Der zweite Fall für Thomas Engel

Kriminalkommissar Thomas Engel ermittelt in seinem zweiten Fall in der Stadt der Spione.

Kriminalkommissar Thomas Engel hat es nach West-Berlin verschlagen, um bei der Mordkommission in der geteilten Stadt ermitteln zu können. Doch es kommt anders: Statt Mörder sind Spione sein täglich Brot, denn die Stadt ist voll davon. Die Alliierten tun alles, um an Informationen von der Gegenseite zu kommen. Dass sie dabei nicht zimperlich vorgehen, erfährt Engel gleich an seinem zweiten Tag im Dienst. Bei der Observation eines Verdächtigen geht alles schief, Engel nimmt die Verfolgung auf und gerät mitten hinein in den Kalten Krieg zwischen Ost und West …

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Der erste Fall für Thomas Engel

1965: In einer alten Ruine in der Nähe von Düsseldorf wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Der Tatort sieht genauso aus wie damals im Jahr 1939. Doch der Täter wurde damals dafür gehängt …

Düsseldorf, 1965: Für den jungen Kommissar Thomas Engel ist die Stadt am Rhein der verheißungsvolle Beginn eines neues Lebens. Als er zum ersten Mal ein Konzert der Rolling Stones sieht, gibt es für ihn kein Weg zurück, die Provinz liegt weit hinter ihm. Er stürzt sich in das Leben und in seine Arbeit, die ihm gleich einen spannenden Fall beschert. Ein junges Mädchen wird in der Ruine Kaiserswerth tot aufgefunden. Engel versteht nicht, dass seine Kollegen nicht gleich die Spur verfolgen, die geradewegs in die dunklen 1930er Jahre führt. Versucht man etwas vor ihm zu verheimlichen, und warum will niemand sehen, was so offensichtlich auf der Hand liegt?

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Leseprobe

"1965 - Der erste Fall für Thomas Engel"

