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Special zu Jodi Picoult »Bis ans Ende der Geschichte«

Warum ich ein Buch über den Holocaust geschrieben habe?

von Jodi Picoult

Bis ans Ende der Geschichte wurde eigentlich durch ein anderes Buch inspiriert - Simon Wiesenthal’s Die Sonnenblume. In diesem Buch berichtet Simon Wiesenthal von einem Moment, als ein KZ-Häftling an das Bett eines sterbenden Nazis gebracht wurde, weil jener seine Schuld eingestehen und um Vergebung bei einem Juden bitten wollte. Das moralische Dilemma in dem sich Wiesenthal beim Schreiben befand, war für viele eine philosophische und moralische Analyse über die Dynamik zwischen den Opfern des Genozids und den Tätern… und es brachte mich zum Nachdenken, was wohl passieren würde, wenn dieselbe Frage, Jahrzehnte später, der jüdischen Enkelin einer KZ-Gefangenen gestellt würde.

Natürlich war die Recherche für dieses Thema die emotional aufwühlendste, die ich jemals durchlebt habe. Ich habe mich mit vielen Überlebenden des Holocaust getroffen, die mir ihre Geschichte erzählt haben. Einige der Details der Geschichten übernahm ich dann für meine fiktionale Figur Minka. Es war demütigend und grausam zu realisieren, dass die erzählten Geschichten, der Realität entstammten. Einige der Szenen, die diese tapferen Frauen und Männer berichtet haben, werde ich für immer mit mir tragen: wie beispielsweise die von Bernie, der eine Mesusa in der Hand hatte, als er von den Nazis von zu Hause verschleppt wurde und diese die gesamte Zeit des Krieges nicht mehr aus der Hand gelegt hat – er brauchte danach zwei Jahre, damit er die Finger dieser Hand nach seiner Befreiung wieder ausstrecken konnte. Oder wie seine Mutter ihm versprach, dass er nicht durch einen Kopfschuss sterben wird, sondern nur durch einen Brustschuss – können Sie sich vorstellen, so etwas Ihrem Kind versprechen zu müssen? Oder Gerda – die die Freiheitsmedaille des Präsidenten bekam, und die einen 350 Meilen Marsch im Januar 1945 überlebte – weil, wie sie mir erzählte, ihr Vater ihr befahl Schneeschuhe zu tragen, wenn sie von zu Hause verschleppt wird. Oder Mania, deren perfekte Deutschkenntnisse ihr mehrmals das Leben retteten und sie dadurch eine Tätigkeit im Büro bekam, statt harte körperliche Arbeit verrichten zu müssen. Sie erzählte auch von Herrn Becker, dem deutschen Leiter einer der Fabriken, der die jungen jüdischen Arbeiterinnen als „seine Kinder“ ansah und sie bei einer KZ-Razzia vor der Selektierung bewahrte. In Bergen-Belsen schlief sie mit 900 anderen Menschen in einer Barracke und bekam Typhus – sie wäre gestorben, wenn die Briten sie nicht unmittelbar danach befreit hätten.

Ich konnte außerdem mit dem Direktor des Human Rights Enforcement Strategy and Policy in the Human Rights & Special Prosecutions section of the Department of Justice sprechen – einem realen Nazijäger unserer Zeit. Man fragt sich manchmal, warum dieses Thema nach mehr als siebzig Jahren immer noch so wichtig ist. – Dazu will ich noch eine Geschichte erzählen, die dieser Direktor mir berichtet hat. Vor einiger Zeit, nach harten Untersuchungen und Recherchen, war es der Abteilung endlich gelungen, einen 85 Jahre alten Mann zu befragen, der in der Nazizeit als KZ-Wächter arbeitete und nun in Ohio lebte. Der Mann weigerte sich zur Befragung zu kommen, sodass Polizei-beamte sein Haus umstellten. Er kam mit einem Gewehr aus dem Haus. Als die Polizisten ihre Waffen erhoben, rief er: „Warum wollen Sie auf mich schießen? Ich bin kein Jude.“ Siebzig Jahre mögen vergangen sein, aber solche Vorurteile bestehen immer noch.

Ich wusste zuvor nicht, dass die USA Nazis, die in ihren Landesgrenzen aufgespürt werden, nicht verurteilen dürfen. Bis 2007 war es tatsächlich so, dass die amerikanischen Völkermordgesetze nur für US-Bürger galten die Völkermord-Verbrechen gegenüber anderen US-Bürgern verübten. Seit 2007 kann man in den USA Menschen verurteilen, die egal wo auf der Welt Terrorakte gegen einen amerikanischen Staatsbürger ausüben. Zusätzlich gilt seit 2007, dass man auch verurteilt wird, wenn man irgendwo auf der Welt Völkermord begeht und sich dann in den USA versteckt. Nichtsdestotrotz, werden alle Täter, die vor 2007 Kriegsverbrechen begangen haben, nur aufgespürt und aufgrund von Verletzungen der Immigrationsgesetze aus-gebürgert und abgeschoben werden, um dann in den zuständigen europäischen Ländern verurteilt zu werden.

Viele Menschen werden mich fragen, warum ich, nachdem es bereits schon so viel Literatur über den Holocaust gibt, das Thema aufgreife. Ich bin Agnostikerin, aber von jüdischen Eltern erzogen worden und so wie Sage, befinde ich mich in der merkwürdigen Situation, die Sprecherin einer religiösen Gruppe zu sein, der ich persönlich gar nicht mehr angehöre. Und trotzdem muss ja jemand deren Fürsprecher sein. Bin ich mehr dazu berechtigt, weil ich Verwandte habe, die in einem Konzentrationslager gestorben sind? Das kann ich nicht beantworten. Aber manche Geschichten müssen einfach erzählt werden, und diese ist eine von ihnen, auch wenn viele Schwarzseher darauf beharren, dass es völlig unsinnig ist, einen 90 Jahre alten Mann aufzuspüren. Aber ist es das wirklich? Es existiert keine Verjährungsfrist für Mord. Und ist es nicht heuchlerisch von den USA hunderttausend illegale Einwanderer des Landes zu verweisen, nur weil sie vergessen haben ihr Visum zu verlängern…und ehemalige Kriegsverbrecher in Ruhe in unseren Vororten leben zu lassen? Wenn wir eine moralische Verantwortung für unsere Vergangenheit haben, dann ist es die, dass sich diese grausame Geschichte nicht wiederholen darf. Und dies meint auch, dass Überlebende wissen, dass sich ihre Regierung um diese Fälle kümmert und sie ihren Peinigern nicht zufällig im Supermarkt über den Weg laufen. Wenn wir dies tun, senden wir vielleicht eine Botschaft an zukünftige Täter von Massenmorden, die es sich noch einmal überlegen, ob sie die Waffe zücken, nur weil es ihnen ein Diktator befiehlt. Vielleicht werden sich genau diese daran erinnern, dass egal wie lange es dauert, sie immer für ihre Taten verurteilt werden können. Und vielleicht ist dies Grund genug, die Waffe wieder wegzulegen.

Ich habe dieses Buch geschrieben, weil diese Geschichten wichtig sind, und es über sechs Millionen Menschen gibt, die nicht mehr die Möglichkeit haben, ihre Geschichte zu erzählen.

GENRE