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SPECIAL zu Michail Schischkin - "Die Eroberung von Ismail"

Die Eroberung von Ismail durch den Übersetzer

Andreas Tretner

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Es geschah auf Seite 222.
Wieder einmal, wie ganz zu Anfang des Romans, hören wir einen Jura- oder Rhetorikprofessor vom Katheder herab die laufende Gerichtsverhandlung kommentieren und vom Hundertsten ins Tausendste geraten. Der „Gesetzgeber, einer wie ihr und ich“ wird in dunkler Nacht von einer Art NKWD-Kommissar zum Jüngsten Gericht abgeholt und dabei unversehens als Муж желаний tituliert – Mann der Wünsche. Sonderbare Bezeichnung für einen Vorzuladenden. Es ist, stellt sich heraus, die gängige russische Ersetzung für jenes mirakulöse Isch Hamudoth, mit dem der Engel Gabriel den Propheten im Buch Daniel anspricht. Wie übersetze ich das?

In solch vertrackten Fällen empfiehlt sich eine Frage in die Runde der Kollegen, von denen doch einige bibelfest sind, und siehe da, einer antwortet rasch und in schöner Ausführlichkeit: Er denke, der Engel Gabriel, so wie er mit Daniel rede und ihn hamudoth und isch hamudoth nenne, wolle nur sagen: »du lieber Daniel«. Das sei einfach Gabriels Weise zu reden. Wenn man das wortwörtlich übersetzte, wäre das eine Eselei: Daniel, du Mann der Begier, da wisse doch kein Deutscher, was gemeint sei, der denke noch, dass Daniel vielleicht voll böser Lust stecke, welch ein Trugschluss. Darum solle man hier die Buchstaben fahren lassen und überlegen, wie man sagt, was der Engel wirklich sagen will. Und seiner Meinung nach sage der auf Deutsch an der Stelle so: Du lieber Daniel, genau wie: du liebe Maria, oder: du holdselige Maid, du niedliche Jungfrau, du zartes Weib und dergleichen.

Ich fand die Argumentation des Kollegen schlüssig, auch wenn er am Ende etwas übertrieb, indem er sich noch zu einem Allgemeinplatz aufschwang: „Denn wer dolmetschen will, muss großen Vorrat von Worten haben, damit er die rechten zur Hand haben kann, wenn eins nirgendwo klingen will.“ Na, schönen Dank auch, Kollege Luther! Und danke, lieber Michail, für die Gelegenheit, im Jubeljahr der Reformation endlich einmal den Direktnutzen aus Luthers Sendbrief zum Dolmetschen zu ziehen, einer frühen Fortbildungsmaßnahme für die Zunft. Folglich kann der Mann Seite 222ff. nun gar nicht anders heißen als Lieber Mann, was sich weiter hinten hinaus zu gut bürgerlich Liebermann verschleift.

So geht das zu in diesem Roman: Der Autor ruft hinein in den Wald, und die hohe Literatur der Vergangenheit schallt heraus. Auf induktivem Wege, sozusagen. Kein Wunder, wenn das Stimmenhören auch den Übersetzer ergreift, es bleibt ihm gar nichts anderes übrig.
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In weiten Teilen des Buches und am ärgsten auf den ersten einhundert Seiten wechseln Sprecher, Zeitebenen und Perspektiven immerzu. Furiose Achterbahnfahrt, um den Raum abzustecken, den der Roman auszuschreiten gedenkt; Think-Big-Aufforderung an die Leserschaft. (Die deutsche ist ja durch den Nachfolgeroman Venushaar, der bei uns als erstes erschien, schon halbwegs vorbereitet auf diese erzählerische Totale, doch im Ismail hat der junge Autor das Verfahren seinerzeit am konsequentesten ausprobiert.)
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Russland hält Gericht über sich selbst. Anklage und Verteidigung im Überbietungseifer. Experten streiten, Akten geraten durcheinander, Biografien verschwimmen, Geschichten fügen sich zum Labyrinth (Jermaks wilde Kosakenhorden erobern Sibirien, wo Stalins Straflager schon auf sie warten), enthalten Doppelbelichtungen (ein räsonierender Gardeleutnant im weißen Uniformrock, wie aus einer Tschechow-Komödie gefallen, geistert durchs Alltagsgrau einer müden Provinz-Intelligenzija zu Chruschtschows Zeiten) und alternate exits (Jewgeni D. als Leiche im städtischen Park und dann doch dreißig Jahre später – oder hundert Jahre früher? – als kranker alter Wetterwart im gottverlassenen Samojedenland).