Teil 1
Il Silenzio


1
Blau war die Farbe der Sehnsucht, und Weiß brachte Unheil. Aber das ahnte die zehnjährige Lotte Reimann nicht, die sich unbedingt die blaue Mütze wünschte, die noch zu ihrer Hitlerjugend-Uniform fehlte. Doch die kostete zwei Mark, und das war viel Geld für ihre Eltern, die als einfache Arbeiter jeden Pfennig zweimal umdrehen mussten, um knapp über die Runden zu kommen.
»Wir können uns die Mütze jetzt nicht leisten, die übrige Uniform war schon teuer genug«, versuchte die Mutter zu erklären. Sie und ihr Mann verstanden sowieso nicht, warum sie für den dunkelblauen Rock, die weiße Bluse und das schwarze Halstuch selbst aufkommen mussten, obwohl die Mitgliedschaft für den Jungmädelbund, die Mädchenabteilung der Hitlerjugend, Pflicht war.
»Soll doch der Führer zahlen«, brummte der Vater unwillig.
»Unsere Gruppenführerin hat aber gesagt, dass man für den Führer nicht geizig sein darf, Vati!«
»Dann muss er für bessere Löhne sorgen«, schimpfte der Vater und handelte sich einen strafenden Blick seiner Frau ein. Bloß kein schlechtes Wort über den Führer vor dem Kind verlieren, nachher würde sie etwas ausplappern und den Eltern große Schwierigkeiten bereiten. In der Hitlerjugend, so hatte sie von einer Nachbarin erfahren, brachte man den Kindern bei, dass die Gruppenführerin immer recht hatte und dann erst die Eltern. Aber die Befürchtung der Mutter war unbegründet. Lotte liebte ihre Eltern und hätte sie niemals angeschwärzt. Trotzdem wollte sie nicht auf die Mütze verzichten. Also fasste sie den Plan, die zwei Mark selbst zu verdienen. Am einfachsten ging das als Radschläger, wo man von den Passanten den einen oder anderen Groschen erturnen konnte. Das machten Generationen von Kindern, und die Radschläger waren eines der Wahrzeichen der Stadt. Woher diese Tradition stammte, wussten die kleinen Turner nicht, aber das spielte auch keine Rolle, weil viele Jungen und Mädchen diese Einnahmequelle schätzten.
Lotte ahnte nicht, dass sich an diesem Tag sehr viele Menschen in der Stadt versammelt hatten. Die NSDAP hatte zu einer Kundgebung aufgerufen. Ein Mann in brauner Uniform stand auf der Bühne und sprach vor vielen Hunderten Menschen. Dabei versuchte er, seinem Führer in Gestik, Tonfall und Wortwahl nachzueifern, ja, ihn zu übertreffen, was aber nur zur Folge hatte, dass er sein Idol unfreiwillig parodierte. Die versammelten Anhänger, meist Männer, merkten es nicht, weil sie es nicht merken wollten. Als Lotte auf dem Platz eintraf, prangerte der Möchtegern-Hitler »das Weltjudentum« an, das einen Krieg gegen Deutschland anzetteln würde. »Wenn Polen nicht nachgibt, wird unser Führer die Ehre Deutschlands verteidigen! Er will keinen Krieg, aber er fürchtet ihn auch nicht!«, brüllte er der Menge zu, die seine Parolen gierig schluckte und sich daran berauschte.
Einer der Zuhörer trug einen teuren grauen Anzug, und am Revers glänzte die frisch polierte Anstecknadel der Partei. Das laute Kläffen des Gauleiters langweilte ihn. Er konnte die Hasstiraden vom Weltjudentum nicht mehr hören, weil er sie auswendig kannte. Sie interessierten ihn auch gar nicht. Er war nur gekommen, weil es ein Pflichttermin für jeden Parteigenossen war. Der Kriegsgefahr sah er gelassen entgegen. Männer seines Schlages fanden immer Wege, nicht als Kanonenfutter zu enden. Ihn plagten andere Probleme. Seit Tagen spürte er in seinem Körper diese verbotene Gier, sein dunkles Geheimnis, das er wie einen giftigen Schatz hütete. Bis jetzt war es ihm stets gelungen, dieses Feuer zu unterdrücken, und manchmal lenkte er sich im Bordell ab, aber nicht immer fanden sich Huren, die seine Wünsche erfüllen wollten und seine perversen Rollenspiele mitmachten. Er wusste, dass das keine Dauerlösung war. Irgendwann würden seine Dämonen ein erstes richtiges Opfer verlangen. Und das taten sie auch, als das junge Mädchen mit dem kurzen Rock und der schlichten Bluse auf dem Platz auftauchte. Sie stellte sich wie eine Turnerin kerzengerade hin, streckte die Arme elegant wie eine kleine Ballerina nach oben und achtete dabei darauf, dass ihre Beine geschlossen waren. Der Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Der Mann keuchte vor Erregung, was aber keinem auffiel, weil seine Parteigenossen wie hypnotisiert den Ausführungen des Gauleiters folgten. Er dagegen schritt wie in Trance auf sein Opfer zu.
Lotte wollte heute ein besonders gutes Rad hinkriegen. Sie nahm Schwung, die linke Hand ging hinunter, mit der rechten stieß sie kraftvoll ab. In der Luft spreizte sie ihre Beine. Auf diesen Moment hatte der Mann gewartet und gehofft.
»Bitte einen Groschen!«, rief Lotte und kam vor dem Mann elegant zum Stehen.
Der versuchte, halbwegs unaufgeregt zu schauen, und gab ihr den geforderten Groschen.
»Was willst du damit machen?«, presste er halbwegs normal hervor.
»Ich sammle für meine blaue Jungmädel-Mütze.«
»Der Führer wird sich freuen«, lobte der Mann ohne jede Ironie und winkte mit einer weiteren Münze. »Dann schlag noch einmal ein Rad.«
Das ließ sich das Mädchen nicht zweimal sagen. Während im Hintergrund der Gauleiter den Führer in den Himmel lobte, drehte sie ein Rad nach dem anderen, und jedes Mal zahlte der Mann einen Groschen. Irgendwann hatte er vom Zusehen genug. Er brannte. Es gab nur einen Weg, um das Feuer zu löschen.
»Wie viel kostet die Mütze denn?«, fragte er sie leicht keuchend.
»Zwei Mark«, antwortete sie und steckte den letzten Groschen ein.
»Wenn du mitkommst, gebe ich dir das Geld für die Mütze«, sagte er lächelnd und holte zwei Markstücke aus seiner Briefta- sche.
Die Augen der kleinen Lotte begannen zu leuchten. Endlich würde sie eine Mütze bekommen! Sie würde ein vollwertiges Mit- glied der Hitlerjugend sein, der Führer wäre stolz auf sie! Sie zögerte keine Sekunde, als der freundliche Mann ihr anbot: »Wir fahren mit dem Auto zu meiner Mama, und du schlägst ein paar Räder für sie. Sie hat heute Geburtstag und würde sich bestimmt sehr darüber freuen. Willst du?«
»Du hast ein Auto?«, fragte sie beeindruckt.
»Natürlich!« Er reichte ihr die Hand, und dann führte er sie ins Unglück.
Hinter ihnen bebte der Platz vor den lauten Sieg-Heil-Rufen der Menschen, die sich ihre Seele aus dem Leib brüllten. Es war das Jahr 1939.




