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Rainer Maria Schießler

Rainer Maria Schießler

ist einer der bekanntesten Kirchenmänner in Bayern und Münchens bekanntester Pfarrer.
Seit 1993 ist er Pfarrer in St. Maximilian in München und übernahm im Jahr 2011 auch die Münchner Heilig-Geist Gemeinde am Viktualienmarkt. Schießler arbeitet jedes Jahr im Schottenhamel-Zelt des Münchner Oktoberfestes als Bedienung; das verdiente Geld spendet er für wohltätige Zwecke. Seine eigene Talkshow „Pfarrer Schießler“ wird in unregelmäßigen Abständen beim BR produziert und ausgestrahlt.
Ich hatte noch nie ministriert bei einer Messe. Es traf mich gänzlich unvorbereitet. Die Kirche war rammelvoll und zum ersten Mal spürte ich Lampenfieber, bei dem sich der Magen nach ganz weit hinten zusammenkrampft. Starr vor Schreck bin ich in die Sakristei und habe das Ministrantengewand übergezogen. Dort stand der Priester, ein gewisser Elmar Gruber, der frei tätig war in unserer Gemeinde – aber aus unserer Pfarrei stammte. Der kannte weder mich noch meine Eltern. Ich starrte ihn an, wie er so würdevoll dastand in seinem Messgewand. Er dagegen schien mich nicht zu beachten, so vertieft war er in seine Vorbereitung. Bei diesem Priester habe ich dann zum ersten Mal ministriert. Unter solcher Anspannung, mitderartiger Konzentration, peinlichst bedacht, keinen Fehler zu machen, Mamas Stimme über mir, mich ruhig zu verhalten – mit Tunnelblick, ohne Wahrnehmung, was im Kirchenraum sonst noch vor sich ging. Da waren alle Gefühle auf einmal in mir drin. Von Angst über Euphorie bis Stolz, es endlich geschafft zu haben, ein Ministrant zu sein. Eine solche Aufregung. Ein solcher innerer Aufruhr – und dennoch: es lief gut. Ich habe alles richtig gemacht. Kannte den Ablauf. Stand immer richtig. Noch nie war ich während einer Messe so nah am Altar gewesen. Und, mein Gott, wie war das schön hier oben. Ich durchlebe heute noch dieses Gefühl wie im Traum. Ich kann das auf Knopfdruck abrufen. Sehe meine Freunde, wie sie atemlos zu mir aufschauten. Wie der Gottesdienst in der voll besetzten Kirche seinem Höhepunkt zustrebte, der Mahlfeier. »Meine« Gabenbereitung war einfach nur perfekt. Formvollendete Bewegungen. Elmar Gruber hatte schon den Leib Christi und die Blicke in den Himmel gehoben, spricht die Wandlungsworte – und ich – ich hätte eigentlich läuten müssen. Stattdessen bin ich ballettmäßig einen kleinen Schritt für die Menschheit, einen entscheidenden für mich nach vorne getreten, habe mich leicht verbeugt wie im Theater und im hohen Bogen unaufhaltsam alles herausgekotzt, was in meinem kleinen, von Aufregung und Angst durchgewalkten Magen vorhanden war. Das ganze Frühstück. Die ganze Anspannung. In einer gewaltigen Eruption einfach alles weggekotzt. Vor die Füße der Leute und meiner Spezln in der ersten Bank. Das ist die Altarstufen runtergeronnen, wie die Paradiesströme in Jerusalem. Die anderen Ministranten sind noch um den Altar gestanden und haben fassungslos geschaut. Der ganze Saal hat fassungslos geschaut. Und der Mesner hat mich schon in der Sakristei erwartet und schönweitergemacht mit der Demütigung, bayerisch derb hat er geflucht und mich beschimpft: »Ja, kannst du net früher reinkommen? Den ganzen Tempel hast mir zugespeit. Das Gewand nimmst mit zum Reinigen, sag deiner Mutter, was du angerichtet hast, sie muss es fürdich richten …« Ich bin völlig niedergeschmettert nach Hause geschlichen.