Verschiedentlich hat man den Roman mit einem großen Fresko verglichen. Als einer, der dieses Fresko zu kopieren hatte, stimme ich dem Vergleich zu. Nicht weil ich mich auf schwankem Gerüst, beengt, mit schmerzendem Rücken und zitternden Knien unter der Kuppel kauern gesehen hätte; es ist die bisweilen extreme Kleinteiligkeit und ihre kunstvolle Aufhebung in der Komposition, die eine vergleichbare Herausforderung ergibt. Bei den Fresken der Renaissancemaler hatte das mit der oft komplizierten Faltung des Gewölbes zu tun, vor allem aber mit der technischen Notwendigkeit, auf den feuchten Untergrund zu malen und das Bild fertig haben zu müssen, bevor der Putz trocknet und das Pigment darin abbindet. Schon deshalb wurde in genau kalkulierten Fragmenten gearbeitet, und der Entwurf passte sich dem an. Wie die Meister es anstellten, die „Stöße“ zwischen den Fragmenten zu verbinden und zu kaschieren, wird mir immer ein Rätsel bleiben, und so sollte es wohl auch sein. Vor allem aber durfte das „Puzzle“ der Teile den kapitalen Entwurf, die Kohärenz der großen Linien nicht in Frage stellen … So ähnlich habe ich die Arbeit am Ismail empfunden: In Exposition, Dynamik, Kolorit der jeweiligen Passage aufzugehen, den Gesetzen des je geltenden Genres zu folgen und doch immer den Blick fürs Ganze – Vorausgegangene, Nachfolgende, irgendwann Wiederkehrende – behalten, Fluchten und Perspektiven prüfen, zwischen Bruch und Übergang in den Anschlüssen wählen zu müssen … Nachträgliche Korrekturen – „al secco“ – sind ja möglich, dürfen aber nicht die Homogenität, den „Wurf“ des Einzelbildes gefährden.
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Und selbst im Duktus der einzelnen Szene und da, wo die Erzählung sich zu beruhigen scheint, blieb Aufmerksamkeit geboten. Überall lauern Irritationen! Schischkin inszeniert mikroskopische Selbstentlarvungen seiner Sprecher: Winkelzüge von Doktrin und Ideologie, Ausbrüche von Aggression, Obszönität, Allmachtsfantasien, Stereotypen von Gut und Böse und ihre willkürliche Umkehrung, wie die Sprache sie über die Jahrhunderte in sich aufgesogen hat, als kleine Giftdepots, Fußangeln aufbewahrt und wieder absondert. Das findet sich nicht nur im staatsanwaltlichen Furor vor der Anklagebank, auch im Rechtfertigungsparlando des braven Advokaten auf seiner beharrlichen Suche nach dem eigenen kleinen Glück. Hier ist der Leser – und vor ihm der Übersetzer – vielleicht am allermeisten herausgefordert: wo sich Sympathie zur Figur entwickelt, endlich ein bisschen Identifikation aufgebaut hat und jäh wieder in die Binsen zu gehen droht durch blinde Flecken, unerklärliche Aussetzer, hässlich hervorspringende Dämonen. Aushalten, stehenlassen! Bloß nicht dämpfen oder gar korrigieren, so musste ich mir an diesen Stellen einbläuen.
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Schon stark, wie sublim der Autor auf diese Weise den stilisierten hohen Ton, die Fassade der klassischen Vorbilder aufbricht, sozusagen ihren Sanitärtrakt aufsucht, die Toilette, deren Geruch – den eigenen – Alexander Wassiljewitsch schamvoll mit brennenden Schwefelhölzern zu vertilgen sucht.

Das Wort sei in diesem Buch die eigentlich handelnde Figur, heißt es. Will man das ernst nehmen, so wäre zu schlussfolgern, dass der Übersetzer die Helden des Romans auszutauschen hat – nicht bloß einen oder zwei, nein, gleich das komplette Personal! Das klingt nach Anmaßung oder eben einem aussichtslosen Unterfangen.