2

1965 fanden in Deutschland die ersten Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg statt, im deutschen Fernsehen sorgte eine Sendung namens Beat-Club für wütende Reaktionen bei den Erwach- senen, und irgendwo am tiefsten Niederrhein zwängten sich drei Männer auf einen Hochsitz. Zwei davon, Walter Engel und Kurt Strobel, Mitte fünfzig, sahen in ihren grünen Loden wie richtige Jäger aus, während der dritte, der einundzwanzigjährige Thomas Engel, in Räuberzivil steckte, obwohl er unbedingt zur Kripo wollte. Thomas hasste die Jagd, er hasste auch diese Gegend, die nasskalten Wiesen, die Baumskelette und vor allem den Nebel, der nach Rinderbrühe stank. Trotzdem hast du dich hier wohlgefühlt und bist jetzt voller Schrotkugeln, sagte er in Gedanken zu dem toten Hasen, den sein Vater vor einer halben Stunde geschossen hatte. Er streichelte ihn sanft, als würde er noch leben. Dass Thomas mit auf die Pirsch gegangen war, hatte einen einfachen Grund. Er wollte gute Stimmung bei seinem Vater machen. Der Vater leitete die kleine Kreispolizeibehörde des Ortes, wobei sich die polizeiliche Arbeit in Grenzen hielt: Es gab gelegentlich eine Verwarnung für zu schnelles Traktorfahren oder eine Rüge für den Kellner, wenn er aus drei angetrunkenen Gläsern Bier ein ganzes machte. Vielmehr sah Thomas’ Vater sich als Hüter der Moral und Bewahrer der Tradition, wie es ihm auch der Gemeinderat anlässlich des dreißigjährigen Dienstjubiläums in einer öffentlichen Sitzung bescheinigt hatte. Und als solcher wollte er ein Vorbild sein. Er schnitt den Rasen vor dem Haus akkurat und maß mit einem Lineal alles ab. Unkraut wurde nicht herausgezupft, sondern gleich rausgebrannt. Thomas’ Mutter wischte jeden Tag die Fenster blitzblank und streifenfrei, putzte alles keimfrei mit Salmiak, und niemals hing die Wäsche schief. Für Thomas hieß es: Lernen statt faulenzen. Alkohol meiden. Nicht auffallen, sondern anpassen. Gehorchen, statt Fragen zu stellen. Zur guten Erziehung gehörte es auch, dass sich der pubertierende Thomas beim Katechismusunterricht hatte anhören müssen, dass Selbstbefriedigung eine Sünde sei oder eine Geisteskrankheit. (Der Priester wohnte übrigens seit dreißig Jahren mit der Haushälterin zusammen und hatte da leicht reden.)
Das alles führte dazu, dass Thomas wegwollte. Er hatte sein Abitur gemacht, die Stadt lockte, er musste dieser Enge hier entkommen. Dafür hatte er wochenlanges Übungsschießen im Schützenverein in Kauf genommen. Mit den anderen Schützen, die in Reih und Glied und mit Tschingderassabum durch den Ort marschierten, verband ihn nichts. Sogar sein Vater, der Traditionen eigentlich liebte, hielt sich von ihnen fern. Einmal hatte er gesagt: »Das erinnert mich an das Militär, und damit habe ich nichts zu tun. Ich war immer nur Polizist!« Warum er das Militär kritisierte, behielt er für sich. »Ich war nicht bei der Wehrmacht, ich war nur Polizist. Und der Hitlerpartei bin ich auch nicht bei- getreten, obwohl mich die Nazis bedrängt haben«, betonte er oft, ohne ins Detail zu gehen.