So ungefähr habe ich mir später immer das Kriegsende vorgestellt. Kapitulation. Zug der Gefangenen. Vollkommene Leere und Kraftlosigkeit. Was für eine Niederlage! Erst so erhöht, endlich Ministrant. Und dann so tief gefallen. Erniedrigt vor allen. Ich habe gewusst, das war die kürzeste Karriere eines Ministrantenlebens in der ganzen Kirchengeschichte. Dauer ca. zwanzig Minuten. Und ich der bekannteste: mein Name würde noch Jahre später die Runde machen in der »Hall of Shame«. Die Pfarrei würde mich nie wieder in den Kreis der Erlesenen zurückholen. Der Mesner, rotes Wutgesicht,zwei Hörner, langer Schwanz und Schwefelgeruch, wie hieß er gleich? – würde das zu verhindern wissen. Ich kotze denen ja doch nur wieder »den Tempel voll«, würde er sagen. Meine Darbietung war einfach zu spektakulär. Und jeder würde sich lustig machen über mein Unglück. Zunächst am Montag in der Schule. Dann immer weiter. Für Jahrzehnte. Ende. Aus. Und Amen. Ich war an dem Punkt, wo erwachsene Menschen ans Auswandern nach Australien oder über plastische Gesichtsoperationen nachdenken. Ich bin zu Hause zur Tür reingeschlichen. Habe meiner Mama tränenüberströmt von meinem Schicksal berichtet. Sie war zu meiner Überraschung gar nicht böse, eher besorgt und verständnisvoll und machte sich, praktisch, wie sie war, gleich an die Reinigung des Ministrantenkittels. Mit einem Kamillentee versorgt lag ich wenig später auf der Couch in unserem Wohnzimmer und versuchte zu sterben. Innerlich war ich schon tot. Du weißt, du kannst es nicht ungeschehen machen. Du weißt, die Folgen deines Sturzes würden unabsehbar sein. Wie auch sollte ich das je wieder
gutmachen? Für mich war eine Welt zusammengebrochen. Und in diesem Zustand der Zerrüttung liegst du da mit deinen zehn Jahren Unschuld, als plötzlich das Telefon die Stille durchschneidet. Ich war elektrisiert und sah die nächste Stufe der Vernichtung auf mich zukommen. Jetzt würde der Mesner zu Hause Meldung machen,
seine Wut rausbrüllen und alles würde noch schlimmer. Ich lauschte, wie meine Mutter mit einem Unbekannten telefonierte, erst leise zuhörend, dann bestätigend, dann einmal lachend. Und wie sie das Gespräch mit einem freundlichen Gruß beendete. Einen Moment später setzte sie sich neben mich auf die Couch und sagte: »Du, da hat jetzt der Pfarrer Gruber angerufen, dem du die Messe geschmissen hast.« »Und?«, rutschte ich tiefer ins Sofa. »Er hat gefragt, wie es dir geht.« »Was?« »Und ich soll dir ausrichten, er ist stolz auf dich!« »Wie bitte? Wie kann der stolz auf mich sein?« »Er hat es so ausgedrückt: Weil du heute der Einzige in der gesamten Messe gewesen bist, der wirklich, aber auch wirklich alles gegeben hat.« Ich habe den Wortwitz erst nicht kapiert. Diese Doppeldeutigkeit. »… er hat wirklich alles gegeben.« Aber diese Art Humor war typischfür den Elmar Gruber – mit Worten zu spielen. Er bat meine Mutter, mich zum nächsten Gottesdienst zu schicken. Er würde mich selbstverständlich wieder ministrieren lassen. Der ganze Skandal mag für Erwachsene nichtig erscheinen – und die Haltung Elmar Grubers aus pädagogischer Sicht vollkommen selbstverständlich. Für mich war es das prägendste Erlebnis meines Lebens, es war, als wäre mir Jesus Christus höchstpersönlich erschienen, hätte seine Arme ausgebreitet und mich zurückgenommen. Elmar Grubers vorbehaltlose Barmherzigkeit war für einen Gefallenen wie mich, der eben noch geglaubt hatte, er sei in Ewigkeit verstoßen, die vollkommene Erschütterung, so unerwartet traf es mich. Ich hatte alles gegeben – und alles bekommen. So blöd es klingt, aber vom Gefühl her habe ich nie wieder in meinem Leben so derart intensiv erfahren, was »Liebe deinen Nächsten« und bedingungslose Barmherzigkeit wirklich ist. Ich war von etwas sehr Großem, einem sehr schönen Gefühl vollkommen ausgefüllt. Niemand hat mir danach noch einmal irgendetwas aus dem Wirken von Jesus Christus erklären müssen. Wer das mal erlebt hat, braucht keine fünf Jahre Theologie studieren,
um ein guter Seelsorger zu werden – oder andersherum: Wer das Prinzip der Nächstenliebe nicht mit jeder Faser seines Seins in sich aufgesogen hat, der sollte niemals Priester werden.

Himmel - Herrgott - Sakrament

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