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„Wir sollten ein Mitspracherecht beim Sterben haben“
Deborah Ziegler im Interview

Die Autorin über den Tod ihrer Tochter Brittany und ihr Buch "Die Welt ist ein schöner Ort"

Der deutsche Titel Ihres Buches, „Die Welt ist ein schöner Ort“, ist ein Zitat aus dem letzten Facebook-Post, den Brittany veröffentlicht hat. Haben Sie seit der Krebsdiagnose Ihrer Tochter manchmal an diesem Satz gezweifelt?
Ich habe gedacht, dass das Leben schwierig ist, aber wunderschön. Ich werde mich immer daran erinnern, wie ich mit Brittany die Natur durchstreift habe. Seitdem sie tot ist, fühle ich mich in freier Natur mit ihrer Seele verbunden. Brittany konnte überall Schönheit entdecken: in jeder Stadt, in jeder Klimazone, in jeder Lebenslage. Diese Suche nach Schönheit an besonderen Orten und in ungewöhnlichen Gestalten machte einen Teil ihres Wesens aus. Indem ich mich dafür öffne, der Schönheit im Unerwarteten zu begegnen, versuche ich, das Andenken an meine Tochter zu bewahren.

Die Geschichte Ihrer Tochter niederzuschreiben, war sicher ein schmerzvoller Prozess. Weshalb haben Sie dieses Buch trotzdem geschrieben?

Über mich als Brittanys Mutter zu schreiben war schmerzlich und dennoch erlösend. Ich schrieb das Buch, weil ich meiner Tochter versprochen hatte, die Arbeit, die sie begonnen hatte, fortzuführen und den unheilbar Kranken eine Stimme zu verleihen. Ich versprach, dass von ihrem Leben mehr bleiben würde, als eine sechsminütige Meldung in den Nachrichten. Ich schrieb das Buch, um der Wahrheit über das Sterben Genüge zu tun. Ich schrieb es, weil die Presse Brittanys Tod im Allgemeinen wie ein Märchen darstellte. Einmal schleuderte Brittany angewidert ein Magazin aufs Bett und sagte: „Warum müssen sie das Ganze wie ein beschissenes Märchen klingen lassen? Sterben ist harte Arbeit, Mama.“
Der Tod ist wie das Leben geheimnisvoll, chaotisch und manchmal qualvoll. Keine Mutter auf der Welt erwartet, dass Geburtswehen eine angenehme Erfahrung sind. Dennoch haben die meisten keine Angst davor, ein Kind zur Welt zu bringen, weil die Gesellschaft einen offenen Dialog über den Geburtsvorgang zulässt. Es gilt nicht mehr als unschicklich, in Gegenwart von Männern über die Geburt zu sprechen. Durch diese Offenheit verfügen Väter und Mütter über viel mehr Wahlmöglichkeiten.
Meine Tochter und ich hielten es nicht für angebracht, den Tod wie eine Disneyfigur herauszuputzen. Wir dachten, das Bedürfnis der Gesellschaft, den Tod auf Abstand zu halten (wie das über die letzten hundert Jahre seit dem Wandel von einer Agrar- in eine Industriegesellschaft geschieht), sei wenig hilfreich für die Menschheit. Wir meinten, die Leute würden mittlerweile regelrecht gedrängt, zum Sterben in Krankenhäuser zu gehen, statt zu Hause sterben zu können. Wir fanden, dass Sterbende nach dem gängigen Schema in der Medizin nicht gut behandelt werden, weil Patienten beim Versuch, ihr Leben zu verlängern, oft zusätzlich mit sinnlosen medizinischen Behandlungen gequält und traktiert werden. Brittany war sich sehr bewusst, dass nicht alle Menschen auf dieselbe Weise definieren, was Leben ist.
Wir waren überzeugt, dass unbefangenes Sprechen über den Tod den Anstoß zu vielen wichtigen Gesprächen gibt, einschließlich derer über ein gutes Leben. Gut sterben und gut leben war in unseren Gesprächen eng miteinander verbunden.

Eine der berührendsten Szenen in Ihrem Buch ist die Beschreibung des letzten Lebens-tages Ihrer Tochter. Wie haben sie diese letzten Stunden mit Brittany empfunden?
Der letzte Tag hatte etwas Unwirkliches. Er war ein Geschenk. Brittany blickte ihrem bevorstehenden Tod mit Gelassenheit entgegen. Sie verhielt sich ungewöhnlich ruhig und gefasst. Britt war ausgeglichen und freundlich. Bei unserem Spaziergang durch den Wald wurde sie von Freunden begleitet, die jeder ein Stück des Wegs mit ihr zurücklegten. An einer Stelle wollte sie etwas weiter gehen, als wir geplant hatten, und das taten wir. Sie sagte mir, sie lebe „schon längst nur noch für andere“. Sie war bereit zu gehen.
Es war heilsam, Brittany zu betrachten, wie sie mit ihren Kissen im Rücken dasaß. Sie drückte keine Wut oder Bitterkeit aus. Sie schien einen Punkt erreicht zu haben, an dem sie losließ.
Ich konzentrierte mich auf das, was Brittany von mir brauchte. Sie sagte, sie wolle mich nicht weinen hören. Ich sagte mir immer wieder, ich dürfe nicht zusammenbrechen. Um keinen Laut entweichen zu lassen, biss ich die Zähne zusammen, so fest ich konnte.
Ein Weg, die Wahrheit zu verdrängen, war Gedichte zu lesen. Irgendwie so als würde sie mich nicht verlassen, wenn ich einfach weiter über zwitschernde Vögel, Blumen auf dem Feld und Wildgänse lesen würde. Aber am Ende sagte man mir, dass ihr Herz aufgehört habe zu schlagen, und ich rannte aus dem Zimmer, von der Erkenntnis der Wahrheit ins Mark getroffen. Sie war fort.