Thomas selbst wusste wenig über die Nazis und Hitler, weil der Geschichtsunterricht bei Bismarck geendet hatte. Viele Bewohner des Ortes sprachen gut über Hitler. Nicht selten hörte Thomas den Satz: »Bei Adolf wäre das nicht passiert« – wenn fahrende Zigeuner ihre Teppiche verkaufen wollten oder ein paar vorlaute Jugendliche aus dem Transistorradio »Negermusik« hörten. Diese Gefahr bestand beim heranwachsenden Thomas allerdings nicht, denn seine Altersgenossen nahmen den Sohn des Polizisten gar nicht in ihre Mitte auf. So blieb er ein Einzelgänger, der in seiner Bücherwelt eine Heimat fand. Am liebsten las er Kriminalromane. Er hatte keine speziellen Helden, er mochte Sherlock Holmes genauso wie Sam Spade oder Kommissar Maigret. Aber sein größtes, reales Vorbild war Kurt Strobel, den er »Onkel« nannte. Er war ganz anders als sein Vater. Er besaß Humor, lebte in der Stadt, und vor allem war er Leiter der Kriminalpolizei. Das imponierte Thomas gewaltig. So wie Kurt Strobel wollte er auch werden. Ein Kriminalist, der das Böse bekämpfte, kein Dorfpolizist wie sein Vater.
»Aufwachen!« Sein Vater drückte Thomas unsanft das Fernglas auf die Brust. »Keine hundertfünfzig Meter, leichtes Ziel, schätze mal neunzig Kilo. Kriegst du mit einem Blattschuss hin.«
Durch das Fernglas sah Thomas eine Wildschweinbache mit ihren Frischlingen.
»Geht nicht. Schonzeit für die Bache«, kommentierte er und reichte seinem Vater das Fernglas zurück.
»Kriegt doch keiner mit, also schieß!«, drängte der Vater.
Widerwillig nahm Thomas das Gewehr und legte an. Die Bache bot zwar ein leichtes Ziel, aber er zögerte.
»Ich kann das nicht.«
»Was anderes kommt dir heute nicht mehr vor die Flinte. Mach endlich, damit wir nach Hause kommen!«
Strobel, der bis jetzt nur zugehört hatte, wandte sich an Thomas’ Vater.
»Walter, er muss doch nicht!«
»Habe ich jetzt einen Sohn oder nicht?«
»Hast du!«, schrie Thomas trotzig und drückte ab.
Durch sein Gebrüll war die Bache zwar hochgeschreckt, aber Thomas traf dennoch. Die Frischlinge quiekten wild und wussten nicht, was sie machen sollten: wegrennen oder bei der Mutter bleiben?
»Blattschuss! Waidmannsheil«, sagte Thomas’ Vater und machte sich sogleich daran, den Hochsitz herunterzusteigen.
Thomas ahnte, dass er sie nicht richtig getroffen hatte.
»Warte, die lebt noch«, warnte er, aber sein Vater winkte ab und eilte auf das Tier zu, gefolgt von Strobel. Thomas sollte recht be- halten. Das Tier war nicht tot. Unvermittelt begann es zu krei- schen, mobilisierte unerhörte Kräfte, kam noch einmal auf die Beine und lief geradewegs auf die beiden Männer zu, die schon mit dem Schlimmsten rechneten. Doch sie kam nicht weit. Sie verfing sich in ihren eigenen Eingeweiden, brüllte vor Schmerzen, spuckte literweise Blut, bis sie sich schließlich auf die Seite legte, um zu sterben. Statt zu flüchten, liefen die Frischlinge instinktiv zu ihrer Mutter, um Schutz zu suchen. Die wälzte sich im Todeskampf auf dem feuchten Boden und konnte ihnen nicht helfen. Vergeblich stupsten die Tierchen mit den Nasen gegen ihren Bauch, um an die Zitzen zu kommen.
»Gib ihr den Fangschuss«, befahl Walter Engel seinem Sohn. Beim Anblick des leidenden Muttertieres und der hilflosen Frischlinge wurde Thomas speiübel. Er konnte nicht hinschauen. In diesem Moment schwor er sich, nie mehr einen Schuss abzugeben.
»Los, mach schon! Sie leidet, nur weil du zu blöd bist, einen anständigen Blattschuss hinzulegen.«
Thomas brachte es nicht übers Herz.
»Sei doch endlich ein Mann!«
Strobel mischte sich ein: »Walter, kümmere du dich bitte um die Frischlinge. Ich mach das hier.«
Dann lud er sein Gewehr durch und reichte es Thomas, während sein Vater ein Messer hervorholte.
»Du musst den Lauf zwischen die Teller halten und dann abdrücken«, erklärte er.
Thomas hielt noch immer den toten Hasen fest im Arm.
