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Sharon Bolton - Schlangenhaus

SPECIAL zu Sharon Bolton

Die Brut des Teufels

Der fulminante Kriminalroman „Schlangenhaus“ von Sharon Bolton

Sie ist der Ursprung der Sünde und hat die Erkenntnis in die Welt gebracht, sie ist schlau, gerissen und gewandt, sie ist tödlich, wunderschön und elegant: die Schlange. Kaum ein anderes Tier vereint so viele angedichtete Eigenschaften in sich, wird in der Mythologie verehrt oder gefürchtet und voller Abscheu oder Begeisterung betrachtet. Schlangen sind der Inbegriff der Verschlagenheit und gelten als Unglücksboten und Unheilsträger, dabei gibt es viele Liebhaber und Verehrer, die sie als Haustier halten oder sich der Beobachtung und Erforschung ihrer zahlreichen Arten verschrieben haben.

Eine Giftschlange im Babybett
Die Engländerin Sharon Bolton, die mit ihrem Debütroman „Todesopfer“ ein viel versprechendes Debüt als Krimiautorin vorgelegt hat, stellt in ihrem hoch spannenden zweiten Buch, „Schlangenhaus“, die faszinierenden Reptilien in den Mittelpunkt einer fesselnden Handlung.
Ort des Geschehens ist ein kleines, britisches Dorf im verschlafenen Dorset, in dem sich eine bunte Schar schräger Persönlichkeiten und interessanter Charaktere tummelt. Der Alltag gestaltet sich für die Bewohner des kleinen Nests fast langweilig normal, bis die junge Tierärztin Clara Benning einen Anruf bekommt: Im Bettchen eines Babys liegt eine hoch giftige Schlange. Von da an ist es mit der Ruhe des verschlafenen Ortes erst einmal vorbei.
Clara lebt seit Jahren zurückgezogen im Dorf und führt das Leben einer Einsiedlerin. Die junge Frau ist seit Kindheitstagen entstellt und hat sich für Einsamkeit, harte Arbeit und Gefühlskälte entschieden. Als Tierärztin bei einer Charity Organisation für Wildtiere arbeitet sie konzentriert und verlässlich und zeigt nur beim Singen unter der Dusche ihre private Seite. Als Clara das Baby aus der tödlichen Bedrohung durch die Schlange rettet, wird sie unversehens aus ihrer selbst gewählten Isolation gerissen.

Der Tod und die Vergangenheit
Das halbe Dorf erfährt von der Heldentat der jungen Tierärztin. In liebevoller Eindringlichkeit ermutigen die Bewohner Clara, endlich Teil der Gemeinschaft zu werden, allen voran die Gemeindeschwester Sally und der Nachbar Matt, die sich schon lange Sorgen um die Einsiedlerin gemacht haben.
Clara wehrt sich standhaft, doch als ein alter Mann tot aufgefunden wird, der offensichtlich an einem Schlangenbiss gestorben ist, und plötzlich das ganze Dorf von Schlangen aller Art nur so wimmelt, tritt sie allmählich aus ihrem bisherigen Eremitenleben heraus. Mit Akribie erforscht sie die Geschichte ihres Heimatortes und dringt dabei tief in seine Geheimnisse ein. Dabei stößt sie auf ein grauenhaftes Verbrechen, das vor fünfzig Jahren geschehen und scheinbar schon längst vergessen ist, obwohl seine zerstörerischen Folgen bis in die Gegenwart wirken. Das ganze Dorf hat sich damals einer schlimmen Tat schuldig gemacht, weil es blindlings einem religiösen Eiferer gefolgt ist, dessen charismatisch-satanische Charakterzüge die Menschen in einen vernichtenden Strudel aus Wahnsinn, Irrglaube und Erweckungshoffnung zogen.
Clara trifft bei ihrer Suche im Dorf auf eine Mauer des Schweigens, bleibt aber hartnäckig und sucht verzweifelt nach weiteren Zeitzeugen, die Licht ins Dunkel bringen können. Doch nur sporadisch schimmert durch die nostalgischen Erzählungen der Alten ein winziger Lichtstrahl der Wahrheit; das ganze Ausmaß des Geschehens aber bleibt weiterhin verborgen. Als erneut Dorfbewohner von Schlangen, die plötzlich überall zu sein scheinen, gebissen werden, in Claras Haus eingebrochen wird und ein Totgeglaubter zurückkehrt, überschlagen sich die Ereignisse.

