Sie haben sich erfolgreich zum "Mein Buchentdecker"-Bereich angemeldet, aber Ihre Anmeldung noch nicht bestätigt. Bitte beachten Sie, dass der E-Mail-Versand bis zu 10 Minuten in Anspruch nehmen kann. Trotzdem keine E-Mail von uns erhalten? Klicken Sie hier, um sich erneut eine E-Mail zusenden zu lassen.

Rezensionen zu
Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß

Manja Präkels

(2)
(1)
(0)
(0)
(0)
€ 12,00 [D] inkl. MwSt. | € 12,40 [A] | CHF 17,50* (* empf. VK-Preis)

Ein beängstigendes Buch über Nazis in Ostdeutschland

Von: Dagmar Mägdefrau aus Essen

23.07.2020

Mimi wird in der DDR groß, in einer Kleinstadt in Brandenburg. Sie erzählt uns von ihrer Schule und ihrem Freund Oliver, mit dem sie am Nachmittag angeln geht. Mimis Mutter ist Lehrerin und eine überzeugte Kommunistin. Mimis Vater ist eigentlich Verkäufer, aber aufgrund seiner Krankheit meist zu Hause. Mimis Oma stellt Mimi ein Zimmer in ihrer Wohnung zur Verfügung, als der kleine Bruder geboren wird. Mimi beschreibt keine Idylle, es wird viel getrunken, so kommt es auch, dass sie mit Oliver, der sich später Hitler nennt, die Schnapskirschen isst. Erstaunt war ich über die Brutalität, die hier schon an der Tagesordnung war. Da wurden in bestimmten Straßen, Kinder wie Mimi mit Flaschen beworfen. Erst auf Seite 80 tritt Honecker endlich zurück und die Situation in der Stadt wird dadurch nicht entspannter. Umgehend bilden sich Nazigruppen, die Zecken, wie Mimi jagen. Erstaunlich, wie schnell diese Glatzen das Bild der Stadt prägen. Allen voran Oliver, jetzt Hitler. In dem Buch wird viel geraucht und gesoffen, später kommen auch andere Drogen dazu. Hitler ist da ganz groß im Geschäft. Mimi distanziert sich zunächst auch äußerlich, färbt sich die Haare und entwickelt einen anderen Musikgeschmack. Später versucht sie sich zu verstecken, gleicht sich äußerlich an und zieht nach Berlin, sie hat Angst ihren kranken Vater zu besuchen, weil es in ihrem Freundeskreis immer wieder zu Überfällen der Nazis kommt. Das Buch macht Angst, natürlich hat man zunächst Angst um Mimi und ihre Freunde, aber die ganze Situation beängstigt mich. Wie können junge Leute in den 1990 Jahren einfach solche Gewalt ausüben und sich als Nazis bezeichnen? Angesichts der Vorfälle in Chemnitz oder Halle befürchte ich nach dieser Lektüre, dass es viel mehr Nazis gibt, als ich für möglich gehalten habe. Besonders die Gewaltbereitschaft dieser jungen Menschen entsetzt mich. Mimi musste um ihr Leben fürchten und ich fürchte mich mit ihr um unser Land. Ein wichtiges Buch, wenn mir das Lesen auch an manchen Stellen die Luft nahm und ich die Angst spüren konnte.

