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SPECIAL zu »Die Hure« von Laura Gustafsson

ZEITREISEN UND DIE MYTHOLOGIEN DER ANTIKE

Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara

Laura Gustafsson ist eine Autorin, die herausfordert. Ihr Debütroman – eine Mischung aus Literatur, Pornografie und Feminismus – ist mal explosiv und unberechenbar, dann wieder lustig, dann auf einmal sehr, sehr ernst. Ein litararisches Kill Bill, sagt die Presse, und das trifft es genau. Der Leser wird berührt, schockiert, amüsiert. Und das alles gleichzeitig. Was will man mehr?
In der westlichen Welt pflegt man die Zeit als lineares Kontinuum zu sehen. Die Vergangenheit betrachtet man rückwärtsgewandt, man nennt sie Geschichte. In die Zukunft schaut man vorwärts. Über sie kann man Prophezeiungen machen.

Mein eigener Zeitbegriff ist schichthaft: Ich fasse die Geschichte als Stücke auf, die sich übereinandergelegt haben. Vielleicht könnte man auch von Folien sprechen. Wir können tieferliegende Folien betrachten, doch wir sehen sie immer durch die Folien hindurch, die sich über sie gelegt haben.

Ein Stilmittel, das ich liebe, ist der Anachronismus, also die Platzierung irgendeines Gegenstands oder Sachverhalts in die falsche Zeit. Dies gilt insbesondere in der historischen Fiktion als Fehler, was an sich komisch ist, denn Fiktion ist ja in jedem Fall erlogen. Die Verwendung von Anachronismen kann Dinge hervorheben, die man sonst nicht bemerken würde. Wenn man ein Phänomen der Gegenwart in einen historischen oder mythischen Kontext überführt, kann das dazu beitragen, dass man es deutlicher sieht. Ich selbst habe zahlreiche mythische Personen verwendet, die ich mit alltäglichen Selbstverständlichkeiten wie Antifaltencremes, Reality-TV und Boulevardzeitungen kollidieren lasse.

Eine der Hauptfiguren meines Buchs ist Aphrodite. Die Göttin der Liebe und des Sex aus der griechischen Mythologie ist eine Gestalt, auf der sich besonders viele kulturelle Schichten abgelagert haben. Von ihr gibt es zahlreiche Repräsentationen, von der antiken Bildhauerkunst über Botticellis Venus bis hin zu der in pinkrosa Unterwäsche gekleideten Aphrodite der Kriegerprinzessin Xena. Aus irgendeinem Grund erscheint Aphrodite immer als Blondine. Wäre sie wirklich griechischer Herkunft, dann wäre die helle Haarfarbe ausgesprochen unwahrscheinlich.

Aphrodites Blondheit ist ein Anachronismus (ebenso wie die Vorstellung von einem blonden Jesus). Diese Vorstellung hat einen unangenehm rassistischen Hintergrund, der damit zu tun hat, dass Helles für schöner gehalten wurde als Dunkles.

All dessen war ich mir bewusst, und doch habe auch ich aus meiner Aphrodite eine Blondine gemacht. Für mich ist Aphrodite dasselbe wie die durch Baywatch bekannt gewordene Pop-Ikone Pamela Anderson. Pamelas Männergeschichten und kurze Ehen, ihre Kinderliebe, ihre Schönheit und Sexualität könnten geradewegs aus Aphrodites mythischem Leben stammen. Und schließlich ist auch Pamelas Leben mythisch. Das Leben aller Hollywood-Stars ist mythisch. Wir kennen sie nicht persönlich, wir kennen nur die Geschichten, die über sie erzählt werden. Und von denen gibt es ziemlich viele. Die Vorstellung von der Beziehung zwischen Courtney Love und Kurt Cobain oder das Wissen um Paris Hiltons Gefängnisstrafe gehört, wenn nicht zur Allgemeinbildung, so doch zu unserem Weltbild. Früher wurden Glaubensvorstellungen durch Rituale verbreitet. Heute gibt es das Internet.

Ich betrachte die Personen der Mythologien als Gestalten, die existieren, seit sie erfunden wurden. Sie sind nicht in der Antike, dem Mittelalter oder den 1950-er Jahren stecken geblieben. Sie können ihre Moralvorstellungen überdenken und sich modern kleiden. Um sie herum haben sich neue Bedeutungen und neue Geschichten gesammelt. Deshalb halte ich es nicht für nötig, den ursprünglichen Mythen treu zu sein, die zudem auch untereinander widersprüchlich sind. Aus der Biografie der Aphrodite habe ich die Teile gewählt, die mir passten. Den Rest habe ich selbst erfunden.

Es gibt einen überraschenden gemeinsamen Faktor bei diesen kulturellen Erzählkomplexen. In beiden finden sich viele interessante und aktive Frauengestalten. Mag sein, dass die Frauen in beiden Kontexten nicht besonders feministisch handeln. Aber gerade deshalb kann man sie ja in neue und bessere Geschichten versetzen. Man kann sie in Abenteuer verwickeln, in denen sie die Berechtigung ihrer früheren Taten infrage stellen müssen, oder ihnen Gelegenheit geben, ihre Motive darzulegen. In der Mythologie sind die Taten der Frauen ja häufig auf ihren niederträchtigen Charakter zurückzuführen: Bisweilen inszenieren sie ein Drama aus purer Boshaftigkeit oder Gier.

Freilich sind auch die Männergestalten kaum psychologischer motiviert. Was soll man z. B. von Odysseus halten, der sich praktisch jahrzehntelang in der Welt herumtrieb, ohne einheitlichen roten Faden?

Abschließend möchte ich noch Aristoteles erwähnen, der in Die Hure ein bitteres Schicksal erlebt. Aristoteles‘ Poetik ist immer noch ein zentrales Lehrwerk für das Drama. Er betont darin die Geschlossenheit der Geschichte und behauptet, jedes Element, das nicht dem Fortschreiten der Handlung dient, sei überflüssig. An eine solche Überflüssigkeit glaube ich nicht. Anstelle eines aristotelischen Dramas möchte ich vielleicht literarische Montagen schreiben. Zur Idee der Montage gehört, dass die Aufnahmen nicht miteinander verknüpft zu sein brauchen; die Verbindung entsteht im Kopf des Rezipienten. In der Literatur könnte die Montage meiner Meinung nach eine Alternative zur linearen Handlungserzählung sein.

Eine Alternative erscheint schon deshalb notwendig, weil es langweilig ist, wenn man ein ganzes Kunstwerk zu einem Referat der Handlung komprimieren kann. Ich will die Leser nicht langweilen, das verstieße gegen meine Ethik. Aber herausfordern möchte ich sie schon. Literatur muss mehr sein als die Handlung irgendeiner erfundenen Geschichte. Der Leser muss lernen, mehr zu fordern und entgegenzunehmen.