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Rezensionen zu
Dorfroman

Christoph Peters

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Inhalt: Hülkendonck am Niederrhein in den 1970er Jahren. In der Nähe des Dorfes soll ein Kernreaktor neuen Typs gebaut werden: ein sogenannter Schneller Brüter. Das Projekt ist umstritten – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Dorfes; es beginnt, die Dorfgemeinschaft zu spalten. Während sich die einen Arbeitsplätze und eine Modernisierung des Ortskerns erhoffen, sorgen sich die anderen vor unkalkulierbaren Folgen für Natur und Mensch – mittendrin der Ich-Erzähler, der im Schatten der Brüter-Baustelle aufwächst. Zum Hintergrund der Handlung: „Dorfroman“ von Christoph Peters ist ein Gegenwartsroman, der sich mit dem Bau des Kernkraftwerks Kalkar am Niederrhein auseinandersetzt. Der „Schnelle Brüter“ wurde zwischen 1973 und 1985 gebaut, ist aber nie in Betrieb gegangen. Seit Ende der 1970er Jahre kam es verstärkt zu Protesten und Kundgebungen gegen das Kernkraftwerk, sodass sich Fertigstellung und Inbetriebnahme immer weiter hinauszögerten. Letztlich distanzierte sich auch die Landesregierung immer weiter von dem Projekt (u.a. aufgrund der Proteste und der Katastrophe von Tschernobyl), sodass es 1991 stillgelegt wurde. Kurze Zeit später kaufte ein Unternehmer das Areal und richtete dort einen Freizeitpark ein (deshalb das alpine Panorama auf dem Kühlturm). Persönliche Meinung: Hülkendonck, das Dorf, in dem „Dorfroman“ von Christoph Peters spielt, ist fiktiv, doch sein reales Vorbild lässt sich mithilfe des zeitgeschichtlichen Kontextes leicht identifizieren: Hinter Hülkendonck verbirgt sich Hönnepel, ein Ortsteil von Kalkar, in dessen Nähe das Kernkraftwerk gebaut wurde. Es ist zugleich der Ort, in dem Peters aufwuchs, weshalb sich auch autobiographische Züge in „Dorfroman“ finden. Erzählt wird der Roman von einem namenlosen Ich-Erzähler auf drei Zeitebenen, die miteinander verschränkt sind. Eine Zeitebene spielt in Hülkendonck in den 1970er Jahre; der Ich-Erzähler ist im Grundschulalter, der Bau des Schnellen Brüters beginnt. Peters zeichnet mit dieser Zeitebene ein treffendes und detailliertes Sittengemälde des dörflichen Mikrokosmos am Niederrhein. Die Großstadt ist weit entfernt, man ist bäuerlich geprägt, katholisch und konservativ. Sonntags geht’s in die Kirche, danach – für die Männer – zum Frühschoppen in die Kneipe. Neuem steht man erstmal skeptisch gegenüber. Denn: Es durchbricht den gewohnten Gang der Dinge, der sich über Generationen hinweg eingespielt hat. In diesem Milieu entfaltet sich der Konflikt um das Kernkraftwerk. Der Vater des Ich-Erzählers setzt sich für das Kraftwerk ein, dementsprechend glaubt auch der kindliche Ich-Erzähler, es sei richtig und wichtig, dass es gebaut wird. Die zweite Zeitebene spielt Ende der 1970er/Anfang der 1980er-Jahre. Die Protestaktionen gegen das Kraftwerk nehmen zu, der Riss durch das Dorf hat sich manifestiert. Der Ich-Erzähler ist mittlerweile 16 Jahre alt. Dieser Zeitabschnitt ist geprägt von einer schönen Coming-of-Age-Handlung. Der Ich-Erzähler verliebt sich in eine Protestierende, die sich mit anderen Protestierenden im Melkstall eines Bauern einquartiert hat und von dort aus Kundgebungen gegen den Schnellen Brüter plant (der reale Melkstall steht übrigens noch, verfällt aber immer mehr). Es kommt zu einem Generationenkonflikt: Der Ich-Erzähler beginnt zu hinterfragen, ob die Ansichten seines Vaters richtig sind, dieser sorgt sich vor einer Radikalisierung seines Sohnes, wodurch die Handlung spannungsgeladen wird. Im dritten Handlungsstrang, der in der Gegenwart spielt, haben sich die Problemfelder des Ich-Erzählers verlagert. Das Kernkraftwerk ist (mehr oder weniger) Geschichte, der Freizeitpark hat das Areal bezogen. Der Ich-Erzähler, mittlerweile in Berlin wohnhaft, besucht seine Eltern in Hülkendonck. Einfühlsam beschreibt Peters, wie der Ich-Erzähler den physischen und psychischen Verfall seiner Eltern beobachtet und sich fragt, wie es mit ihnen weitergehen soll. Das Kraftwerk rückt an die Peripherie. Peters Schreibstil ist in „Dorfroman“ eher schlicht, wenig ausschmückend aber mit deutlichen Worten und flüssig zu lesen, weshalb der Roman an Realitätsnähe gewinnt. Insgesamt ist „Dorfroman“ ein vielschichtiger Roman, der zwischen Coming-of-Age und Sittengemälde des Niederrheins changiert, dabei aber zugleich von dem Erwachen des ökologischen Bewusstseins der Bundesrepublik erzählt.

