(…) Meine Absätze klackern auf den Steinplatten, als ich die Treppe zum Haus hinaufgehe. Langsam, schwer, müde.
Ich drehe den Schlüssel im ersten Schloss, dann im zweiten. Gehe rein, mache die Tür hinter mir zu und schließe sie ab. Dann bleibe ich einen Moment im Flur stehen. Die Alarmanlage an der Wand leuchtet grün. Ausgeschaltet. Es ist still im Haus. Ich lausche auf Geräusche, irgendwelche, aber höre nichts. Gewöhn dich schon mal daran, sage ich mir.
»Zachary«, rufe ich die Treppe hinauf. »Ich bin wieder da.« Für seine Freunde heißt er Zach, schon seit Jahren. Aber für mich wird er immer Zachary bleiben. Eigentlich hatte ich mir geschworen, das nicht zu tun. Ich wollte nicht werden wie meine Mom. Der einzige Mensch, der mich noch Stephanie nennt. Aber wenn ich ihn so ansehe, sehe ich keinen Teenager. Ich sehe meinen kleinen Jungen. Es geht so schnell, haben alle mich gewarnt. Und zuerst wollte ich es gar nicht glauben. Inzwischen weiß ich, wahrere Worte wurden nie gesprochen.
Ich warte noch einen Moment und lausche angestrengt, aber es bleibt alles still. Ich hänge meinen Mantel auf, lasse Schlüssel und Handtasche auf den Tisch im Flur fallen und gehe in die Küche. Im Hereinkommen knipse ich das Licht an. Das Licht von der Beleuchtung über der Kücheninsel flutet den Raum, wird zurück- geworfen von dunklem Granit und Edelstahlflächen. Eine voll ausgestattete Profiküche. Rundum erneuert, als Zachary in der Mittelstufe war. Perfekt für ambitionierte Hobbyköche. Und kaum benutzt.
Ich stelle eine braune Papiertüte auf die Kochinsel. Thailändisch, sein Lieblingsessen. Ich habe ihm vorhin geschrieben und ihm gesagt, dass ich uns was mitbringe. Damit er nicht schon gegessen hat, wenn ich abends nach Hause komme, wie sonst meistens. Ich hatte Hunger, Mom, sagt er dann immer. Ich konnte nicht so lange warten. Und dann bleiben mir bloß noch ein paar kostbare Minuten zwischen Tür und Angel, um mich ein bisschen mit ihm zu unterhalten.
Das Essen ist ein Bestechungsversuch. Ich mache mir da keine Illusionen. Ich bin eine FBI-Agentin, die ihren eigenen Sohn mit thailändischem Essen zu bestechen versucht. Aber ein gemeinsames Abendessen bedeutet gemeinsam verbrachte Zeit. Kostbare, kostbare gemeinsame Zeit. (…)
Ich höre, wie Zacharys Zimmertür oben aufgeht. Seine Schritte im Flur oben. Wie er die Treppe herunterpoltert. Als kleiner Junge ist er immer heruntergestürmt wie ein kleiner wild gewordener Büffel. Als hätte er keine Zeit, langsam zu machen. Als hätte er es eilig, immer eilig. Mit dem Alter ist er ein bisschen behäbiger geworden, aber er klingt immer noch wie eine Büffelherde. Vielleicht, weil er so groß ist. Größer als ich. Oder ich höre immer noch, wie es früher klang.
So oder so, ich werde das Gepolter vermissen. Eine Hand auf dem Geländer kommt er schwungvoll um die Ecke. In Jeans und schmuddeligem T-Shirt, mit nackten Füßen. Ein leichter Bartschatten im Gesicht, nur ein Hauch, der seltsam deplatziert wirkt. Wie ein kleiner Junge, der sich als Mann verkleidet hat. Ich muss mir selbst immer wieder sagen, dass er ein Mann ist. Na ja, beinahe jedenfalls.
»Hi, Schätzchen. Wie war dein Tag?« Meine Stimme klingt aufgesetzt fröhlich. Viel zu bemüht. Ich bin zu bemüht.
