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SPECIAL zu Nagel »Was kostet die Welt«

Last Exit Moseltal

Buchempfehlung von Annett Jaensch

Meise, ein Mittzwanziger aus Berlin, fühlt sich eigentlich ganz wohl in seiner Haut. Bei näherem Hinsehen offenbart sich allerdings, dass er ein ganz schönes Päckchen an Problemen und Macken mit sich herumschleppt: abgebrochenes Studium, Bindungsangst, Ekel vor speckigen Fünf-Euro-Scheinen, Verdacht auf Dopaminmangel – das sind die kleinen und großen Mosaiksteinchen seiner aufziehenden Quarterlife-Krise. Als sein Vater stirbt und Meise überraschend 15.000 Euro Erbe zufallen, steht für ihn schnell fest, dass es nur eine Möglichkeit gibt, es auszugeben: verschleudern und den Moment genießen. Das Geld soll ihn um den Globus tragen – anders als seinen Vater, der zwar den Kilometerstand seines Mercedes in Äquatorumrundungen angeben konnte, aber nie wirklich in der Welt herumgekommen ist.

Globetrotting mit Nachwirkungen
Das Geld seines Vaters führt Meise quer durch Europa, nach Nordafrika und schließlich zwei Monate in die USA. Zurück in Berlin hat er jedoch Mühe, wieder Tritt zu fassen. Selbst mit Verena, seiner Reisebekanntschaft, mit der er die USA wie in einem coolen Roadmovie erlebt hat, läuft die Kommunikation in Deutschland plötzlich in unerquicklichen Bahnen. „Vielleicht brauche ich ein Hörgerät, eine Brille und ein Megaphon, um zurück in die wirkliche Welt zu treten. Oder eine Schocktherapie. Oder eine infernoartige Sauftour.“ Weil ihm alles zu viel wird, plant er mit den knapp 1.000 Euro, die noch übrig sind, eine letzte Flucht in die Ferne. Da kommt ihm das Angebot eines Typen aus Süddeutschland, den er in New York kennen gelernt hat, gerade recht.

Entlarvende Psychogramme
Der Autor Nagel schickt seinen Protagonisten nach Renderich, einem fiktiven Kaff in Rheinland-Pfalz. Die Reise in die tiefste Provinz befeuert Meises Hirn, unablässig Psychogramme zu produzieren, die in wunderbar sarkastischer Art das Äußere mit dem Inneren der Figuren verbinden. So entpuppt sich Flo, sein Gastgeber, als beflissener Jungwinzer mit albernen Tunnelohrringen, dem nichts wichtiger scheint, als in die Fußstapfen seiner Eltern zu treten. Seine Freundin Judith tritt als rätselhaft schweigsame Skeptikerin mit Silberblick auf. Der Vater ist ein Sanguiniker, wie er im Buche steht, und die Mutter ein vollbusiges Kaliber, das so aussieht, wie das Wort „Mama“ klingt. Vater und Sohn klopfen Sprüche aus der Mottenkiste und meinen das auch noch ernst. Meise findet Flos Familie in ihrer betulichen Art zwar schrecklich peinlich, aber dieses Abziehbild der Harmonie macht ihm auch den jämmerlichen Zustand seiner eigenen, vom Scheidungskrieg der Eltern zermürbten Sippe klar.

Horror der Provinz
In Meise reift die Erkenntnis, dass es in der deutschen Provinz viel exotischer ist, als fremde Länder je sein könnten. Was gerade noch pittoresk war, wirkt zusehends beklemmend in seiner Ereignislosigkeit. Je mehr er eintaucht ins Landleben, desto steiler geht seine innere Unruhekurve nach oben – was irgendwann in delirierenden Phantasien gipfelt. „Was hältst du davon, wenn wir uns drüben bei Jagd- und Sportwaffen Jung ein paar Schrotflinten besorgen und anschließend einen Wagen klauen? Dann können wir wild ballernd durch die Gegend fahren à la Bonnie und Clyde ... Wenn du magst, überfahren wir ein paar Omis ...“ Auf dem alljährlichen Weinfest spitzen sich die Ereignisse schließlich zu. Einen Morgen und einen Filmriss später ist alles anders, und ihm bleibt nur die Flucht zurück in die Großstadt.

Tragikomik bis zum Anschlag
In rasantem Erzähltempo lässt Nagel seinen Antihelden durch die Geschehnisse schlittern. Auf den gut 200 Seiten beginnt man Meise als das zu mögen, was er ist: eine tragikomische Gestalt mit existenzieller Schlagseite. Wie er – eigentlich nach außen wortkarg – kübelweise Spott verteilt, aber eben nur in seinen inneren Monologen, wie bei aller Verachtung für die Landeier immer auch Empathie mitschwingt, kurzum wie er den Taugenichts, sexuellen Hasardeur und Weltversteher verkörpert, ist äußerst amüsant. Nagel packt aber auch ein Generationengefühl in Worte, wenn er indirekt die Frage stellt, was man eigentlich mit seinem Leben anfangen soll. Der Autor, 1976 geboren, war Sänger, Texter und Gitarrist der Punkband Muff Potter, die sich 2009 auflöste. 2007 erschien sein Debütroman „Wo die wilden Maden graben“. Dass Nagel Musik im Blut liegt, zeigt sich in seinem Gefühl für Rhythmus und Timing, das sein zweiter Roman „Was kostet die Welt“ auf jeder Seite atmet – ein Buch für alle, die sich schon immer mal „Fear and Loathing im Moseltal“ vorstellen wollten.

Annett Jaensch
(Literaturtest)
Berlin, Oktober 2010

Was kostet die Welt

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