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Dorfroman

Von: LiteraturReich

28.02.2021

Dorfroman – im neuen Buch von Christoph Peters ist drin, was draufsteht. Und noch so viel mehr. Es ist nicht nur die hinreißende Geschichte einer Kindheit auf dem Land in den Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, sondern auch eine melancholische Liebesgeschichte im Schatten der Anti-AKW-Bewegung der Achtziger und ein nachdenklicher Versuch über das Vergehen der Zeit, die Veränderung der Welt und über Verantwortung. „Roman“ ist das Buch überschrieben, und tatsächlich gibt es leichte Verfremdungseffekte, so etwa bei den Ortsnamen, wo etwa das niederrheinische Kalkar mit altertümlichem C geschrieben wird. Auch den Heimatort des Protagonisten, Hülkendonck, findet man auf keiner Karte. Und doch ist es sehr einfach ihn als den Heimatort des Autors, Hönnepel, zu identifizieren. Die Kirche im Roman nennt sich Verafredis, in Hönnepel heißt sie Regenfledis. Es ist also ganz eindeutig, dass Christoph Peters im Dorfroman seine eigene Kindheit und Jugend erzählt, sich dabei aber erzählerische Freiheiten erlaubt. Peters erzählt auf drei Zeitebenen, die er gekonnt miteinander verflicht. Einmal ist es die Zeit um 1973, das kleine Alter-Ego des Autors ist da im Grundschulalter, etwa sieben. Im noch stark bäuerlich geprägten Grenzgebiet zu den Niederlanden ist die alte Bundesrepublik fest verankert. Die Dorfgemeinschaft ist stabil, man kennt und unterstützt sich. Ein Ausscheren wird nicht geduldet. Der Rasen muss sorgsam gemäht und unkrautfrei, die Haare ordentlich geschnitten und das Auto sauber sein. Spätestens am Sonntag in der Kirche wird das kontrolliert. Man ist streng katholisch, selbst Protestanten misstraut man und „Mischehen“ werden nicht gern gesehen. Und man wählt politisch stramm konservativ. Kanzler Willy Brandt beäugt man äußerst kritisch. Der kleine Protagonist wächst hier sehr behütet auf und zweifelt, wie das für sein Alter typisch ist, seine Eltern nicht an. Der Vater ist Monteur für Landwirtschaftsmaschinen und schon immer hier zuhause. Die Mutter kommt aus der Stadt und ist Lehrerin. Ihre Ansichten sind aber eher noch rückwärtsgewandter als die des Vaters. Besonders erschreckend dabei ist, wie schnell und unbarmherzig die Menschen von ihr abgeurteilt werden, wenn sie den eigenen Vorstellungen nicht entsprechen. Es herrscht ein erbarmungsloses Schwarz-Weiß, Wir und Misstrauen gegen alles andere. Wie eng das Weltbild dort in der Provinz noch war! Die Achtundsechziger und die damit einhergehende Befreiung sind hier bisher nicht angekommen. Eine ganz wichtige Rolle spielt die Kirche. Man geht regelmäßig zur Messe, der Vater ist im Kirchenvorstand. Als im benachbarten Kalkar eine neue Form von Kernkraftwerk, der Schnelle Brüter, gebaut werden soll und dafür Kirchenland benötigt wird, setzt er sich für den Verkauf ein. Das von Anfang an umstrittene Projekt spaltet die gewachsene Dorfgemeinschaft. Einige der Bauern stellen sich dagegen, unterstützen die aufkommende Anti-AKW-Bewegung. Als auch der Kirchenvorstand sich mehrheitlich gegen den Schnellen Brüter entscheidet, wird er kurzerhand vom Generalvikar entlassen. Ein unglaublicher Vorgang, in den sich sogar der Papst einschaltet. Leser*innen, die in etwa der gleichen Generation wie der 1966 geborene Christoph Peters angehören, werden im Dorfroman viel aus ihrer eigenen Kindheit wiedererkennen. Skippy, Lassie, das Ohnsorg-Theater – diese Reminiszenzen werden absolut organisch in den Roman eingefügt und verkommen nicht nur zu