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SPECIAL zu Nataša Dragnic

Am Schreibtisch

Nataša Dragnić

Am Anfang steht nichts. Nichts Greifbares oder Nennbares. Aber wir wissen alle, dass es das Nichts nicht gibt. Da ist immer Energie, die alles geschaffen hat. Auch in einem Nichts. Und in dieser Energie sind Gedanken, die wir kaum wahrnehmen. Wir sind uns ihrer nicht bewusst, also lassen wir sie vorbeifließen. Aber sie fangen an, uns Tag und Nacht zu verfolgen, geben keine Ruhe, lassen sich nicht vertreiben und beginnen, sich in Ideen und Bilder zu verwandeln, und wenn sie es wert sind behalten zu werden, werden sie zum Film. Dies passiert von anderen unbemerkt in unserem Kopf, der während dessen ein ganz normales Leben führt. Alles wie üblich. Jeder würde schwören, wir schauten lediglich aus dem Fenster. Während einmalige, unglaubliche Geschichten in unserem Kopf stattfinden, und eine davon eben dabei ist, bei uns zu bleiben. Uns zum Autor zu machen. Aber der Weg zum Arbeitstisch ist noch lang, noch bleiben wir am Fenster stehen. Lächelnd. Denn wir wissen schon, was niemand anderer weiß. Wir wissen, dass wir jetzt ein Was haben und dringend ein Wie brauchen.



Ab zum Skelett also. Wir suchen die beste Form für die ausgewählte Geschichte. Wir suchen nach dem Erzähler, seiner grammatikalischen Person und Zahl; nach der passendsten Erzählzeit, was oft heikel sein kann, denn oft brauchen wir verschiedene Erzählzeiten; nach den Perspektiven und Ebenen. Es gibt so viel zu entscheiden! Und die ganze Zeit tun wir nichts. Manchmal wird man uns vorwerfen, abwesend zu sein, man wird unseren Namen zweimal rufen müssen. Man wird sich vielleicht darüber wundern. Während wir über unsere Personen nachdenken. Ja, es ist so weit. Wir lassen sie allmählich entstehen, Konturen annehmen. Wir geben ihnen eine Umgebung, einen Geburtsort, einen Beruf, wir denken über ihre Vorlieben und Hobbys nach. Es entstehen Familienstammbäume und Namen, vor allem Namen. Die sind sehr wichtig. Wir finden die Orte, die unsere Geschichte und unsere Personen brauchen, wir erfinden Meere und Städte und Landschaften und suchen sie dann auf der Karte. Wir messen Entfernungen und halten Ausschau nach Flughäfen und Autobahnen. Wir sammeln Informationen und Bildmaterial und Kenntnisse, die der zukünftige Leser nie zu lesen bekommen wird. Denn wir werden ihm doch nicht alles verraten! Denn wir – und der Leser noch mehr – lieben die leeren Stellen im Text, die alles möglich machen, die die Fantasie beflügeln, die den Leser zum Mitmachen verführen. Wie ein Forensiker fügen wir äußerst behutsam und gut überlegt all die Knochen zusammen, die unser Skelett benötigt, wir schmücken es mit Muskeln und Fleisch. Wir spüren es, bald ist es soweit. Bald werden wir schreiben dürfen.

Ab zum Tisch also. Zum Computer. Oder zum Heft und Bleistift oder zur Steinplatte und Meißel. Jeder nach seinem Geschmack. Denn jetzt wird geschrieben und geschrieben. Und gelitten und gelöscht. Es werden Notizen gemacht, es wird geprüft und noch einmal geprüft, und es wird geschrieben und geschrieben und geweint und geschrieben und gelacht und geschrieben und gelöscht und radiert und neugeschrieben. Und wir werden uns ärgern und unsere lahmen Finger verfluchen, die mit unseren Gedanken den Schritt nicht halten können, die nach langen Stunden nur noch Unsinn von sich geben. Und plötzlich, nach endloslangen Wochen oder Monaten sind wir da. Am Ende. Wir setzten ungläubig und unwillig den Endpunkt und bleiben sitzen. Nichts. Eine Leere ohne Ende. Es ist ein anderes Nichts als am Anfang unserer Reise. Dieses Nichts bringt nichts, ist völlig inhalts- und ahnungslos. Und wieder stehen wir am Fenster, und diesmal beäugt man uns argwöhnisch, denn die Leere ist uns anzumerken. Das Gemeinsame aber an diesen beiden Nichts ist deren Kurzfristigkeit. Auf sie ist Verlass. Denn bald setzen wir uns wieder an den Tisch und fangen an zu lesen, zu korrigieren, umzuschreiben, zu streichen, neu zu schreiben, zu denken und zu überdenken…bis wir verschmitzt lächeln und sagen „das ist es“, auch wenn keiner da ist, um es zu hören. Das ist sie. Unsere Geschichte. Und dann wird tief ein- und ausgeatmet, und was übrig bleibt ist das Glück. Absolutes Glück des geschafften Schaffenden.