Lesen Sie weiter

Für viele sind die 90er Jahre vor allem mit dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft in Italien verbunden, mit Elektropop, der Einführung des Privatfernsehens, MTV und Akte X. Wer etwas politischer war, verbindet noch den Golfkrieg und den Bürgerkriegen in Jugoslawien mit den 90ern. Die traurige Galavariante der 90er ist dann der Tod von Lady Diana. Was viele aber nicht mehr so ohne weiteres erinnern, ist Rostock Lichtenhagen, Hoyerswerda oder Greifswald. Die rechtsextreme Gewalt der 90er Jahre spielt im kollektiven Gedächtnis kaum noch eine Rolle, dabei waren es die schwersten Ausschreitungen und Pogrome seit dem Zweiten Weltkrieg. Manja Präkels autobiografischer Roman nimmt sich dieser gesellschaftlichen Amnesie an. Wer verstehen möchte, wie es zum gegenwärtigen Rechtspopulismus, zur Faschisierung weiter Gesellschaftsschichten kommt, der muss „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ lesen! Gewaltkultur und Chauvinismus Mimi, Präkels Alter Ego, wächst in einem Dorf in Brandenburg auf und erlebt als Heranwachsende die letzten Jahre der DDR, den Mauerfall und das Wiedervereinigte Deutschland. Dabei lebt Mimi in einer naiv-infantilen ideologielosen Kindheit. Ganz wie Stephan Wackwitz einst formulierte: „Jedes Kind hat das Recht auf eine geschichtslose Kindheit“. So lebt auch Mimi ohne großes Nachdenken in den Tag hinein und nimmt als Gegeben, was eben Gegeben ist. Sie macht, was man halt so macht. Sie strengt sich an ein gutes Kind zu sein, ein guter Pionier. Sie spielt mit den Nachbarskindern und probiert sich in kindlichen Revolten beim Schnapskirschen essen. Alles ist mehr oder weniger eine normale Kindheit. Bis von einem Tag auf den anderen plötzlich alles anders ist. Der antifaschistische Staat ist Geschichte. Und während Mimi pars-pro-toto ihre Biografie mühsam neu ordnen muss, greifen andere zu schnelleren Lösungen. Der Nachbarsjunge Oliver schließt sich den rebellierenden Neonazis an – Kampfname Hitler. Und es gibt viele Olivers. In den 90ern bildeten rechte Skinheads, Neonazis und andere Rechtsextremisten Teil eine eigene Jugendkultur. Angefeuert durch das Wiedervereinigte große Deutschland, den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft und den Fahnen schwingenden und ‚Deutschland, Deutschland‘ grölenden Massen, dominierten Rechtsradikale im Westen und noch mehr im Osten das Straßenbild. Gewaltkultur und nationaler Chauvinismus reichten sich die Hand. Und mitten drin Mimi und ihre linke oder eher alternative Subkultur. Was eskalieren muss, das eskaliert. Das weiße Band Zwischen Hanekes Film Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte und Präkels Roman gibt es mehrere Parallelen. Der deutsche Osten, die ländlichen Regionen, die Kinder und Jugendlichen in einer sich verändernden Welt und der erwachende Faschismus. Kein Film hat die be- und erdrückende ländliche, verklärte Idylle des frühen 20. Jahrhunderts so verdeutlicht wie „Das weiße Band“. Und Präkels Buch schafft eine ähnliche Atmosphäre. Eine dichte, literarisch wertvolle Beschreibung des erdrückenden Lebens der Wendejahre mit ihren Entbehrungen und der ideologischen Lücke. „Ideologie ist eine verabsolutierte Idee. Überall, wo es Unterdrückung, Demütigung, Unglück und Leid gibt, ist der Boden bereitet für jede Art von Ideologie. Deshalb ist ‚Das weiße Band‘ auch nicht als Film über den deutschen Faschismus zu verstehen. Es geht um ein gesellschaftliches Klima, das den Radikalismus ermöglicht. Das ist die Grundidee.“ Michael Haneke Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß, zeichnet ebenso dieses düstere Bild eines Gesellschaftlichen Klimas der Radikalisierung. Der Roman ist gar nicht hoch genug zu bewerten. Wer Manja Präkels Geschichte lediglich als Wenderoman liest, verkennt den Wert fundamental. Der Roman vermag weitaus mehr über die gegenwärtige Radikalisierung der Wutbürger erklären, als es noch so viele Talkshows jemals erreichen können. Man kann den heutigen Rassismus nicht ohne die rechtsradikale Wende in den 1990er Jahren verstehen. Die damaligen Teenager und Twens sind die heutigen Vierziger und Fünfziger, die unzufriedene Mittelschicht, die sich wieder dem Rechtsextremismus zuwenden. Die Midlife Crisis der Rechten wird zum Krisentest der deutschen Demokratie. Früher stand zwischen Störkraft und den Onkelz noch eine Kuschelrock CD. Heute stehen da Sarrazin, Pirinçci und Palmer.

Lesen Sie weiter

Wir stellen nicht sicher, dass Rezensent*innen, welche unsere Produkte auf dieser Website bewerten, unsere Produkte auch tatsächlich gekauft/gelesen haben.