Er merkt es sofort. Misstrauisch beäugt er mich, als ginge ihm gerade auf, dass das mitgebrachte Essen nur ein Vorwand für erzwungene Geselligkeit ist. »Gut.«
Ich wünschte, ich könnte zurückspulen, noch mal von vorne anfangen. Stattdessen ziehe ich den Blazer aus. Falte ihn ordentlich. Lege ihn über die Lehne des Barhockers. Streiche meine Bluse vorne glatt, rücke das Pistolenholster an der Hüfte zurecht. Als Zachary noch klein war, habe ich beim Nachhausekommen immer als Allererstes meine Waffe weggeschlossen. Noch bevor ich ihn umarmt und geküsst habe. Ich habe die Glock im Safe in meinem Schlafzimmer verstaut, weil ich nicht wollte, dass er mich damit sieht. Weil ich nicht wollte, dass Waffen zu unserem Alltag gehören. Dann habe ich die Sachen ausgezogen, die ich bei der Arbeit anhatte, wo ich tagtäglich mit Kriminellen zu tun habe. Als könnte ich sie damit irgendwie fernhalten.
Aber nun ist er älter. Er weiß, dass ich eine Waffe trage, und es kümmert ihn nicht. Er interessiert sich nicht die Bohne für Waffen. Und Kriminelle finden immer einen Weg. Ganz gleich, wie gut man sich auch zu schützen versucht. Habe ich das nicht am eigenen Leib erfahren müssen?
Ich hole Teller aus dem Küchenschrank und stelle sie neben unser Essen. »In der Schule alles gut?«, erkundige ich mich so beiläufig wie möglich.
Er geht zur Kochinsel und kramt in der Papiertüte. Zieht eine Plastikschale heraus und dann noch eine. Pad Thai und Panang Curry. Wie immer.
»Ja.«
Ein-Wort-Sätze. Mehr bekomme ich kaum noch aus ihm heraus. Schon lange nicht mehr. Und wenn wir ausnahmsweise doch mal miteinander reden, ist er immer mürrisch und verstockt.
Das wird wieder. Immer wieder versuche ich mir das einzureden. Das ist einfach eine Phase. Die Pubertät halt. Das kommt schon wieder hin. Bestimmt wäre es einfacher, wenn ich Mutter eines Mädchens wäre. Oder Vater eines Jungen. Vielleicht wäre er dann ein bisschen unbefangener. Mehr er selbst. Weniger zurückhaltend, weniger unbehaglich.
Ich habe Zachary mit seinen Freunden gesehen. Mit all diesen Kids, die für mich Fremde sind. Obwohl ich sie früher mal gekannt habe. Damals, als sie noch klein waren. Auf dem Parkplatz der Schule, auf Fotos in den sozialen Medien. Mit ihnen ist mein Sohn ganz anders. Aufgeschlossen, fröhlich. Einnehmend sogar.(…) Er schaufelt Reis auf seinen Teller, drei viel zu volle Löffel. Dann guckt er zu mir rüber. Die Haare fallen ihm in die Augen. Er müsste dringend zum Friseur, aber das sage ich ihm nicht. Nicht jetzt. »Bei dir? Alles gut bei der Arbeit?«
»Ja. Wie immer. Du weißt schon.« Ich versuche, meine Antwort knapp und vage zu halten. Er will keine Einzelheiten hören, genauso wenig, wie ich sie ihm erzählen möchte. Ich möchte über ihn reden. Hören, wie es ihm geht. Ich löffele Nudeln auf meinen Teller, während er Curry auf seinen Reis schichtet. Dann tauschen wir wortlos die Essensschalen. Wir können das im Schlaf. Das macht die jahrelange Übung.
»Hast du heute was gehört?«, erkundige ich mich. Er hat all seine College-Bewerbungen verschickt. Jetzt heißt es abwarten. Für ihn genauso wie für mich. Ich warte darauf zu erfahren, wie weit von zu Hause weg er sein wird. Fürchte den Tag, an dem er endgültig geht und mich als siebenunddreißigjährige Empty-Nesterin zurücklässt. (…)
»Nö.« Er stellt die Schale mit dem Pad Thai ab und geht mit Teller und zwei Gabeln um mich herum ins Wohnzimmer.
»Okay«, murmele ich, aber da ist er längst aus dem Zimmer. (…) Dann die Schritte, als er die Treppe hochsprintet. Die Zimmertür, die hinter ihm zufällt.
Und dann ist alles wieder still.
Eine Stunde später ist die Küche auf Hochglanz poliert, und die Spülmaschine summt leise vor sich hin. (…)
Ich gehe aufs Laufband, schalte es ein, wähle meine gewohnten Einstellungen. (…) Ich erhöhe das Tempo noch mal. Zwinge mich, schneller zu laufen, härter zu kämpfen. Ich weiß, ich bin gerade alles andere als gelassen bei der Vorstellung, dass Zachary bald auszieht. Dabei ist das doch das Normalste der Welt. Kinder ziehen aus, gehen aufs College. Eltern bleiben allein zurück. So schwer kann das nicht sein. Vielleicht wäre es was anderes mit einem Mann an meiner Seite. Jemandem, der mir die Angst vor dem leeren Nest ein wenig nimmt. Aber Mom ist die einzige Familie, die ich habe, und mit ihr kann ich nicht darüber reden. Ihr kann ich nicht sagen, wie sehr mir das zu schaffen macht. Ich kann mir ihr missbilligendes Gesicht genau vorstellen. Ich wusste, dass du das nicht hinbekommst, Stephanie.