»Und wenn ich nicht treffe, dann leidet sie noch mehr.«
»Komm, ich zeig’s dir.«
Strobel nahm das Gewehr und drückte den Lauf zwischen die Ohren des Tieres.
»Ich stellte mir immer vor, am Lauf wäre ein Bajonett. Das erleichtert das Zielen.«
Er drückte ab, und der Schuss erlöste das Tier.
»Das mit dem Bajonett habe ich von deinem Vater gelernt«, meinte er und klopfte Thomas auf die Schulter. Der wäre am liebsten weggelaufen. Das quälende Quieken der Frischlinge, die dem Messer seines Vaters nicht entrinnen konnten, war nicht zu ertragen. Strobel legte seinen Arm um Thomas’ Schulter.
»Alleine würden sie doch nicht durchkommen.«
Als Thomas die tote Bache sah, die leblosen Frischlinge und seinen Vater, der das Blut vom Messer wischte, wünschte er sich zum ersten Mal in seinem Leben den gewohnten Nebel herbei, damit er das ganze Elend nicht zu sehen brauchte.
Während sein Vater die Bache fachgerecht zerwirkte, stand Thomas mit seinen Hasen verloren da. Sein ganzer Plan war schief gelaufen. Statt dem Vater zu imponieren, fühlte er sich jetzt auf der blutgetränkten Wiese wie ein Versager. Strobel schien Thomas’ Stimmung nicht zu entgehen. Er wandte sich an seinen Freund:
»Walter, ich gehe mal mit dem Jungen vor.«
Der Vater hatte nichts dagegen, und Thomas war froh, dass er mit Strobel alleine war. Unterwegs bot ihm Strobel ein Erdbeerbonbon an, das er aus einer kleinen runden Dose holte. Der Onkel liebte diese Bonbons und lutschte sie, seit Thomas denken konnte.
»Hast du dir nie überlegt, zur Kripo zu gehen?«, fragte Strobel. Thomas sah ihn erstaunt an. Konnte er Gedanken lesen?
»Das würdest du doch gerne machen, oder?«
Thomas nickte. »Aber Vater will das bestimmt nicht.«
»Lass mich mal machen.«
Thomas konnte es nicht glauben. Das war mehr, als er sich je zu hoffen gewagt hätte.
»Das ist mein Geschenk zu deinem Abitur. Ich weiß, dass du dich schon länger für meinen schönen Beruf interessierst. Ich muss auch sagen, dass ich ein bisschen stolz bin, schließlich habe ich das gefördert, oder? Durch die Bücher, die ich dir immer mitgebracht habe.«
Die beiden setzten ihren Weg fort.
»Onkel, darf ich dir eine Frage stellen?«
»Bitte.«
»Du bist mit Vater befreundet, aber ihr seid irgendwie so anders …«
»Na ja, er ist bei der Schutzpolizei und ich bei der Kripo.«
»Das meine ich nicht. Ich meine, wie soll ich das sagen …« Thomas druckste herum, weil er kein schlechtes Wort über seinen Vater verlieren wollte. Verstand ihn der Onkel nicht?
Doch, das tat er. »Wir haben unterschiedliche Temperamente, aber das spielt keine Rolle. Freundschaften, die im Krieg entstehen, halten ewig.«
»Was habt ihr denn da eigentlich erlebt? Vater spricht nie über den Krieg.«
»Ich habe deinen Vater während des Kriegs kennengelernt. Aber wir waren keine Soldaten, sondern immer nur Polizisten …« Strobel machte eine lange Pause.
Thomas wollte nicht weiter in ihn dringen. Viel wichtiger war ihm, dass der Onkel sich für ihn bei seinem Vater einsetzen wollte.
»Was willst du mit dem toten Tier machen?«, fragte Strobel mit Blick auf den Hasen, den Thomas wie einen Teddy in den Händen hielt.
»Begraben«, antwortete er leise und schämte sich beinahe für seine Antwort.
»Dann mach es hier, sonst lacht dein Vater dich aus.«
Das wollte Thomas auf keinen Fall, und so bekam der tote Hase sein Grab. Dass sein Vater wegen des fehlenden Hasen einen Aufstand machen würde, war ihm in diesem Moment egal.


