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SPECIAL zu Sabine Thiesler

Grenzerfahrung

Sabine Thiesler
© Jewro Fotografie/Jewgeni Roppel
Extremsituationen enden bei ihr fast immer mit dem Tod: Sabine Thiesler erzählt Geschichten, die an die emotionale Substanz gehen. Sie lässt tief in die Psyche von Mördern blicken und schafft gerade so Charaktere, die nahegehen.

Ein warmer Sommermorgen in der Toskana: Magdas Spiegelbild zeigt eine Frau mit vom Weinen geröteten Augen. Ihr Mann Johannes betrügt sie. Und sie weiß es. Magda putzt sich die Zähne, geht duschen und dann in die Küche, um Frühstück zu machen: Müsli für Johannes, Brot und Salami für sich. Wenn einer den anderen betrügt, ist das Leben zu Ende. Das hat sie schon als Kind gelernt. Und deshalb steht Magdas Entschluss fest: Heute wird sie ihren Mann töten, ihn vergraben und als vermisst melden.

Sabine Thiesler geht an die Grenzen, entführt ihre Leser in Extremsituationen. Und die haben bei ihr immer mit dem Tod zu tun. Sie lässt ihre Leser in eine Welt eintauchen, die ihnen bisher verschlossen war: die Welt der Mörder. Sie blickt in deren Köpfe, beobachtet bestialische Täter bei ihren Taten und in ihrem Alltag. „Eine Liebesgeschichte mit Happy End interessiert mich nicht, weil es nicht an die Substanz, an keine Grenze geht. Das Leben besteht, wenn es wirklich lebendig ist, aus einigen Grenzerfahrungen. Und die erzähle ich“, sagt Thiesler im Gespräch.

Für den „Tatort“ gemordet
Die geborene Berlinerin arbeitete als Schauspielerin und schrieb 20 Jahre lang Theaterstücke und Drehbücher fürs Fernsehen, unter anderem für „Tatort“ und „Polizeiruf 110“ – bis sich das Fernsehen zu verändern begann, sich Redakteure und Regisseure durch Änderungen am Drehbuch zu profilieren versuchten, bis sie ihre eigenen Geschichten nicht mehr erkannte. „Also beschloss ich, endlich mal wieder eine Geschichte aufzuschreiben, die mir unter den Nägeln brennt, ohne Zensur, ohne Schere im Kopf und ohne oberflächliche Vorgaben“, erinnert sich Thiesler.

Magda nimmt Johannes‘ Hand und streichelt sie. „Mach's gut“, flüstert sie, „wo immer du jetzt auch hingehst. Wir hatten eine schöne Zeit, und ich werde dich nie vergessen.“

Zärtlich, ja liebevoll verabschiedet sich Magda in dem Roman Die Totengräberin von ihrem Mann. Dem Mann, der in ihren Armen stirbt, den sie getötet hat. Dann fällt ihr ein, dass sie ihre Tabletten noch nicht genommen hat: Kalium fürs Herz, Kalk für die Knochen und ein leichtes Abführmittel für die Verdauung. Alltag. Magda isst noch eine Scheibe Brot mit Parmaschinken. Dabei blickt sie in die gebrochenen Augen ihres toten Mannes.

Lebendige Charaktere
Erschreckend realistisch wirken die Morde in Sabine Thieslers Romanen – gerade, weil sie so nüchtern erzählt, den Tod so „normal“ wirken lässt. Wie auch die Täter „normale“ Menschen sind, die auf den ersten Blick Sympathie wecken, Mitleid erregen, Vertrauen herstellen. Sabine Thiesler konstruiert Charaktere, die unterschiedlicher nicht sein könnten: von der rachsüchtigen Ehefrau über den betrügerischen Ehemann bis hin zum psychopathischen Mörder: „Sie passieren, sie drängen sich mir auf, ohne dass ich es will oder beeinflussen kann. Sie schleichen sich in meine Gedanken und Gefühle und plötzlich sitzen sie bei mir am Tisch“, erzählt die Autorin. Erst allmählich beim Schreiben würden ihre Protagonisten an Persönlichkeit gewinnen. „Ihr Handeln bekommt eine Eigendynamik, die ich nicht mehr erfinden muss, die ich nur noch kontrollieren kann.“

Sabine Thiesler braucht keine anderen Menschen, keine Bücher und kein Fernsehen, wenn sie schreibt. Sie schafft sich mit ihren Romanen ihren eigenen Kosmos, hat die Macht, Charaktere zu erfinden und handeln zu lassen, wie es ihr passt. Und so lautet denn auch Thieslers Fazit: „Nichts ist so aufregend wie das, was da plötzlich in meiner Fantasie entsteht.“