Und mit den Kolleginnen im Bureau, mit denen ich mich hätte anfreunden können, bin ich nie richtig warm geworden. Die einen, die Familie haben, sind junge Mütter mit kleinen Kindern. Das habe ich längst hinter mir. Die anderen scheinen ausnahmslos im rosaroten Pärchenhimmel zu schweben, zu dem Singles wie ich leider keinen Zutritt haben. Dazu kommt, dass ich gegen die Ermittler ermittele, weshalb die lieben Kollegen lieber einen gewissen Sicherheitsabstand halten.
Vor Jahren habe ich mich mal Marta anvertraut. Eine langjährige Freundin, Analystin drüben bei der CIA. Einer der wenigen Menschen, denen ich vertraute – und die Einzige, der ich beinahe mein größtes Geheimnis verraten hätte. Aber das ist lange her. Das habe ich nun davon, dass ich unbedingt das Richtige tun wollte. Das hat mich meine engste Freundin gekostet. Schluss jetzt, Steph. Mit aller Macht verdränge ich den Gedanken.
Ich habe schon überlegt, mir professionelle Hilfe zu holen. In einer Psychopraxis auf der Couch sitzen, eine Schachtel Taschentücher neben mir, und einfach alles rauslassen. Und währenddessen sitzt meine Psychiaterin geduldig daneben und kritzelt ihren Block mit Notizen voll. Versichert mir, dass es okay ist, so zu empfinden. Zeigt mir Möglichkeiten auf, damit umzugehen. Aber ich kenne die Geschichten von der Arbeit. Kollegen, die sich Hilfe geholt haben, und deren Karriere daraufhin prompt ins Stocken geriet. Oder gleich ganz im Sande verlief. Und Gott bewahre, ich müsste ja ein Antidepressivum nehmen. Wie sähe das denn aus, wenn ich unter Medikamenteneinfluss stünde? Selbst wenn es vom Arzt verschriebene wären?
Aber es ist auch ganz egal. Ich kann mir nämlich sehr genau denken, was die Psychiaterin zu mir sagen würde. Ich spiele manchmal ein kleines Spiel und stelle mir vor, ich säße ihr gegenüber auf der Couch. Sie redet mit mir, gibt mir gute Ratschläge, sagt Sachen wie: Sie verlieren ihn ja nicht für immer. Ihrer Beziehung wird das guttun. Es gibt noch so vieles, worauf Sie sich freuen können. Ich konzentriere mich auf das rhythmische Stampfen meiner Füße. Ein beruhigendes Geräusch, gleichmäßig und vorhersehbar. Laufen ist zu meiner kleinen Flucht geworden. Die beste Möglichkeit, meine Gedanken daran zu hindern, dorthin abzuschweifen, wo ich sie nicht haben möchte. Aber heute scheint es nicht zu funktionieren. Zachary ist so gut wie aus dem Haus.
Ich drücke auf Stopp und höre es piepsen. Der Motor wird langsamer, meine Schritte genauso. Erst gemächliches Joggen, dann schnelles Gehen. Ich steige ab, kurz bevor das Laufband zum Stehen kommt, und wische mir mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn. Ein altbekanntes Gefühl steigt in mir auf, kribbelnd wie ein Stromschlag. Eine rastlose Nervosität. Die Sorge, dass alles unaufhaltsam auseinanderbricht.
(…) Ich gehe in die Küche und öffne den Schrank unter der Spüle. Darin steht eine Plastikwanne mit sämtlichen Putzmitteln, ordentlich sortiert. Ich nehme die Box mit Desinfektionstüchern, ziehe eins heraus und fange an, die Arbeitsplatten zu scheuern. Obwohl sie sauber sind. Aber ein bisschen Putzen hat noch niemandem geschadet. (…) Mit dem Staubwedel in der Hand gehe ich nach nebenan ins Wohnzimmer. In der Tür fällt mein Blick auf das Schachbrett, und ich bleibe stehen. Wenn hier irgendwas abgestaubt werden sollte, dann wohl das.