Versatzstücken. Durch den naiv-gläubigen Kinderblick, den der Autor wählt, und der wunderbar authentisch gelungen ist und eine sehr geschickte Perspektive, denn so kann der Autor die von heute aus gesehen sehr fragwürdigen Einstellungen seiner Eltern schildern, ohne sie bewerten zu müssen, erlebt man die von Angst, Ablehnung und Hass übersteigerten Meinungen über die Terroristen der RAF, die „Gammlern“, die „Langhaarigen“ und Religionslosen mit einem gewissen Amüsement, ist aber gleichzeitig erschrocken über die Rigidität der ideologischen Gewissheiten. Wie gespalten auch damals die bundesrepublikanische Gesellschaft war, wie hasserfüllt, wird greifbar. Die Spaltung des Dorfs verschärft sich im Laufe der Jahre mit dem Baufortschritt des Schnellen Brüters. Bauer Praats hat seinen Melkstall an junge Kernkraftgegner verpachtet, die dort eine ökologische Kommune gründen wollen und Proteste gegen das Kraftwerk organisieren. Die zweite Zeitebene des Romans führt in die frühen Achtziger. Das Alter-Ego des Autors ist mittlerweile fünfzehn. Und wenn er auch noch kindlich dem Traum, einmal Naturforscher wie seine Kindheitsidole Heinz Sielmann und Bernhard Grzimek werden zu wollen, nachhängt und mit dem Netz auf Schmetterlingsfang geht, brechen doch immer mehr Konflikte in der persönlichen Entwicklung mit den Überzeugungen seiner Eltern auf. Klar, Pubertät. Ausgerechnet in eine der Kommunenbewohnerinnen, die sieben Jahre ältere Juliane, verliebt sich der Junge. Das beschleunigt den Abnabelungsprozess, die Haare wachsen, die politischen Ansichten und auch die Einstellung zum Schnellen Brüter wandeln sich vehement. Das führt natürlich zu Problemen mit den Eltern. Und auch die Auseinandersetzungen um das Kernkraftwerk radikalisieren sich. Waren zu Beginn, 1974, nur einige Tausend Demonstranten vor Ort, zählte man 1977 bereits 40.000 Atomkraftgegner. Mit welcher Brutalität die Polizei da vorging, ist mir noch lebhaft in Erinnerung. Mit der dritten Zeitebene in der Gegenwart beginnt und endet Christoph Peters seinen Dorfroman. Der Ich-Erzähler reist zum Pfingstfest zu seinen mittlerweile hochbetagten Eltern. Der 1985 fertiggestellte, aber auch angesichts der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl nie ans Netz gegangene Schnelle Brüter, ist mittlerweile zum Freizeitpark „Kernwasserwunderland“ transformiert und als Deutschlands größte Investitionsruine in die Geschichte eingegangen. Die bäuerliche Welt am Niederrhein ist längst untergegangen. Nur ein paar Großbauern haben überlebt und betreiben ihre Höfe nahezu industriell. In diesen Episoden herrscht ein nachdenklicher, melancholischer Ton vor, so wie Christoph Peters auch für die anderen Zeitebenen ganz eigenständige Tonarten gefunden hat. Der Erzähler lebt schon lange in Berlin, kehrt immer nur für kurze Stippvisiten ins elterliche Haus zurück. Doch was tun mit den alten Eltern, jetzt wo sich die Verantwortung fast umgekehrt hat? Hier wird das Buch zu einer Reflexion über das Vergehen der Zeit und die Veränderung der Welt. In alle drei Teile flicht der Autor wunderbare Landschaftsbilder aus der Niederrhein-Gegend ein. Christoph Peters ist mit Dorfroman ein ganz großartiges Buch gelungen. Kindheitsgeschichte, bundesrepublikanischer Epochenroman, zartbittere Liebesgeschichte, Eltern-Kind-Reflexion und – Dorfroman. Schon jetzt ein Höhepunkt im noch jungen Lesejahr. Ich mochte 1999 bereits Stadt Land Fluss von Christoph Peters sehr gerne, und frage mich, warum ich diesen herausragenden Autoren zwischenzeitlich so lange beiseitelassen konnte.