Kein Wunder, dass der Autor, nach der Übersetzbarkeit des Buches gefragt, grundsätzliche Skepsis äußerte: „Es betrifft nicht nur den Roman. Kein Wort ist übersetzbar. Die der Sprache innewohnende Erfahrung – das Leben, das dieses Wort sozusagen hinter sich hat – macht Sprachen unterschiedlicher Erfahrung zu nichtkommunizierenden Gefäßen. Die der Sprache eingeschriebene Vergangenheit lässt sich nicht übersetzen. Das trifft in besonderem Maße auf die russische Vergangenheit zu, die ja nie als Faktum interessiert hat, sondern immer nur als Argument zur endlosen Keilerei. Nach dem Turmbau zu Babel ist Sprache nicht mehr zur Kommunikation da, sondern zur Vertiefung der Verständnislosigkeit. Die Russen haben sich dafür extra ein eigenes Alphabet geschaffen, um sich abzugrenzen, eine Mauer zu bauen.“

So hochgejazzt zur Aporie, ficht der Zweifel den Übersetzer, der mit dem Unmöglichen sein Brot verdient, tunlichst nicht an – doch ein bisschen Gewinn- und Verlustrechnung, Konzept und Strategie zu deren Beeinflussung setzt dieser Eroberungsfeldzug schon voraus.

Was also kann der Übersetzer tun, wenn die Wörter sich ihm sperren, indem sie mindestens so dringlich für sich sprechen, wie sie ein anderes meinen?

Er könnte versuchen, diesen Kopierschutz zu umgehen, indem er statt dessen das Verfahren kopiert.

Zwei grundsätzliche Verfahren wendet Schischkin an, um seine Puppen – die schillernden Wörter – tanzen zu lassen: Er zitiert und komponiert („samplet“) fremden, vorzugsweise alten Text – und er stilisiert, entwirft eigene Muster in historischer Manier.
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Demgemäß kann der Übersetzer zum Beispiel Zitate übersetzen, indem er seinerseits zitiert (nämlich aus vorhandenen alten Übersetzungen) oder stilisiert (nämlich so tut, als zitierte er welche).

Ersteres ist keine bloße Theorie. Die Einbeziehung früherer, getrost älterer Übersetzungen, selbst wenn es nur um kleinste Partikel geht, ist nicht nur eine Verbeugung vor den Kollegen Altvorderen, es ist streng genommen die einzige Möglichkeit, fremde Stimmen in den Text zu kriegen, von denen das Original so viele hat. Man höre sich hinein in die gegen Ende von Tschaadajew, Tschernyschewski und Ulybyschew entlehnten, von Elias Hurwicz, Hellmann/Gleistein und Lieselotte Remané übersetzten Passagen – frischer Wind im Karton! Erst recht zuvor in jener harten Collage „Letzter Worte“, d.h. letzter Sätze aus Werken der klassischen Literatur, von denen immerhin die Hälfte aus fremder Übersetzerfeder stammt.

Alte Übersetzungen zu „erfinden“, nachzubilden wäre hingegen ein Novum. Ich tat hier etwas, was man eigentlich nicht tut: altrussische Literatur ins Frühneuhochdeutsche übersetzen. Zugelassen scheint bei der Übertragung oder Nachahmung historischer Texte fürs breite Publikum ja allenfalls eine oberflächliche „Patinierung“ nach klassizistischen Mustern. Ein Anflug von neunzehntem Jahrhundert, gleich wie alt das Original ist. Ginge das nicht doch anders? Es muss ja nicht gleich Synchronizität behauptet werden, die im Vergleich so unterschiedlicher Kulturen ohnehin eine willkürliche Setzung wäre. Besser die Hilfsvorstellung: Ich fake eine alte Übersetzung. Die ja durchaus später als das Original entstanden sein kann, nur eben aus unserer Perspektive alt genug, um dem Original nah und verbunden zu erscheinen.
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Dass es diesen Kunstgriff hier braucht, eine andere Möglichkeit, als den Text wirklich „alt aussehen“ zu lassen, gar nicht existiert, sieht man am besten an der grandiosen Verführungsszene zwischen Olga und Alexander, dem jungen Adlatus ihres Mannes. Die Story wird in zwei Stimmen erzählt, die eine entspricht der Erzählzeit (19./20.Jh.), die andere ist Zitat und aus diversen literarischen Quellen des 17. Jh. kompiliert; sie ist nicht als bloßer Kommentar eingesetzt, sondern erzählt mit, eine fällt der anderen ins Wort, die Übergänge erzeugen Fallhöhen, lustige Sprünge. Von der Komik abgesehen, wird der Zwiespalt zwischen Lust und theologisch verbrämter Moral reflektiert – in gar nicht mal fixer Rollenverteilung: Die Geschichte von Sawwa Grudzyn beispielsweise „über Begebenheiten aus unseren Tagen, wie Gott, der Menschenfreund, seine Liebe dem christlichen Volk erweist“, ist für die Zeit und das Genre erstaunlich explizit, man stellt sich vor, wie die Phantasie einsamer junger Mönche sich an den saftig ausgemalten Moralpredigten unkeusch entzündet haben mag. All das wäre verloren, würde der alte Text nicht als solcher kenntlich und strahlte.

