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SPECIAL zu »Neuntöter« von Ule Hansen, Heyne Verlag

Ule Hansen
© Werner Huthmacher Photography
Als Autorenduo Ule Hansen ist »Neuntöter« Ihr erster Thriller. Worin liegt die Schwierigkeit, zu zweit einen Thriller zu schreiben und was hat Sie an der Idee gereizt?

Ule: Zu zweit zu schreiben ist eigentlich unmöglich, und doch tun wir es seit Jahren. Bisher waren es Sach- und Drehbücher. Romane sind noch mal schwieriger, besonders wenn es um eine Kriminalgeschichte geht. Wir mussten erst rausfinden, wie wir uns das Terrain aufteilen, wer was besser kann als der andere. Wir haben dabei Neues übereinander erfahren – auch Dinge, die leicht verstörend sind.

Hansen: Wir hatten nie eine andere Wahl, wir mussten zusammen schreiben – das war klar, als wir uns kennenlernten, es war Teil der Anziehung, es ist eine wahre Lust. Aber eine Schreibbeziehung steckt auch voller Streitpotential, und das will raus. Man sucht im Schreiben die Harmonie, findet aber den Konflikt, die Zusammenarbeit ist ein Wechselbad aus Freude, wenn wir zusammenfinden, und lautstark zuvor ausgefochtenen Meinungsverschiedenheiten. Es ist für unsere Nachbarn nicht immer schön, wenn wir zusammen schreiben.

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»Neuntöter« beginnt damit, dass auf einer Baustelle an der Ecke Potsdamer Platz/Leipziger Platz in Berlin drei Leichen gefunden werden, etwa auf halber Höhe des Gebäudes hängend, fast vollständig in Panzertape eingewickelt. Wie sind Sie auf die Idee für dieses Szenario gekommen?

Ule: Dieses potemkinsche Haus gibt es wirklich (siehe Fotos). Seit Jahren steht es da, auf einem der teuersten Grundstücke der Stadt, mitten im Zentrum, und ist doch nichts als hohle Fassade. Und keiner weiß es. Eines Tages gingen wir am Potsdamer Platz spazieren und fragten uns, warum wir nie in die Läden in dem Gebäude da rein gegangen sind. Wir überquerten die Straße, und erst als wir die Tür zum Laden öffnen wollten, bemerkten wir, dass nicht nur die Tür, sondern der ganze Laden bloß aufgemalt war. Hinter der Plane verbirgt sich nicht mal ein abbruchreifes Gebäude, sondern nichts als ein dreidimensionales Stahlgerüst, das die gesamte Baulücke ausfüllt.
Schon mehrfach sollte dort gebaut werden, aber immer wieder kam etwas dazwischen. Es wurde nie auch nur angefangen. Das ist so typisch für Berlin, nach außen Schau, doch hinter den Kulissen alles ein Provisorium. Da dachten wir: Die Berliner haben echt Talent, die offensichtlichen Dinge zu übersehen. Es fehlen eigentlich nur ein paar Leichen.

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Mit der intelligenten, menschenscheuen und vor allem auch schwer traumatisierten Fallanalystin Emma Carow haben Sie in »Neuntöter« eine ganz besondere Ermittlerfigur geschaffen. Wie und wo haben Sie für diese Figur recherchiert? Und was ist das Besondere an Emma Carow?

Ule: Emma Carow wurde nicht aufgebaut, sie war plötzlich da. Wir wissen auch nicht, woher sie kam. Sie hat uns vor allem mit ihrer Kompromisslosigkeit überrascht, sie kennt keine Grenzen: Hoppla, dachten wir, das kommt nicht von uns. Das war auch für uns eine ganz neue Erfahrung – mit so einer Figur einmal voll mitzugehen, egal, wohin sie einen führt. Das Verrückte an Emma ist ja, dass sie Angst vor den falschen Dingen hat. Und vor den wirklich furchterregenden nicht. Man weiß nicht, ob man Emma ohrfeigen oder beschützen will.

Hansen: Wir fragen uns mittlerweile, ob sie doch mehr mit uns zu tun hat, als wir glauben. Zwar haben wir nie solche Erfahrungen gemacht wie sie, aber etwas in ihrer Seele finden wir doch in uns wieder, diese verzweifelte Sehnsucht nach Leben vielleicht, die immer wieder im letzten Moment vom Leben selbst durchkreuzt wird. Dieses intensive Balancieren auf Messers Schneide. Vielleicht ist es doch so, dass alle Menschen dieses Gefühl schon mal erlebt haben, im Guten oder im Bösen. Wir lieben diese Frau, sie ist wie unser Kind, das wir nicht ganz verstehen, ein Spiegelbild, das sich irgendwann verselbständigt hat.

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»Neuntöter« kreist um Menschen mit einem schweren Trauma. Was hat Sie an diesem Thema gereizt?