Von Dämonen gehetzt
Die junge Tierärztin dringt immer weiter zu den verschüttet geglaubten Geheimnissen der Dorfgemeinschaft vor und stößt dabei auf eine festgefügte Mauer aus Schweigen, Angst und Scham. Aber sie muss sich auch ihrer eigenen Vergangenheit, ihren ganz persönlichen Dämonen stellen. Erst als Clara auf die Lösung der Todesfälle stößt, gelingt es ihr auch, mit ihrer ureigenen Tragödie, die sie zum verbitterten Einzelgänger gemacht hat, abzuschließen.
Ihr zur Seite steht eine bunte Schar schillernder Persönlichkeiten, jede für sich fein und lebendig gezeichnet, wie der exzentrische Schlangenforscher Sean, der kein Blatt vor den Mund nimmt, die arme Clara ins Licht der Öffentlichkeit zerrt und sie so zwingt, ihren verletzlich weichen Kern unter der rauen Schale zu offenbaren. Und dann gibt es noch den aufmerksamen und herzlichen Matt, zu dem Clara eine echte Freundschaftsbeziehung entwickelt und der sich als Mann der Tat entpuppt. Claras Vater, der vergeistigte und familiär schwer getroffene Erzdiakon, symbolisiert ihre schwierige Vergangenheit und bleibt als Tröster im Hintergrund. Die komplexe Rolle der alkoholkranken Mutter, die am Tag des Auftauchens der ersten Schlange verstirbt, bleibt so lange verborgen, bis auch das letzte Geheimnis gelöst ist.
Gekonnt verknüpft die Autorin in ihrem Roman zwei Ebenen: Da ist einmal die äußerst spannende Krimihandlung, die zwar auf ganz klassische Art nach dem Täter sucht, dabei aber raffiniert das Opfer und die Todesumstände verschleiert. Auf der anderen Seite findet die verletzliche und wider Willen agierende Protagonistin erst langsam zu sich selbst und geht so unbewusst und im doppelten Sinne auf Spurensuche.

Die Abgründe der menschlichen Seele
Sharon Bolton entfaltet in „Das Schlangenhaus“ ihr schriftstellerisches Talent in Perfektion. Urbritisch und in einem fast poetischen Erzählstil präsentiert sie uns eine lebendige, mitreißende Geschichte, die an die Abgründe der menschlichen Seele gemahnt. Wie zerbrechlich die eigene Integrität, wie leicht zu erschüttern die verinnerlichte Moral und wie elend schwach der persönliche Mut sein kann, das deckt die Autorin in ihrem neuesten Meisterwerk grandios auf.
Als am Schluss die Motive des Täters offenbar werden und seine finsteren Machenschaften ans Tageslicht kommen, ist man als Leser ob der abstrusen Banalität des Bösen zutiefst schockiert. Ein irregeleiteter Einzelner glaubte sich für sein abscheuliches und menschenverachtendes Wirken des Beistands einer göttlichen Macht sicher.
Unter dieser Eiseskälte erschauert nicht nur der Leser, auch die wunderbare und warmherzige Anti-Heldin Clara Benning schreckt davor zurück. Dass sie dennoch ihr Schneckenhaus verlässt und sich zur Rettung ihrer Mitmenschen wieder ins Licht der Öffentlichkeit traut, diesen Prozess beschreibt Sharon Bolton genau so gekonnt wie sie ihr ungeheures Wissen über Schlangen in die Handlung einbaut.

Ein Buch wie die plötzliche Begegnung mit einer Viper: faszinierend, voller Schönheit und die tödliche Gefahr immer vor Augen.
Bianca Reineke
Cuxhaven, Juni 2009