Früher hast du erste Male geliebt. Der erste Kuss mit spröden Lippen und klopfendem Herzen. Das erste Gehalt – so wenig, dass es in drei Nächten verpulvert war. Das erste Mal im Club, als du zitternd vor Aufregung versucht hast, den Türsteher mit einer dicken Make-up-Schicht zu täuschen. Die erste dubiose Affäre, die du deinen zweifelnden, aber wohlwollenden Eltern vorgestellt hast. Der erste verstörende Film, den du allein in einem dunklen Kino angeschaut hast und das erste Mal, als du alleine Autobahn gefahren bist und in fiebriger Anspannung das Lenkrad umklammert hast. Deine erste Steuererklärung, als du dich seriös und richtig erwachsen gefühlt hast. Das erste Mal, als du vollkommen überraschend verlassen wurdest und dann darüber hinwegkamst – zu deiner noch viel größeren Überraschung. Oder als du deine Jungfräulichkeit verloren hast und sich nicht wirklich etwas verändert hat. Die erste Nacht allein in deiner ersten eigenen Wohnung … Augenblicke voller Glück, Traurigkeit und Adrenalin, die das Ende oder der Beginn eines neuen Abschnitts waren. Du denkst gerührt an die Momente zurück, die dich haben wachsen lassen. Und auch wenn dir erste Male heute seltener passieren, gibt es sie noch. Sie nehmen neue Formen an, sie begegnen dir in komplexerer Gestalt.
Als du vor einigen Jahren das erste graue Haar bei dir entdecktest, machte es dir komischerweise gar nicht viel aus, denn einige deiner Freundinnen hatten schon mit fünfundzwanzig welche. Aber bei diesem ersten Mal bist du regelrecht entsetzt. Es trifft dich mit voller Wucht. Ein einzelnes weißes Schamhaar. Und es ist keine Sinnestäuschung, wie du zunächst gehofft hattest. Du schaust genauer hin, zupfst daran – es ist definitiv da und geht nicht weg. Du kannst nichts anderes mehr sehen, spöttisch beansprucht es deine ganze Aufmerksamkeit. Ist das überhaupt normal? Darauf warst du nicht gefasst, noch nicht. Dir ist vollkommen klar, dass der eine oder andere Teil von dir nicht für immer gleich bleiben wird und dass die Spielregeln nun mal so sind, aber mit diesem ersten Mal wolltest du nichts zu tun haben. Doch bevor du vollkommen in deinem Elend versinkst, musst du an dieses eine blond-weiße Augenbrauenhaar denken, das du schon hast, seit du fünfzehn bist. Du kennst es gut. Von Zeit zu Zeit wächst es nach, widerspenstig, einsam und immer an derselben Stelle, links am Bogen, nicht pigmentiert. Es war immer das Einzige seiner Art – bis jetzt. Wenn sein weißes Pendant nun seine Unabhängigkeit behauptet, dann soll es eben so sein. Unter einer Bedingung: Es muss Single bleiben.
Du denkst gerührt an die Momente zurück, die dich haben wachsen lassen.
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