Ihr Buch handelt davon, wie man als Familie und insbesondere als Mutter mit Entscheidun¬gen umgeht, die tiefgreifende Auswirkungen auf das eigene Leben haben, die jedoch eine andere Person getroffen hat. Hat der Entschluss Ihrer Tochter auch Ihre Sicht auf Entscheidungen geändert, die Sie seitdem treffen mussten?
Mein Weg mit Brittany hat meine Art, Leben, Tod und Spiritualität zu empfinden, tiefgreifend verändert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand meint, ich hätte es als meine Pflicht, geschweige denn mein Recht begreifen sollen, meiner erwachsenen Tochter (Brittany war 29 Jahre alt) zu sagen, wie sie eine unheilbare Krankheit bewältigen solle. Und doch wurde ich darauf angesprochen. Als Eltern erwachsener Kinder hat man meiner Meinung nach nicht die Aufgabe, ihnen die eigenen Überzeugungen und Meinungen aufzudrängen. Brittany hatte mich in dieser Hinsicht gut erzogen. Sie war ihre eigene Herrin. Ich sagte ihr oft, ich würde auf ihre Fähigkeit vertrauen, die richtigen Entscheidungen für ihr Leben zu treffen. Ich sagte ihr, sie habe die dafür notwendigen Mittel, die Ausbildung und die Fähigkeit, logisch zu denken. Ich sagte ihr, dass es nicht meine Entscheidung sei, wen sie heiraten solle, in welchem Beruf sie Erfüllung finden werde und welche Schule die geeignetste für sie sei.
Mein Mann und ich haben uns sehr ausführlich mit der Planung unserer letzten Lebensphase auseinandergesetzt. Wir sind gerade dabei, im Austausch mit Spezialisten aus der Altenpflege unsere Patientenverfügungen zu überarbeiten, und keiner von uns möchte, soweit das irgend möglich ist, in einem Krankenhaus sterben. Unser Vertrauen zur Chemotherapie ist begrenzt, und es müsste deutlich mehr wissenschaftliche Belege für deren Wirksamkeit geben, um uns umzustimmen und zur Einwilligung in eine Chemotherapie zu bewegen. Wir haben wenig Vertrauen zu Ärzten, aus gutem Grund.
Wir verspüren kein Bedürfnis oder keinen Wunsch mehr, uns kirchlich zu orientieren. Unsere spirituellen Vorstellungen lassen sich nicht in die engstirnige und voreingenommene Doktrin der Gottesdienste zwängen, die wir früher besucht haben. Der Gottesdienst fehlt uns nicht. Ich stelle fest, dass mein Geist sich spirituellen Gedanken zuwendet, sobald ich mich in der Natur aufhalte, so ist es seit meiner Kindheit.

Brittanys Entschluss, mit ihrem Wunsch nach einem selbstbestimmten Tod an die Öffentlichkeit zu gehen, hat ein weltweites Echo hervor¬gerufen. Einerseits wurde das Thema Sterbehilfe auf einer breiten Basis diskutiert, andererseits wurden Ihre Tochter und ihre Familie von den Medien bestürmt, kurz vor ihrem Tod teilweise auch über die Grenzen der Privatsphäre hinaus, wie man in Ihrem Buch lesen kann. Wie hat das Ihre Sicht auf die Rolle der Medien verändert?
Unglücklicherweise fiel die Qualität der Medienberichterstattung während der letzten Präsidentschaftswahlen auf ein Rekordtief. Ich weiß nicht, ob das an den Kandidaten oder an den Medien liegt. Was ich weiß ist, dass der investigative Journalismus so gut wie tot ist. Das Internet hat die Trennung zwischen Nachrichten und Unterhaltung verschoben. Es war nicht angenehm festzustellen, dass der Tod meiner Tochter einigen Netzwerken nur zum Zweck diente, ihre Ratings in die Höhe zu treiben, und dass die rasende Geschwindigkeit, mit der heute Nachrichten produziert werden, in ein würdeloses Gerangel um Geschichten über Brittany mündeten, die irgendwo durchsickerten und keinerlei Wahrheitsbezug hatten. Ein Beispiel dafür ist der Bericht eines Netzwerks, in dem behauptet wurde, Brittany habe ihre Meinung über den Zeitpunkt ihres Todes geändert. Ganz besonders habe ich mich über Nachrichtenmoderatoren geärgert, die teilweise pathetisch moralisierend über die rechtmäßige Entscheidung meiner todkranken Tochter sprachen, einen Arzt um Beistand beim Sterben zu bitten.