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Eine sehr schöne und detailverliebte Mentalitätsgeschichte des alten Westdeutschland legt uns Christoph Peters mit seinem DORFROMAN vor. Er beschreibt darin sowohl sein Coming of Age in der Provinz der 1970er-Jahre, wie auch seinen Blick zurück auf jene Kindheitsereignisse, an die er, nunmehr seit vielen Jahren in Berlin lebend, uns während eines Besuchs bei seinen Eltern erinnert. Eine herzlich unbarmherzige Zeit damals im fiktiven Hülkendonck, als die meisten Dörfer am Niederrhein geprägt waren von der Topografie bäuerlicher Milieus und den Existenzkämpfen seiner Betriebe, von der Strenge des Katholizismus und dem Beginn einer hochpolitischen Phase der BRD. Auch die Ereignisse um die gigantische Investitionsruine des „Schnellen Brüters“ in Kalkar, und die damit verbundenen Heilsversprechen der Atomindustrie, spielen eine zentrale Rolle im Buch, verliebt sich der Protagonist doch in die sechs Jahre ältere Anti-AKW-Aktivistin Juliane und erlebt erst unter ihrem Eindruck seine politische Bewusstseinswerdung. Immer respektvoll, sehr warmherzig und in stets richtigem Ton führt Peters durch diverse Etappen seines Lebens und muss sich schlussendlich mit der Frage konfrontiert sehen, ob seine Wurzeln und seine Verantwortung ausreichen, das Vergangene noch einmal gegen die Großstadt einzutauschen. Mich hat der Roman oft an Willi Achtens "Die wir liebteb" erinnert, ebenfalls einer meiner Favoriten in diesem gebrauchten Jahr 2020. Denn genauso wunderbar ist es auch Peters in "Dorfroman" gelungen, biografische Brüche und Ambivalenzen sichtbar zu machen, einen guten Sound für den Wechsel zwischen Gestern und Heute zu treffen, und geschickt mit Rückblenden zu spielen. Eine nachdrückliche Empfehlung für Leser*innen politisch geprägter Coming-of-Age-Geschichten!

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In dem Roman geht es im Großen um eine der größten, umstrittensten und bekanntesten Investitionsruinen im Nachkriegsdeutschland: Der „schnelle Brüter“ von Kalkar. Im Kleinen geht es um das Aufwachsen und Erwachsen werden des Ich-Erzählers Peter. Die Meinungen der Bewohner eines bäuerlich und katholisch geprägten Dorfes am unteren Niederrhein gehen stark auseinander, als in den 80-er Jahren in ihrer Nähe, in Kalkar, ein Kernkraftwerk, ein sogenannter Brutreaktor oder „schneller Brüter“, gebaut werden soll. Zwei gegensätzliche Haltungen stoßen aufeinander: Es gibt die Konservativen und Traditionsbewussten, die am Alten festhalten und das Bewährte und Gewohnte schätzen und es gibt die Fortschrittlichen und Modernen, die Veränderung und Entwicklung favorisieren, weil sie darin die Voraussetzung für wirtschaftlichen Wohlstand sehen. Ein Teil des Kirchenvorstands will kirchliche Ländereien an die Kraftwerksgesellschaft verkaufen, der andere Teil und die Landwirte sind gegen den Bau des Hochtemperaturreaktors. Als wäre das nicht schon konfliktträchtig genug, schaltet sich noch eine dritte Gruppe von außerhalb dazu: die Atomkraft-Gegner. Sie wollen mit ihren politischen Aktivitäten den Bau blockieren und unterbinden, wodurch sie den Aufruhr im Dorf noch verstärken. Die Konflikte kochen hoch, die bis dahin gut funktionierende Dorfgemeinschaft wird zerstört. Peter wächst mitten in diesem Tumult auf, erzählt melancholisch und beschreibt detailliert in drei Handlungssträngen und Zeitebenen seine Geschichte und die des Dorfes. Wir lernen ihn in seiner Kindheit, in der Teenagerzeit und als Erwachsenen kennen und erleben sämtliche Entwicklungsphasen mit. Er bewundert seinen Vater, der ein Entscheidungsträger im Kirchenvorstand ist, für dessen Engagement, was den Bau des Reaktors anbelangt. Er setzt sich mit seinen Eltern, der Kirche und dem politischen Geschehen auseinander, hinterfragt Obrigkeiten, zweifelt Autoritäten an, rebelliert, protestiert. Er verliebt sich mit fast 16 Jahren erstmals in die um sechs Jahre ältere Juliane, eine Atomkraft-Gegnerin, entwickelt ein politisches Bewusstsein, kehrt dem Dorf den Rücken, zieht nach Berlin und besucht schließlich Jahrzehnte später seine inzwischen hochbetagten Eltern in dem Dorf seiner Kindheit und Jugend. Ein Besuch, der Erinnerungen weckt und von denen wir hier lesen. Christoph Peters erzählt unaufgeregt, einfühlsam und ruhig von einer wohlsituierten Mittelstandsfamilie vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten und Spannungen anlässlich des geplanten Reaktorbaus in der noch jungen Bundesrepublik. „Dorfroman“ ist eine packende und kluge Coming of Age-Geschichte, die ein recht genaues und ziemlich interessantes Bild des damaligen westdeutschen Zeitgeschehens und des ländlichen Milieus mit seinen Sitten und Bräuchen vermittelt. Christoph Peters präsentiert mit seinem Buch anspruchsvolle, interessante und lesenswerte Unterhaltung Übrigens: Der „schnelle Brüter“ in Kalkar wurde 1985 fertiggestellt, aber wegen sicherheitstechnischen und politischen Bedenken nie in Betrieb genommen. 1991 wurde das Projekt eingestellt.

