Sie haben sich erfolgreich zum "Mein Buchentdecker"-Bereich angemeldet, aber Ihre Anmeldung noch nicht bestätigt. Bitte beachten Sie, dass der E-Mail-Versand bis zu 10 Minuten in Anspruch nehmen kann. Trotzdem keine E-Mail von uns erhalten? Klicken Sie hier, um sich erneut eine E-Mail zusenden zu lassen.
Michael Jürgs

SPECIAL zu Michael Jürgs

Als der Krieg den Atem anhielt, geschah ein Weihnachtswunder

Über das Buch »Der kleine Frieden im Großen Krieg«

Flandern, Dezember 1914: Im Westen nichts Neues. Deutsche Soldaten und auf der anderen Seite Briten, Franzosen, Belgier liegen sich in einem erbarmungslosen Stellungskrieg gegenüber, oft nur hundert Meter voneinander entfernt. Die Frontlinie zwischen der Nordsee und der Schweizer Grenze ist erstarrt. Einen möglichen Durchbruch der kaiserlichen Truppen hatten die Franzosen mit einer geradezu abenteuerlichen Aktion verhindert, als 6000 Pariser Taxifahrer in einer patriotischen Sternfahrt 30 000 Soldaten an eben diese Front gefahren hatten. Seit August herrscht Krieg in Europa, genannt der Große - erst Jahrzehnte später als Erster Weltkrieg bezeichnet, denn niemand hatte sich am Ende dieses Großen Krieges, also 1918, vorstellen können, dass noch einmal eine so blutige Völkerschlacht stattfinden würde.

Die anfängliche Kriegsbegeisterung ist längst erstorben. Hunderttausende junger Männer sind bereits gefallen. Der vom wochenlangen Regen aufgeweichte Boden ist tief gefroren. Schnee bedeckt erstarrte Leichen im Niemandsland, die keiner bergen kann - aus Angst, dabei erschossen zu werden. Doch am Weihnachtsmorgen geschieht Unerhörtes. Im Laufe des Vormittags legen überall an der Westfront Soldaten ihre Waffen nieder. Schnell gebastelte Pappschilder mit Festgrüßen werden hochgehalten, hüben wie drüben, worauf zu lesen ist: Merry X-Mas oder Frohe Weihnachten und WE NOT FIGHT, YOU NOT FIGHT. Die ersten Mutigen klettern aus den Schützengräben, es fällt kein Schuss, andere folgen, bald alle. Zunächst werden die seit Wochen zwischen den Fronten im Niemandsland liegenden toten Soldaten gemeinsam beerdigt.

Als es dunkel wird, leuchten Tannenbäume auf dem Stacheldraht, die Feinde von gestern singen gemeinsam die Botschaft von Christmas und Weihnachten und Noel, ein jeder in seiner Sprache, Lieder vom Frieden auf Erden. Sachsen und Bayern und Österreicher verstehen sich mit den Feinden besser als mit den eigenen Kameraden, die aus Preußen kommen und als kriegslüstern gelten. Franzosen wiederum meinen es nicht nur scherzhaft, wenn sie die anderen bitten, sie wieder von den Briten zu befreien ...

Am nächsten Tag werden Geschenke ausgetauscht, die Männer zeigen sich Fotos ihrer Familien, trinken und essen zusammen, ja sogar Fußball wird gespielt im Niemandsland. Der spontanen Verbrüderung schließen sich auch viele Offiziere an, und sie sind sich schnell einig: Schluss mit dem Krieg, no more war, à bas la guerre. Wir wollen leben.
Nach zwei Tagen ist auf Befehl von oben alles vorbei. Den eigentlichen Herren des Krieges auf beiden Seiten in den obersten Heeresleitungen, weit ab von jedem Schuss, wird die Ruhe unheimlich. Frieden droht, und das ist nicht ihr Geschäft. Es gilt wieder die Parole Krieg. Wer nicht schießt, soll bestraft werden. Aber an diesen beiden Weihnachtstagen hält sich keiner ihrer Untergebenen daran, und wer partout schießen will, wird von seinen Kameraden entwaffnet. Am dritten Tag schießen sie noch nach voriger Absprache gegenseitig über die Köpfe hinweg, dann beginnt erneut der blutige, der sinnlose Alltag des verordneten Mordens. Es wird noch bis 1918 dauern und Millionen Menschen das Leben kosten.

Diese Geschichte von den zwei Weihnachtstagen 1914 ist als einmaliges historisches Ereignis zwar in den Geschichtsbüchern vom Ersten Weltkrieg verzeichnet, aber die eigentliche Geschichte, die der Menschen, ist noch nie richtig erzählt worden. Sie blieb in England und in Frankreich bekannter als in Deutschland, wo sie heute fast vergessen ist. Die Geschichte vom Weihnachtswunder im Niemandsland ist aus dem Stoff, aus dem Legenden sind, weil es um die ewige (und nie erfüllte) Sehnsucht des Menschen nach Frieden statt Krieg, nach kleinem Leben statt heroischem Tod geht.

Michael Jürgs hat genau recherchiert, Regimentstagebücher in verschiedenen Archiven in England, Frankreich, Belgien, Deutschland eingesehen und die Ur-Ur-Enkel jener Männer befragt, die damals im Niemandsland gemeinsam Weihnachten feierten, die zufällig den Krieg überlebten und deren Geschichte in ihren Familien bis heute der nächsten Generation weitererzählt wird.