(Altrussische Literatur ins Frühneuhochdeutsche übersetzen? Den naserümpfenden Philologen zur Beschwichtigung: Hier wurde nur ein Artefakt mit den Mitteln des Frühneuhochdeutschen gebaut. Postmodernes Spiel! Doch die Frage sei erlaubt, ob sich in dieser Richtung nicht doch mehr und ernsthafter arbeiten ließe? Dass man sich als Übersetzer alten Texten gegenüber so verhielte, wie es bei Interpreten alter Musik heutzutage schon beinahe Standard ist, nämlich in historischer – exakter sagt man wohl: historisch informierter! – Aufführungspraxis?! …)
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Damit der Fake nicht gar zu billig geriet, war das Deutsche Textarchiv die unentbehrliche Hilfe, ohne die ich es wohl nicht gewagt hätte. Ein immenser Vorrat an alten Texten, erschließbar durch Volltextsuche und allerlei raffinierte Filter – da lacht des Fälschers Herz. Einladung zur Bricolage! Auch gelinde Sinnverschiebungen, Umakzentuierungen ließen sich in Kauf nehmen zugunsten der Möglichkeit, authentische Idiome, lexikalische Finessen, syntaktische Strukturen als Ganze in den Text zu laden. Im glücklichen Fall eben auch einmal einen kompletten Gedichtvers: Die Schönheit der Xenija, Tochter des Zaren Boris Godunow, gepriesen durch den Fürsten Katyrjow zu Rostow in einer Chronik von 1626 – „зелною красотою лепа, бела велми, ягодами румяна, червлена губами" (ein Antlitz von größter Schönheit, schneeweiß, mit rosigen Wangen, purpurnen Lippen) findet – auch dies eine Trophäe aus dem DTA – ihre annähernde Entsprechung in einem Sonett des barocken schlesischen Dichters Martin Opitz von 1624 (!):

Sie tregt in dem Geſicht zween Edel Aſteriten/
Die Lippen ſein Corall/ die Wangen ſein Robin/
Die zarten Brüste ſein von ſchönen Chriſolithen.
O were nicht Demant jhr Hertz vnd harter Sinn!
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Wundert einen das? Liebende Augen sehen eben doch konventionell, und wenn man einerseits bedenkt, dass Opitz’ Sonett offenbar selbst eine nicht näher bezeichnete Übersetzung „Aus dem Holländischen“ war, nämlich eigens um der Tochter des befreundeten Theologen und Aufklärers Hugo Grotius, „die man in den damahligen Zeiten vor ein Wunder von Verstand und Schönheit hielt, die Erlernung der Deutsche Sprache zu erleichtern“ (Christian David Hohl, Chemnitz 1768), und dass andererseits des dänischen Königs Friedrich II. jüngster Sohn Hans, angezogen von der Kunde dieser, ach nein, jener anderen Schönheit, schon auf dem Weg nach Moskau gewesen war, die Zarewna Xenija zu ehelichen, ihr Diamant schon im Abschmelzen, als eine verdächtig tückische Krankheit ihn vor den Toren der Stadt, von einem Tag auf den anderen, in der Blüte seiner neunzehn Jahre dahinraffte – bedenkt man all dies, ist man geneigt, die Korrespondenz unschuldiger Gesichtsfarben im Lichte der komparatistischen Poetologie des Epithetons ebenso wie des strategischen europäischen Heiratsmarktes für gar nicht so zufällig oder jedenfalls für permeabel zu halten.

Genauso hätte unser Autor Michail Schischkin es jedenfalls gerne, vermute ich mal, und am liebsten nicht nur bei diesem einen, sondern auch bei den dreihundert übrigen Zitateinsprengseln im Text, und natürlich muss ein Übersetzer da passen – wohin soll das führen! Also nur eine Zeile Schiller hie, ein in den deutschen Spruchbeutel gelangter Shaw da, um die Geste der Ermächtigung vorzuführen. Denn der Autor zitiert auch um des Rituals, der Aura willen. Es gibt nicht nur die Schönheit des gelungenen Zitats – das, fremd im Text wie der Fremdkörper in der Muschel, zur Perle werden kann – es gibt auch eine Schönheit des Zitierens.