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Tradition und/oder Moderne, zwischen diesen beiden Polen pendeln die beiden Romane, die ich bisher von Christoph Peters gelesen habe, ein Thema, das ihn auch in seinem „Dorfroman“ beschäftigt. In der unmittelbaren Nähe eines verschlafenen Ortes am Niederrhein soll ein Kernkraftwerk, ein „schneller Brüter“ gebaut werden, ein Vorhaben das für tiefe Risse in der dörflichen Gemeinschaft sorgt. Auf der einen Seite die Zauderer, die an den Beziehungen und den gewachsenen Strukturen des dörflichen Lebens festhalten wollen, auf der anderen Seite die Fortschrittsgläubigen, die auf Veränderung und wirtschaftlichen Wohlstand hoffen. Und dann gibt es noch eine dritte Gruppe von außerhalb, die Anti-Atomkraft-Aktivisten, von beiden Seiten misstrauisch beäugt, die den Bau um jeden Preis verhindern wollen und mit ihren politischen Aktionen zusätzliche Unruhe in das Dorf bringen. In diesem Spannungsfeld wächst der Ich-Erzähler auf, der identisch mit dem Autor ist. In drei Zeitebenen – Kind, Teenager, Erwachsener – beschreibt er nicht nur die durch den Kraftwerksbau ausgelösten Veränderungen seiner Heimat, das Auseinanderbrechen dörflicher Strukturen, sondern auch seine persönliche Entwicklung. Die Auseinandersetzungen mit den Eltern, das allmähliche Hinterfragen unumstößlicher Autoritäten, die erste Liebe, die Entwicklung eines politischen Bewusstseins, die Abkehr und die Heimkehr. Peters‘ melancholischer Rückblick ist nicht nur eine Mischung aus Coming-of-Age Roman und Beschreibung einer politischen Sozialisation, sondern auch ein bemerkenswertes Zeitzeugnis. Und das werden am ehesten diejenigen bestätigen können, die wie der Autor in diesen Jahren aufgewachsen sind. Und übrigens, Kalkar, der „schnelle Brüter“, wurde zwar gebaut, ging aber niemals ans Netz.

