur annähernd nachvollziehen kann, was der Autor da zum Besten gibt. Und ich konnte es nicht nachvollziehen. Auf der Schulnotenskala würde es meines Erachtens also bestenfalls zu einer 4 reichen, da die Geschichte immerhin flüssig und gut lesbar verfasst wurde, für die Umsetzung der an sich guten Idee würde jedoch wohl kaum ein Lehrer eine gute Note geben … Schade! Chance vertan.

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