3

Am Abend saß Thomas mit seinen Eltern und Strobel im Wohnzimmer und war so glücklich wie noch nie in seinem Leben. Bald würde er die ausgestopften Tierköpfe an der Wand, diese ekligen Jagdtrophäen, nicht mehr sehen müssen. Sein Vater hatte dem Vorschlag seines besten Freundes nach einigem Zögern zugestimmt. »Meiner Überzeugung nach solltest du eher Lehrer oder Buchhalter werden, weil du nicht das Zeug zum Polizisten hast. Aber wenn Kurt der Meinung ist, versuch es halt.«
»Wirst du in der Stadt nicht das schöne Leben hier vermissen?«, fragte die Mutter besorgt, und Thomas ersparte sich eine Antwort, weil er sie nicht beleidigen wollte. Er sehnte sich nach seinem eigenen Leben, ohne die Kontrolle seines allmächtigen Vaters.
»Halt dich unbedingt von den Gammlern und Halbstarken fern«, fiel der Mutter noch ein.
»Überlass das Kurt, Mutter, er wird dem Jungen den richtigen Weg zeigen«, beruhigte ihr Mann sie und holte zwei Batavias aus der Kiste. Thomas, der den Zigarrengeruch auf den Tod nicht ausstehen konnte, wäre normalerweise jetzt aus dem Zimmer gegangen, blieb aber und reichte Vater und Strobel sogar Feuer.
»Und nun mal Butter bei die Fische«, sagte Strobel und blies mehrere Rauchkringel in die Luft. »Um auf die Landeskriminalschule zu kommen, gibt es zwei Wege. Entweder du bist Schutzpolizist und machst einen fünfzehnwöchigen Lehrgang. Oder du kommst als Quereinsteiger dazu. Dann musst du eine Ausbildung und einen zweijährigen Grundlehrgang in einer Kreispolizeibehörde nachweisen, so eine Art Praktikum.«
»So was habe ich aber nicht«, entfuhr es Thomas besorgt. Er hatte ja nur das Abitur.
»Merk dir eins, Thomas. Ein guter Kriminalist gibt niemals auf. Er sucht immer nach Lösungen«, sagte Strobel schmunzelnd und strich ihm wie einem Schuljungen über die Haare. Thomas nickte und war neugierig, wie der Onkel dieses Problem lösen würde. Sein Vater schüttelte nur pessimistisch den Kopf.
»Doch, Walter, es gibt wirklich eine Lösung, allerdings hängt die von dir und mir ab. Ich kann meine Beziehungen beim Landeskriminalamt spielen lassen, dann ist die abgeschlossene Berufsausbildung nicht so wichtig. Immerhin ist Thomas Abiturient, und davon gibt es viel zu wenige bei der Polizei.«
»Außerdem bin ich letzte Woche volljährig geworden«, warf Thomas ein, handelte sich einen strengen Blick von seinem Vater ein, der keine Einmischung wünschte. Stattdessen wandte der sich an Strobel: »Und das zweijährige Praktikum?«
»Jetzt kommst du ins Spiel. Wenn du beispielweise bescheinigen würdest, dass er in den letzten zwei Jahren einen Grundlehrgang absolviert hat …«
Das Gesicht von Thomas’ Vater verdunkelte sich. Solch ein Vorschlag verlangte viel von ihm ab. Er war ein Mann, der tagtäglich Recht und Ordnung vorlebte, auch in der Familie. Und jetzt sollte er eine Urkunde fälschen.
»Das kommt nicht infrage! Thomas braucht nicht unbedingt zur Kripo«, mischte sich Thomas’ Mutter ein, handelte sich jedoch sofort einen strafenden Blick ihres Gatten ein.
»Überlass das mir, Mutter!«
Wie meistens gab sie keine Widerworte. Im Haushalt der Engels waren die Rollen klar verteilt.