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Fazit: Der Autor verlegt die Handlung seines Romans in die 70er Jahre des genauso beschaulichen wie fiktiven Dörfchens Hülkendonck am Niederrhein. Ich gestehe, bei dem Namen Hülkendonck immer ein bisschen an Fräulein Müller-Wachtendonk gedacht zu haben, die uns allen im Zusammenspiel mit Siggi Sorglos ab Anfang der 90er in vom Bundesumweltministerium in Auftrag gegebenen Zeichentrickfilmchen Dinge wie die Mülltrennung erklärte. Und tatsächlich liegt der echte Ort Wachtendonk nur ein paar Dutzend Kilometer von den Schauplätzen des Buches entfernt, aber ich schweife ab. Hülkendonck gehört zur Stadt Kleve, liegt aber unweit des Ortes Kalkar, wo ein Atomkraftwerk des Typs „Schneller Brüter“ gebaut werden soll. Die Älteren werden sich erinnern: Nach einer schon Ende der 60er beginnenden Planungsphase wurde mit dem Bau begonnen. Letztlich verschlang das Projekt ein Vielfaches der ursprünglich in Aussicht gestellten Kosten, ans Netz ging der Schnelle Brüter nach einem Regierungswechsel in NRW, dem Erstarken der Anti-Atomkraft-Bewegung und schließlich auch aufgrund von Störfällen wie in Harrisburg und insbesondere natürlich nach der Tschernobyl-Katatrophe, jedoch nie. Im Jahr 1991 wurde das endgültige Ende für das Projekt beschlossen. Heute ist aus dem geplanten AKW von einst ein Freizeitzentrum mit Kletterwand am Kühlturm entstanden … In diesem zeitlichen und geografischen Umfeld lässt der Autor seinen Protagonisten in den 70ern aufwachsen, und macht daraus einen Roman, der in so vielen Bereichen gut gelungen ist, dass ich ausnahmsweise kaum weiß, wo ich anfangen soll. Nun, vielleicht am Anfang. Denn zu Beginn schildert der Autor erst mal die Gegebenheiten im idyllischen Hülkendonck der 70er. Peters entwirft das Bild eines landwirtschaftlich geprägten Dorfes, in dem die Bauern das Sagen haben, beschreibt Hierarchien und Gemeinschaften, in denen es Hilfsarbeiter und insbesondere Zugezogene schwer haben, dazu zu gehören. Ein Dorf, dessen Bewohner zumeist tiefreligiös und erzkonservativ sind und denen eine intensive Obrigkeitshörigkeit inne zu sein scheint, unterwirft man sich doch gerne dem Urteil von Kirchenvorstand, Bischof oder Papst, Lokal-, Kommunal- oder Bundespolitiker, denn die werden ja schon wissen, was sie tun und außerdem ist gewählt eben gewählt, da kann man dann ja auch sowieso nichts mehr ändern. So oder ähnlich scheint die vorherrschende Denkweise der Bewohner Hülkendoncks zu sein. In diesem Umfeld sozialisiert, wundert es nicht, dass der junge Protagonist des Buches zunächst ähnlich tickt. Das Urteil der eigenen Eltern scheint ein unfehlbares zu sein, zudem führt der Junge regelmäßig religiöse Begründungen dafür an, warum er etwas gut oder nicht so gut findet. Erst mit den aufkommenden Plänen für das AKW, für das große Teile der zum kirchlichen Grundbesitz gehörende Flächen verkauft werden müssten, tauchen die Probleme auf, denn erstmals ist man im Dorfe uneins. Da sind auf der einen Seite beispielsweise die Bauern, die bislang davon profitierten, dass sie die der Kirchengemeinde gehörenden Flächen zu einem wesentlich geringeren Preis pachten konnten als das bei einem anderen Eigentümer des Grund und Bodens möglich wäre, und die daher aus rein wirtschaftlichen Gründen dagegen sind. Und auf der anderen Seite sind die, so wie der als Kirchenvorstand tätige Vater der Hauptfigur, die für den Verkauf der Flächen sind, weil Fortschritt eben sein muss, die entsprechenden Fachleute sicherlich