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SPECIAL zu »Die Verlassenen« von Tom Perrotta (The Leftovers - Roman, Heyne)

Das gespenstische Nachspiel eines Massenexodus

von Stephen King für die New York Times

Dem Thema seines neuen Romans Die Verlassenen nach zu urteilen, dürfte wohl niemand die Geschichte des bekannten Evangelikalen (und der ehemaligen Internetsensation) Harold Camping genauer verfolgt haben als Tom Perrotta − der Schriftsteller, der für die vorstädtischen Enklaven Amerikas das ist, was Sherwood Anderson für Ohio war. Ich wette, die Rezensionen zu Die Verlassenen, die keine Linie zwischen Perrotta und Camping ziehen, werden spärlich gesät sein.

Für diejenigen, die das Frühjahr 2011 mit unbedeutenderen Geschichten wie Tornados, Kernschmelzen oder den neuesten Abenteuern von Snooki verschwendet haben: Camping ist ein Prediger mit apokalyptischer Weltsicht, ziemlich saukomischem Zahnersatz und klaren Ansichten bezüglich der biblischen Prophezeiung, die unter dem Namen Entrückung bekannt ist. Am Tag dieser Entrückung, so glauben einige Christen, werden all diejenigen, die Jesus Christus als ihren persönlichen Erlöser angenommen haben, umgehend in den Himmel befördert. Die ungläubige Mehrheit wird noch für einen Zeitraum zwischen fünf Monaten und einem Jahr Krieg, Seuchen und klimatische Umwälzungen erdulden müssen.

Danach macht es Plopp, die Erde ist weg, und alle noch überlebenden Heiden fahren vermutlich auf direktem Weg zur Hölle, wo es andauernd heiß ist und nichts als die Musik der Singenden Senatoren John Ashcroft und Trent Lott aus den Boxen kommt.

Es ist schwer zu sagen, wie viele Leute tatsächlich an diese schaurige Vorstellung glauben, aber Campings Versicherungen per Videoclip, die Entrückung fände am 21. Mai 2011 statt, verbreiteten sich schnell viral; eine Webseite stellte sogar einen digitalen Countdown zu dem großen Nicht-Ereignis bereit. Jedenfalls gibt es genügend Interesse an der Endzeit, um davon auszugehen, dass Perrottas bemerkenswerte Interpretation der Entrückung (oder von so etwas Ähnlichem) in Die Verlassenen breit diskutiert und der Gegenstand manch einer Sonntagspredigt werden wird. Falls ja, dann zu Recht.

Perrotta hat eine beunruhigende Abhandlung darüber abgeliefert, wie gewöhnliche Menschen auf außergewöhnliche und unerklärliche Ereignisse reagieren, wie Familien leiden und genesen und wie Glaube scheinbar ganz von selbst in Fanatismus umschlagen kann. Die Verlassenen ist, vereinfacht ausgedrückt, die beste Folge von The Twilight Zone, die Sie nie gesehen haben – nicht „Die Monster der Maple Street“, sondern „Wir Monster von Mapleton“. Dass diese Monster so schweigsam sind, macht sie nur noch unheimlicher.

Perrottas Roman, der drei Jahre nach einem entrückungsähnlichen Ereignis einsetzt, bei dem Millionen Menschen von der Erde verschwanden, dreht sich um die Mitglieder der in Mapleton beheimateten Familie Garvey: Kevin, Laurie und deren Kinder Tom und Jill. Um wie viele Millionen es sich da genau handelt, lässt Perrotta offen, aber so viele können es auch wieder nicht gewesen sein, denn die Telefone funktionieren noch und Starbucks verkauft nach wie vor eimerweise Kaffee. Außerdem können auch längst nicht alle (nicht einmal die meisten) der Vermissten als Christen à la Camping gelten: unter den Entrückten sind auch Hindus, Buddhisten, Moslems, Juden und der ein oder andere Alkoholiker. Als Tom Garvey Mitglied von Alpha Tau Omega am College von Syracuse werden will, erzählt ihm einer der Brüder von einem Entrückten aus der Verbindung: „Er hatte in seinem Zimmer eine Kamera versteckt (...) hat die Mädchen gefilmt (...) und dann die Videos im Fernsehzimmer gezeigt. Eine hat er damit so fertiggemacht, dass sie das College abbrechen musste. Dem guten, alten Chip war das egal.“

Dass die Entrückung sich so wenig an die biblische Prophezeiung hielt, hat einige Leute völlig um den Verstand gebracht. Reverend Matt Jamison wird zum obersten Entrückungsleugner der verbleibenden Bevölkerung von Mapleton „Er musste oft weinen, und er hielt lange Monologe über (…) das Unrecht, übergangen worden zu sein.“ Als Antwort auf diese Ungerechtigkeit beharrt der Geistliche darauf, das sei gar nicht die echte Entrückung gewesen, und beweist diese Überzeugung in einem Mitteilungsblatt voll skurrilem Klatsch über die Verschwundenen.