Ich sollte ihn bitten runterzukommen. (…)
Aber er kommt nicht. Seit zwei Wochen warte ich schon vergebens. Wird es nicht langsam Zeit, dass ich zu ihm gehe? Dann sagt er halt Nein. Und wenn schon?
Zumindest habe ich es versucht.
Ich lege den Staubwedel auf den Couchtisch und gehe nach oben, ehe ich es mir wieder anders überlege.
Seine Zimmertür steht offen, die Badezimmertür am Ende des Flurs ist dafür zu. Ich höre, wie er die Dusche aufdreht, und bin maßlos enttäuscht. Wenn er duscht, dann dauert das. Das war früher schon ein ewiger Kampf, bis ich irgendwann entnervt das Handtuch geworfen und aufgehört habe, unablässig gegen die Tür zu hämmern, während er unter der Dusche stand.
Das war’s dann mit Schachspielen. War vermutlich sowieso eine blöde Idee.
Ich drehe mich um und will wieder nach unten gehen, da fällt mein Blick durch die offene Tür in sein Zimmer. Überquellender Wäschekorb. Kleiderberge auf dem Boden. Ungemachtes Bett. McDonald’s-Becher auf dem Bücherregal, ohne Untersetzer. Hinterlässt bestimmt einen Wasserring. Der Becher ist zu viel für mich. Erbost marschiere ich in sein Zimmer, rieche den unverwechselbaren Teenager-Mief. Gehe zum Bücherregal, wische mit der Hand den Kondensring ab. Immerhin noch kein Fleck. Mein Blick bleibt an etwas hängen – eine zusammengeknüllte Chipotle-Tüte auf dem Boden neben dem Bett. Die nehme ich auch gleich mit und klemme sie mir unter den Arm.
Abschließend schaue ich mich noch mal um. Im Hintergrund höre ich die Dusche rauschen. Wer weiß, was sonst noch für Fast-Food-Überreste in diesem Schweinestall versteckt sind. Ich bücke mich und spähe unter das Bett. Erstaunlich müllfrei. Ich schiebe ein paar Klamotten auf dem Boden beiseite, um nach darunter begrabenen Zivilisationsresten zu suchen. Nichts, zum Glück.
Danach gehe ich zu seinem riesengroßen begehbaren Kleiderschrank. Der ist vollgestopft bis obenhin. Jede Menge Polo-Shirts und Hemden, ein Anzug. In den Regalen stapeln sich Klamotten in den unterschiedlichsten Stadien fortschreitender Unordnung. Auf den oberen Brettern liegen die Sachen, die er immer anzieht: Jeans, eine Handvoll einfarbiger T-Shirts, Hoodies. Alle mehr schlecht als recht gefaltet. Die unteren Bretter sind ordentlicher: Sommershorts und Badeshorts auf dem einen Brett. Sachen, die ihm längst zu klein geworden sind, auf dem anderen.
Am untersten Regal bleibt mein Blick hängen. Darin stapelweise alte T-Shirts: Fußball, Little League und Basketball. Irgendwann hatte er die alle mal zu dem Haufen alter Klamotten gelegt, die ich in die Kleidersammlung geben wollte. Ich habe es gesehen, habe sie rausgenommen und wieder in den Schrank gelegt. Ich weiß gar nicht, warum. Vielleicht wollte ich mir nicht eingestehen, dass die Zeiten längst vorbei sind. Dass es kein Zurück gibt. Dass ich nie die Zeit haben werde, mir all die versäumten Spiele doch noch anzusehen.
Oben auf einem der Stapel liegt noch etwas. Eine braune Papiertüte, wie aus einem Fast-Food-Restaurant. Oder vielleicht ein bisschen kleiner – in solche Tüten habe ich ihm sein Pausenbrot gepackt, als Lunchboxen plötzlich out waren. Sie ist ganz nach hinten geschoben. Man kann sie fast nicht sehen.
Ich bücke mich, um mir das genauer anzuschauen. Die Tüte ist oben gefaltet und ganz zerknittert, aber leer ist sie nicht.
Ohne nachzudenken ziehe ich das Ding aus dem Regal. Schwer ist sie. Müll ist das jedenfalls nicht.
Wie sich das anfühlt, diese Form – ich weiß sofort, was das ist. Ein entsetzlich beklemmendes Gefühl kommt in mir hoch. Als wüsste ich schon, was jetzt passieren wird, und könnte es doch nicht aufhalten. Als stünde meine Welt kurz davor, in Stücke zu zerspringen.
Ich falte die Tüte auf. Mit zitternden Fingern. Ich öffne sie.
Ich schaue hinein. Und dann sehe ich es. Es ist eine Pistole.
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