schon wissen, was sie da tun und letztlich alles besser ist, als die Flächen im Endeffekt einfach enteignet zu bekommen. Und dann ist da noch der Gastwirt, der sich zu keiner Seite richtig bekennt, weil er Sorge davor hat, dass die Vertreter der jeweiligen Gegenseite dann nicht mehr seinen Gasthof betreten würden … Und spätestens nachdem eine Gruppe Atomkraftgegner ist Dorf zieht, ändert sich nicht nur die Stimmung im Dorf, sondern eben diese Änderung setzt auch beim Protagonisten ein. Er wird durch Kontakt mit den Gegnern politisiert, verliebt sich in eine der Protestlerinnen und beginnt, die Denkweisen der Eltern zu hinterfragen, in Zweifel zu ziehen und auf Konfrontationskurs zu gehen. Vor diesem Hintergrund ist „Dorfroman“ erst einmal eine Coming-of-Age-Geschichte. Aber das Buch ist eben nicht nur im Bezug auf seine Hauptfigur ein Entwicklungsroman, sondern auch hinsichtlich der Entwicklung des ländlichen Raums in den letzten Jahrzehnten. Das literarische Bild, dass Peters diesbezüglich malt, deckt sich übrigens sehr mit meinen eigenen Erfahrungen, in denen in einem ähnlichen Zeitraum aus meinem beschaulichen heimatlichen Dörfchen mit nahezu 1.100 Einwohnern mit eigener Post- und Sparkassenfiliale, zwei Gaststätten, einer co op-Filiale und täglichem Zug von Rinderherden auf und von den Weiden quer durchs Dorf, ein Dorf geworden ist, in dem es all das nicht mehr gibt, dafür aber seit Anfang der 90er ein schon vor Jahren durch einen amerikanischen Konzern mit Milliardenumsatz aufgekauftes Großunternehmen mit 400 Mitarbeiten und einen Schweinemastbetrieb mit 3.000 Mastplätzen, und dessen Einwohnerzahl mittlerweile bei etwa 900 stagniert. Lediglich die im Buch geschilderte nahezu fundamentale Religiösität habe ich hier nicht so wahrnehmen können, aber vielleicht ist der südniedersächsiche Raum damals schon säkularisierter gewesen, als der des westlichen NRW, wer weiß …!? Wenn man den Blickwinkel weiter fasst, ist „Dorfroman“ in einem weiteren Punkt ein Entwicklungsroman, nämlich hinsichtlich der Entwicklungen in der damaligen Bundesrepublik und ihrer Bevölkerung, eben weg von einer obbrigkeitshörigen Generation, hin zu einer jungen, kritischen Generation, die Fragen an ihre Eltern- und Großelterngeneration hat. Und zwar berechtigte Fragen. Fragen, die leider teilweise bis heute unbeantwortet geblieben sind. Christoph Peters Erzählweise passt sich dabei dem geschilderten Umfeld an. Er hat eine über weite Strecken des Romans gemütliche Art zu erzählen, was ich im Übrigen ausnehmend positiv verstanden wissen möchte. Besonders erwähnenswert finde ich in stilistischer Hinsicht, wie gut es dem Autor gelingt, den beiden Versionen seines Protagonisten zwei völlig unterschiedliche und dem jeweiligen Alter angemessene Erzählstimmen zu geben. Gerade für die junge Ausgabe der Hauptfigur gilt, dass diese vollkommen überzeugend wirkt, sowohl in sprachlicher als auch intellektueller Hinsicht, der Junge wirkt an keiner Stelle des Buches klüger als er sein sollte. Nun ließe sich die Liste der positiven Aspekte noch beliebig verlängern, aber ein bisschen Eigenleistung kann von der potenziellen Leserschaft ja auch erwartet werden, deswegen belasse ich es bei der abließenden Feststellung, dass „Dorfroman“ ein 412 Seiten umfassendes, reines Lesevergnügen darstellte, und wenn Denis Scheck über den Roman urteilt: „Ein wunderbar humorvoll geschriebener Roman…für mich einer der lesenswertesten Romane in diesem Herbst.“ dann hat er damit vollumfänglich recht.