»Die Ausstellung falscher behördlicher Urkunden ist strafbar, das ist dir doch bekannt, Kurt, oder? Ich kann nicht glauben, dass du das ernst meinst.«
»Wir reden hier von Paragraf 267 bis 282 des Strafgesetzbuches, natürlich«, sagte Onkel Kurt gespielt ernst. »Und wenn das rauskommen würde, gäbe es eine Menge Ärger. Du würdest mindestens suspendiert und müsstest auf deine Rente verzichten.« Er blinzelte Thomas zu. »Aber jetzt mal im Ernst, Walter. Wer soll das herausfinden? So eine Bescheinigung interessiert kein Schwein! Im Moment ist das Innenministerium froh, wenn überhaupt jemand zur Kripo kommt. Es herrscht Personalmangel, weil die Alten pensioniert werden.«
Das Argument überzeugte seinen Freund nicht. Mürrisch schüttelte er den Kopf. Thomas sah seine Felle davonschwimmen, aber dann zog Strobel breit grinsend ein unerwartetes Ass aus dem Ärmel. »Ach, mir fällt gerade ein, ich habe euch noch gar nicht mitgeteilt, dass ich bald einen kleinen beruflichen Sprung mache. Vor euch steht der nächste Landeskriminaldirektor beim LKA!«
»Landeskriminaldirektor? Dann bist du ja der ranghöchste Kriminalbeamte in Nordrhein-Westfalen«, sagte Walter staunend.
Auch Thomas war beeindruckt. Eine höhere Position war für einen Polizisten nicht zu erreichen.
»Glaub mir, Walter, ich habe die Stelle nicht nur wegen meiner kriminalistischen Fähigkeiten erhalten. Vitamin B spielt auch immer eine Rolle, das muss man ehrlich zugeben. Ich kenne halt die richtigen Leute beim Innenministerium. Und die würden mit Sicherheit keinen Ärger wegen einer kleinen Bescheinigung machen, die kein Mensch überprüfen kann.«
Walter Engel war überzeugt. Er nickte kurz, dann klopfte er seinem Freund auf die Schulter: »Herzlichen Glückwunsch, lieber Kurt, das ist doch mal eine schöne Nachricht! Mutter, warum haben wir keinen Sekt zum Anstoßen?«
Thomas trat auf Strobel zu und reichte ihm die Hand: »Darf ich dir auch gratulieren, Onkel?«
»Gerne, mein Junge, danke!«
»Aber ein wenig schade ist es doch, weil du ja dann gar nicht mehr im Präsidium bist, wenn ich mit der Ausbildung anfange!«
»Du wirst mich noch eine Weile ertragen müssen, Thomas. Mein Dienst beim LKA beginnt erst, wenn der jetzige Kriminaldirektor in Rente geht, das dauert noch ein paar Monate«, beruhigte ihn Strobel. »Du weißt jetzt, was du deinem Vater verdankst. Bezahle ihm das mit dem besten Abschlusszeugnis deines Lehrgangs.«
Thomas sah seinen Vater an: »Darauf gebe ich dir mein Wort, Vater!«
Die Reaktion seines Vaters beschränkte sich auf skeptisches Brummen, aber das war Thomas egal. Hauptsache er konnte zur Kripo. Sein Vater wollte dann den Aufstieg seines Freundes und Kriegskameraden feiern. Den würdigen akustischen Rahmen bildete eine Platte, die er täglich hörte und ihn in feierliche Stimmung versetzte: Il Silenzio von Nini Rosso, die seit Wochen die deutsche Hitparade anführte. Es erklang ein Trompetenstück, und der Vater, sonst fern von jeder Emotion, bekam feuchte Augen. Thomas, eher unmusikalisch, mochte das Stück nicht, weil es ihm zu getragen klang. Außerdem musste er auf Anordnung seines Vaters immer schweigen, wenn es im Radio lief. Doch jetzt schwieg er gern. Sein Traum würde in Erfüllung gehen.