Hansen: Wenn ein Leben schiefgelaufen ist, sucht man die Gründe dafür. Und sehnt sich nach einer einfachen Antwort. Und so sucht man die eine Tat, die alles ausgelöst hat, das Erlebnis, das das Leben zerstört hat, die Kreuzung, an der man falsch abgebogen ist: das Trauma als Geburtsstunde eines verfehlten Lebens. Es ist komplexer als das, aber man braucht eine klare Episode, die man sich erzählen kann, damit man sich sagen kann, ah, deshalb, jetzt verstehe ich die Geschichte, jetzt verstehe ich dieses Leben, jetzt verstehe ich mich selbst.

Ule: Diese Episode kann irgendwann zur Legende werden, auf der die eigene Identität aufgebaut ist, und dann ist die Frage, wie kommt man da je wieder raus? Was wird aus diesen Menschen? Schaffen sie es, wieder glücklich zu werden? Oder sind sie für immer verloren? Die einen schaffen es, die anderen nicht, wie im echten Leben, aber was unterscheidet sie voneinander? Wie findet man den Weg zurück? Das ist doch das Geheimnis, das wir alle suchen.

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Als Schauplatz für Ihren Thriller haben Sie Berlin gewählt, als Leser erkennt man viele Plätze und Straßen wieder. Warum Berlin und was bedeutet Ihnen diese Stadt?

Hansen: Wir haben in München und Mainz studiert, beides eher ruhige Städte – dann kamen wir nach Berlin und fanden keine mondäne Metropole, sondern eine ausufernde, hemmungslose Kleinstadt. Sie ist herzlos und herzlich zugleich, halb kaputt und voller Leben – Punks und Althippies, Ausländer und Ur-Berliner, Revoluzzer und Penner, Künstler und Kulturbanausen, schicke neue Gebäude neben Bruchbuden, durch die Straßen von Berlin zu gehen ist wie durch einen riesigen Roman spazieren, an jeder Ecke eine Geschichte, alles zusammengewürfelt, und alles kämpft ums Überleben – der eine will Geld verdienen, der andere zetert über sein Los; der eine will die Welt verändern, der nächste tut nur so, will aber in Wahrheit nur das Mädchen abschleppen, das gerade hier zu Besuch ist.

Ule: Wir wollten auch den Alltag von Leuten zeigen, die mit dem hippen Berlin nichts zu tun haben. Den stinknormalen Durchschnittsbürger, der einfach seine Arbeit machen will. Und sein Leben leben, ohne sich darum zu scheren, was grade hip ist. Obwohl er es könnte. Die Ruppigkeit, die man hier vom Hipster bis zum Proll finden kann, hat ja auch damit zu tun, dass man sich gegen die Überreizung der Stadt irgendwie abpanzern muss. Zumindest im Winter. Dazu muss man wissen, dass Berlin im Winter eine komplett andere Stadt ist als Berlin im Sommer. Ich habe noch nie in einer Stadt gelebt, die monatelang so dunkel und kalt wird, das schlägt aufs Gemüt, wenn man nicht aufpasst.

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Sie haben auch schon viele Drehbücher verfasst, beim Lesen hat man den Film geradezu vor Augen. Können Sie sich eine Verfilmung von »Neuntöter« vorstellen? Wer wäre für Sie die ideale Besetzung für Emma Carow?

Ule: Wir haben versucht, filmisch zu schreiben. Obwohl es nicht so klingt, ist die Geschichte ja sehr subjektiv erzählt. All die schrecklichen Dinge, die geschehen, durch Emmas Augen gesehen. Es ist ein wilder Ritt durch die Hölle in einer Seifenblase, wenn man so will. Einer Seifenblase, die jederzeit platzen könnte, denn Emma ist kein stabiler Charakter. Es wäre toll, das als Film zu sehen. Ehrlich gesagt ist das aber schon der Fall, ich sehe es ständig als Film vor mir, wenn ich schreibe, und habe sogar den Soundtrack dazu im Ohr – all das, was ich gehört habe, während ich die jeweiligen Szenen schrieb.

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Sie sind ein Amerikaner und eine Deutsche – Sie kommen aus zwei verschiedenen Erzählkulturen, passt das überhaupt zusammen?

Hansen: Wir lieben beide die Kultur des anderen Landes, deshalb war es für uns immer reizvoll, die beiden Traditionen zusammenzubringen. Das Amerikanische ist ja sehr handlungslastig und gradlinig, es muss immer was los sein, und das, was passiert, muss Bedeutung tragen. Das Deutsche ist eher introvertiert, nachdenklich, auch detailverliebt, sogar mäandernd, als ob der Autor auf seinem Spaziergang durch die Handlung am Wegesrand unverhofft etwas Interessantes entdeckt und die Handlung völlig vergisst, weil er das so toll findet. Wir haben versucht, beide Traditionen zu vereinen: Es gibt hier ein paar mehr Nebenhandlungen als in einem typischen amerikanischen Thriller, und diese führen auch mal links und rechts des Weges, aber sie lenken nicht ab, weil sie stets mit der Haupthandlung verwoben sind: Am Ende führen alle Wege immer zurück zu Emma Carow.