In vielen Staaten wurde aufgrund dieses Falles erwogen, selbstbestimmtes Sterben zu legalisieren, in Kalifornien wurde es gerade umgesetzt. Wie standen Sie früher dazu und wie heute?
Vor Brittanys Tod wusste ich, dass der Staat Oregon es unheilbar Kranken erlaubte, mit Hilfe eines Arztes die Todesqualen zu lindern. Ich verurteilte Oregon nicht dafür, aber ich dachte auch nicht weiter darüber nach. Es war einfach ein Informationshäppchen, das ich in meinem Kopf gespeichert hatte. Rasch erfuhr ich, dass Oregon, Washington, Vermont, New Mexico und Montana alle Gesetzte oder gerichtliche Regelungen besaßen, die ärztliche Sterbehilfe gewährleisteten. Brittany entschied sich für Oregon, weil in diesem Staat das Gesetz schon am längsten in Kraft war. (Nach Brittanys Tod setzten Gerichte in New Mexico das Recht auf ärztliche Sterbehilfe am 20. Juni 2016 außer Kraft.)
Brittany und ich waren entsetzt darüber, dass die Gesundheitsversorgung und die Möglichkeiten zum selbstbestimmten Sterben von Staat zu Staat derart voneinander abweichen konnten. Wir waren der Meinung, dass das Recht todkranker Patienten, beim Sterben ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, jedem Amerikaner zustehen sollte. Das alles wurde sehr konkret, als wir mehr als tausend Meilen wegziehen mussten, um diesen Rechtsanspruch für unsere Tochter geltend zu machen.
Seit Brittanys Tod hat Kalifornien zusammen mit Colorado und Washington DC ein Gesetz verabschiedet, das noch vom Kongress bewilligt werden muss, um in Kraft zu treten. Neunzehn weiter Staaten ziehen gegenwärtig in Erwägung, die Rahmenbedingungen für ein würdevolles Sterben gesetzlich zu verankern.
Im Februar 2015 setzte der Oberste Gerichtshof in Kanada dies auf angemessenste und zügigste Weise um, indem er einstimmig entschied, alle Kanadier hätten das Recht auf ärztliche Sterbehilfe. Sich um Gesetze oder Gerichtsentscheidungen auf bundesstaatlicher Ebene zu bemühen, bürdet der Gesellschaft hohe Kosten auf und schafft in Staaten, die langsam voranschreiten, ungerechte Bedingungen. Ich wünschte, die Vereinigten Staaten würden für dieses elementare Menschenrecht eine Regelung auf nationaler Ebene finden.
Ich glaube, dass Brittanys YouTube-Videos die Gespräche über würdevolles Sterben verändert haben. Ich glaube, dass meine Tochter ein Umdenken in den Vereinigten Staaten ausgelöst hat. Ich bin sehr stolz auf sie.

Sie halten mittlerweile Vorträge über selbstbestimmtes Sterben. An wen richten Sie sich mit diesen Vorträgen und wie reagiert das Publikum auf Ihre Erfahrungen?
Ich spreche vor Krankenschwestern, Pflegekräften und ganz unterschiedlichen Zuhörern. Ich habe vor gesetzgebenden Instanzen gesprochen. Dabei habe ich alle erdenklichen Reaktionen erhalten. Einige Zuhörer nickten zustimmend mit den Köpfen, andere blickten böse, wieder andere stellten unsensible Fragen. Wenn ich versuchen müsste, die vorherrschende Stimmung zu erfassen, würde ich sagen, es ist Angst. Angst, das gleiche könnte ihnen widerfahren. Angst, sie selbst würden keine Wahl haben. Angst, sie würden keinen Mut haben. Angst, dass der Schmerz unerträglich sein würde. Angst, dass sie nicht das Recht haben würden zu entscheiden, wann es genug wäre. Angst, ein anderer würde für sie entscheiden. Ich glaube fest daran, dass die Menschen immer mehr Angst verlieren, je offener wir über das Sterben diskutieren. Einige Menschen, mit denen ich mich unterhielt, sagten: „Ich dachte, ich sei allein. Ich dachte, ich sei der Einzige, der vor diesem Problem steht.“ Wir sind nicht allein. Wir sollten uns bei der Auseinandersetzung darüber, was mit uns allen beim Sterben geschieht, nicht allein fühlen. Wir sollten ein Mitspracherecht beim Sterben haben.


© Goldmann Verlag. Die Fragen stellte Stefanie Endres.

Deborah Ziegler, Die Welt ist ein schöner Ort. Der Weg meiner Tochter in einen würdevollen Tod (Goldmann 2017)

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