Die allerschönste Gelegenheit dazu musste ich mir jedoch verkneifen – im zweiten großen „Zitatmassiv“ – vorläufiges Gerichtsurteil und zugleich Ausweitung des Verfahrens, denn nicht mehr nur russische Quellen werden zitiert, frühe Zeugnisse der Russlandbetrachtung aus aller Welt, deutsche Autoren darunter: Heinrich von Staden, Balthasar Rüssow, Conrad Bussow. Wunderbar, sollte man meinen: Endlich etwas, das nicht gefälscht werden muss! – Weit gefehlt. Denn hier ist es der Autor, der aus Übersetzungen zitiert, die fast durchweg aus den 1920/30er Jahren stammen und auch danach klingen, nüchtern den Inhalt referieren; eine ganz andere Stimmgewalt akkumuliert sich. Wenn ich aber hier darauf verzichte, Campense, Chancellor, Horsey et al. auf alt zu trimmen, stäche Staden, der alte westfälische Opritschnik, ganz unmanierlich hervor! Paradox, aber konsequent: Ausgerechnet die paar alten Quellen, die ich original einbringen könnte, muss ich modernisieren, d.h. behutsam ins, nun ja, historisierende Neudeutsch übertragen.

So kanns einem gehen mit den Konzepten. Alles ist möglich, nichts ist beliebig.

Dank dem Autor für Geduld, Vertrauen (ist gut) und Kontrolle (ist besser! Michail war bereit zum Erstlektorat. Wenn ich an manche temporären Begriffsstutzigkeiten denke, wird mir heute noch schwül.)

Dank dem Verein Zuger Übersetzer (jawohl: das Bildungsbürgertum eines kleinen Schweizer Kantonsortes hat die Patronage für eine prekär in den Seilen am Turm zu Babel hängende Kunsthandwerkerklientel übernommen), ohne dessen Zueignung es das Buch so nicht gäbe.

Dank dem Verlag, der lange auf das Manuskript gewartet und binnen Kurzem ein Buch daraus gemacht hat.

Dem Leser, der Leserin aber, den/die danach zu greifen gelüstet: Nur Mut!
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Bildlegenden

1 Die Eroberung der türkischen Donaufestung Ismail durch General Suworow und seine Armee 1790 ist ein Meilenstein russischer Heeresgeschichte, aber in diesem Roman eher nur ein hübscher „roter Hering“.
2 Belebei (Baschkirien) im 19. Jh. Hier, am südöstlichen Zipfel Europas, beginnt es.
3 Domenico Ghirlandaio, H. Hieronymus, ein Fresko von 1480 in der Chiesa Ognissanti, Firenze. Hieronymus, den Schutzpatron für uns Übersetzer, sieht man hier die Bibel aus dem Hebräischen ins Lateinische übertragen. Und man sieht die vielen Schachteln, die es dafür braucht.
4 So hat man sich das Absolventenabzeichen an Alexander Wassiljewitschs stolzgeschwellter Brust auf Seite 136 vorzustellen …
5 … und so die Haarfarbentafel des deutschen „Rassehygienikers“ Eugen Fischer, mit der überraschend Feldforscher Motte unter den Samojeden auf Seite 243 hantiert.
6 Alexander Ulybyschew (1794-1858), aus Dresden gebürtiger Musikkritiker, Mozartbiograf, hat 1819 eine kühne kleine Utopie über Russland auf Französisch verfasst.
7 Lieselotte Remané (1914-2002) hat sie der 1970ern in der DDR aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt.
8 Miniatur zu Sawwa Grudzyn, 1919, von Iwan Blinow (1872-1944), einem exzellenten Kalligrafen und Buchmaler, der alte Handschriften der altrussischen Literatur restaurierte sowie neue anfertigte und illustrierte.
9 Xenia Borissovna unter der lastenden Hand ihres Vaters. Boris Sworykin, nach 1910
10 Martin Opitz (1597-1639)
11 Mariä Geburt „na putinkach“ in der Moskauer Tschechow-Straße, heute Malaja Dimitrowka, 1970er. (Foto: Witali Titow). Links davon in dem Haus hat Michail Schischkin gewohnt und dem Läuten zugeschaut – im Roman mit Francesca und Matwej Andrejewitsch und wohl auch im Leben. Auf dem Umschlag der russischen Ismail -Ausgabe von 2010 gibt es ein Foto, das von drinnen, am Fensterkreuz vorbei auf den Glockenturm blickt, was den Autor sehr verblüfft hat. Wie sich herausstellte, wohnt der Grafiker Andrej Bondarenko heute zufällig in Schischkins alter Wohnung.
12 Genau lässt es sich des Nebels wegen nicht sagen, aber dies könnte der Bahnhof sein, wo alles endet: Dinhard, zwischen Winterthur und Stein am Rhein.

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