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Dorfroman

Von: Mario Keipert

25.10.2020

Im Grunde bestätigt auch Christoph Peters' Dorfroman ein Klischee: dass es "im Westen", bei allen Verwerfungen dennoch eine Kontinuität gegeben hat, die im Zweifel stärker ist als alle Risse, die sich durch Biographien oder Familien ziehen. Deshalb ist auch ein – im Vergleich zu Wenzel – fast gediegenes, konventionelles Erzählen möglich, das schon im Titel angedeutet wird: der Dorfroman ist Entwicklungsroman, Gesellschaftspanorama, Chronik gleichermaßen. In 30 Kapiteln, mit einer ruhigen, unaufgeregten Erzählweise spannt Peters den Bogen zwischen einer Kindheit im Westdeutschland der 1970 und der Gegenwart, in der der mittlerweile in Berlin lebende Erzähler nach Hülkendonck, in das Dorf seiner Kindheit, zurückkehrt. Als mein Vater unser Haus gebaut hat, war er überzeugt, ein Geschlecht zu begründen, dem eine bessere Zukunft als seine eigene zwischen Pferdepflug, Schweinescheiße und Krieg offenstünde. Seine Kinder würden die höhere Schule besuchen, Jura oder Medizin studieren, als Anwälte, Notare, weithin respektierte Ärzte gutes Geld verdienen. Eines Tages träte einer von uns seine Nachfolge an, übernähme den Stammsitz, die Gärten, während meine Mutter und er sich im ersten Stock aufs Altenteil zurückzögen, nach vollbrachter Lebensleistung ihren verdienten Ruhestand im Kreis von Enkeln und Urenkeln verbrächten. ... Nichts von alledem ist eingetreten. Christoph Peters: Dorfroman. Luchterhand 2020 Der Rückblick, der aus dieser Heimkehr – und der Frage danach, ob man sich hier, bei den Eltern, wieder niederlassen könne – resultiert, bringt Verschiedenes zutage. Da ist zum einen der langsam einsetzende Zerfall der dörflichen Welt, der Einzug der Industrie in die Landwirtschaft, die Verstädterung auf dem Lande. Peters schreibt auch eine Art Nachruf auf eine Welt, die sein Erzähler schon nicht mehr findet. Da ist aber vor allem der Bau des Schnellen Brüters, der den Ort und die Familie spaltet. Nicht nur der Kirchenvorstand zerbricht an den Verhandlungen – der Dorfroman legt auch Zeugnis ab über die Art und Weise, wie sich die (katholische) Kirche angesichts moderner Lebensfragen selbst demontiert. Und dann ist da natürlich noch Juliane, die erste große Liebe des Erzählers, die diesen nicht nur in sexuelle, sondern vor allem auch in neue politische Sphären einführt ... Der Kunstgriff, der Peters' Dorfroman so außergewöhnlich wie bemerkenswert macht, ist dabei, dass der Roman Kapitel für Kapitel fast spiegelbildlich zwischen zwei Perspektiven wechselt. Aus der Zeit vor dem Bau des Atomkraftwerks erzählt aus nächster Nähe das kindliche Alter Ego des Erzählers. Die Welt ist noch heil: was die Eltern sagen, ist erstmal per se überzeugend, die Kirche ist ein fixer Orientierungspunkt im Alltag, und all das, was das Verständnis des Kindes übersteigt (Baader-Meinhof, der WDR, der Papst), wird in den kindlichen Kosmos so eingeordnet, dass es passt. Dem gegenüber stehen die Erinnerungen des erwachsenen Erzählers, der auf seine Jugendzeit zurückblickt. Das AKW ist gebaut (wenngleich es nie ans Netz gehen wird), die Fronten im Dorf, die sich im kindlichen Blick wie in einem Spiel gerade erst bilden, sind längst verhärtet, und die Gegenkultur (lange Haare, Drogen, freie Liebe) hat ihr Widerstandsnest in Sichtweite des Schnellen Brüters aufgebaut. Die Erinnerungen gelten der Jugendzeit, der eigenen Politisierung – und dem Moment, wo sich der Bruch zwischen Eltern und Kind ereignete. Das Behütetsein der Kindheit vermögen sie nicht einzuholen. Zwei Erinnerungsschichten, die sich diametral gegenüberstehen und dennoch beide ihre Gültigkeit, ihr Recht behalten: die Stärke seines Dorfromans liegt darin, wie Christoph Peters dem so unterschiedlichen Erleben des Kindes / des Jugendlichen seine je eigene Wahrheit zugesteht. Und wie er den Riss, der sich in dieser Biographie verbirgt, ohne ihn zu kitten dennoch zu überbrücken vermag. Der Erzähler wird, soviel sei verraten, nicht wieder zu seinen Eltern ziehen. Versöhnung über alle Verwerfungen hinweg stiftet dieser Roman aber in mehr als ausreichendem Maß.

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In einfühlsamer Weise erzählt Christoph Peters in seinem “Dorfroman” vom Erwachsenwerden in der westdeutschen Provinz, von der Rebellion gegen die Eltern, dem katholisch geprägten Dorfleben und den politischen Auseinandersetzungen, die durch das Projekt eines Kernkraftwerks besonders gefährlicher Bauart über ein Dorf hereinbrachen. Im Mittelpunkt steht der 15-jährige Ich-Erzähler, der noch nach seinem Weg durchs Leben sucht und vom begeisterten Schmetterlingsfänger zum jugendlichen Anti-AKW-Rebell mutiert – kein leichter Schritt im katholisch-konservativ geprägten Landkreis Kleve. Dabei bedient sich Peters vieler realer historischer Bezüge, switcht immer wieder von der Gegenwart in die ausgehenden 1970er Jahre und lässt so den Beginn der jahrzehntelangen Atomkraft-Debatte in der damaligen BRD noch einmal auferstehen. Gleichwohl behält seine sehr persönliche Geschichte das richtige Gleichgewicht zwischen autobiografischem Geschichtsgemälde und der Beschreibung eines aktionistisch-jugendlichen Aufbegehrens gegen politischen Mief und blinden Fortschrittsglauben. “Dorfroman” ist ein Buch, hinter dessen unscheinbarem Titel eine großartige politische coming-of-age-Geschichte steckt.

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