Andere Hinterbliebene drehen wieder ganz anders durch. Die Barfüßler (denen sich der junge Tom Garvey irgendwann anschließt) glauben zum Beispiel, die angemessene Antwort auf das Massenverschwinden sei möglichst ununterbrochenes Feiern. Dann ist da noch die Bewegung der Heilenden Umarmung, angeführt von einem Guru namens Heiliger Wayne, den Perrotta so einprägsam als die „jüngste Verkörperung jenes uralten Halunken, des notgeilen Gottesmanns“ beschreibt. Die Umarmer warten darauf, dass eine der Teenager-„Bräute“ des Heiligen Wayne ihm das „Wunderkind“ gebärt, das – davon ist wohl auszugehen – ein neues Zeitalter kosmischer Groovigkeit einläuten wird.

Viel finsterer ist jedoch die martyriumsgierige Sekte namens Schuldiger Rest. Die Mitglieder müssen ein Schweigegelübde ablegen, Weiß tragen und in der Öffentlichkeit stets eine brennende Zigarette in der Hand haben. „Wir rauchen, um unseren Glauben zu verkünden“ lautet ihr Mantra, das perfekt in einen dystopischen Roman von Margaret Atwood passen würde; „Lasset uns rauchen.“ Der wichtigste Job der Mitglieder ist es, Nichtmitglieder zu „beobachten“ – soll heißen: zu stalken –, neue Anhänger zu werben und auf das Ende der Welt zu warten. Laurie Garvey rutscht etwas planlos in die Sekte hinein, geht dann aber völlig darin auf. Als Die Verlassenen sich schließlich auf sein beinahe vorherbestimmtes Ende zuschlängelt, erfährt der bestürzte Leser, dass Rauchen noch das harmloseste Sakrament ist, das Lauries neue Seelenverwandte praktizieren.

Schon in seinem vorigen Roman The Abstinence Teacher hat Perrotta seine Erforschung der Spannungspunkte zwischen Religion und weltlichem Leben in Amerika begonnen. Die Verlassenen wirkt wie eine logische, wenngleich extreme Ausweitung dieses Anliegens. Zwar sind nicht alle Figuren und Motive ganz glaubhaft (besonders Lauries Bekehrung zum Schuldigen Rest ist irritierend, zumal sie zu den glücklichen Mapletonianern gehört, die kein Familienmitglied verloren haben), aber das langsame, traurige Abgleiten dieser Vorstadtwelt in diverse Formen des kultischen Extremismus als Reaktion auf eine große Umwälzung trifft genau ins Schwarze. Das Versagen der Vernunft kommt am besten im zentralen Gebot des Schuldigen Rests zum Ausdruck, das zu Beginn des Romans und dann noch einmal gegen Ende vorkommt: „Spart Euch Euren Atem.“ Bürgermeister Kevin Garvey, wichtigster Vertreter der nach der Entrückung gegründeten Partei der Hoffnungsvollen, mag es mit Mapleton noch so gut meinen: In wirklich schweren Zeiten, so legt Perrotta nahe, ist Extremismus stärker als Logik, und Gespräche werden sinnlos. Als Metapher für die soziale und politische Aufspaltung der amerikanischen Gesellschaft nach 9/11 ist das Buch eine erschreckend zutreffende Diagnose.

Und doch ist es nicht völlig freudlos. Wäre es das, würden uns diese Figuren nicht mehr bedeuten als die der postapokalyptischen Mad-Max-Filme. Tatsächlich bedeuten sie uns aber bald sehr viel, und Perrotta ist klug genug zu wissen, dass selbst in seiner Schlafstadtausgabe von Matthew Arnolds „Dover Beach“, wo Vorstädter sich blind bekriegen in der Nacht, das Gute in uns manchmal doch die Oberhand gewinnt.

Auch Perrottas ausgezeichnet modulierter Erzählstil ist bewundernswert. Seine Zeilen sind von einer ruhigen, unaufgeregten Klarheit, die den gelegentlichen Ausbruch noch deutlicher hervortreten lässt, wie wenn Laurie eine eben ausgepackte Pizza vom Lieferservice riecht, deren Duft „so voller Erinnerungen wie ein alter Song im Autoradio“ ist. Oder wenn eine Hausfrau aus der Vorstadt sich erinnert, wie arbeitsbedingt besessen ihr Mann immer von seinem BlackBerry war, „derart vertieft in seine Arbeit, dass er selten mehr als halb anwesend war, nur noch ein Hologramm seiner selbst.“ Zeilen wie diese bieten eine ganz eigene Form der Entrückung.