1939

4

Lotte träumte von ihrer blauen Mütze. Sie saß vorne neben dem netten Onkel, der seinen Horch über eine endlos lange Kastanienallee steuerte. Rechts die saftgrünen Wiesen mit den schwarz-weißen Kühen, links bunte Blumenfelder. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie in einem Pkw fuhr, und normalerweise hätte sie jede Sekunde genossen, hätte sich beispielweise vom Fahrtwind kitzeln lassen oder das Armaturenbrett aus blankem Walnussholz bewundert, aber ihre Gedanken kreisten nur um ihre BDM-Uniform, die bald komplett sein würde.
»Freust du dich schon?«
»Ja, Onkel, mit der Mütze werde ich ein richtiges Jungmädel, wie der Führer es sich wünscht.«
Der Mann freute sich auch, und zwar auf sein erstes richtiges
Mal. Dass er dem Führer ein Jungmädel wegnehmen würde, war ihm herzlich egal. So nah war er seinem teuflischen Ziel noch nie gekommen.
»Sind wir bald da?«, fragte Lotte ungeduldig. Sie war so aufgeregt, dass sie seine Hand auf ihrem Knie gar nicht spürte.
»Gleich!«
Er war derart nervös, dass er Probleme mit dem nicht synchronisierten Getriebe des Achtzylinders bekam. Die Koordination von Ganghebel und Bremspedal stockte, weil er wie ein Anfänger vergaß, Zwischengas zu geben. Unterwegs soff der Motor mehrmals ab. Die Fahrt, die wie ein schöner Ausflug ins Grüne begann, neigte sich dem tragischen Ende zu. Bevor sie die alte Ortschaft Kaiserswerth am Rhein erreichten, steuerte der Mann die Limousine auf einen Feldweg zu. Nun wurde es holprig, und Lotte hüpfte auf dem Ledersitz auf und ab. Schließlich hielt der Mann den Wagen an. Sie stiegen aus. Zur Begrüßung winkte eine knorrige Kastanie, von zahlreichen Blitzschlägen aus der Form gebracht. Sie schien genauso viele Jahre auf dem Buckel zu haben wie die riesige Ruine, die sich dahinter auftürmte. Das war die sogenannte Barbarossaburg, oder auch Kaiserpfalz, Überbleibsel einer mächtigen Burganlage mit wechselhafter Geschichte. Bevor sie im achtzehnten Jahrhundert gesprengt wurde, diente sie nicht nur so manchem deutschen Kaiser als Herberge, sondern auch den vorbeifahrenden
Rheinschiffen als Zollstation.
Der Mann war nicht das erste Mal hier. Vor einigen Monaten hatte die Partei eine Feier hier abgehalten, deren Sinn er gar nicht verstanden hatte. Es war um die Tradition des Tausendjährigen Reichs und um Kaiser Barbarossa gegangen, der hier wohl mal abgestiegen war, so genau hatte er nicht zugehört. Auf der höchsten Spitze der Ruine sollte ein »ewiges Feuer« an die »Helden der Bewegung« erinnern, allerdings hatten die Erbauer nicht an die Tauben und Möwen gedacht, die regelmäßig die Gasleitung in der Steinschale mit ihrer Kacke verstopften. Vielleicht war die fehlende Flamme der Grund dafür, dass die Burg nicht die erhoffte Anziehungskraft für die Parteigenossen hatte. Ab dem Nachmittag waren die Ruinen jedenfalls verwaist. Und genau das wusste der Mann.
»Wohnt hier deine Mutti?«, fragte das Mädchen beim Anblick der Burgruine verwundert.
Der Mann nickte abwesend. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er schaute sich um und war erleichtert, dass er niemand auf dem Gelände sah.
»Onkel, wann kann ich meine Räder schlagen?«
»Gleich, Liebchen, gleich«, antwortete er und wollte sie zum hinteren Ruinentrakt führen, der vom Burghof und von der Mauer aus nicht einsehbar war. Das Mädchen blieb kurz stehen und sah zwischen zwei Zinnen den Rhein, auf dem die mit Kohle vollbeladenen Lastkähne vorbeituckerten.
»Wie blau der Fluss ist! Wie meine Mütze!«
Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, zog eine dunkle Wolkenformation auf, die das Blau des Rheins vertrieb und die Kaiserpfalz in Düsternis tauchte. »Ich will zu meiner Mama!«, rief das Kind plötzlich verzweifelt.
Ausgerechnet in diesem Moment entdeckte der Mann eine Person, die die Steintreppe zur ehemaligen Burgkapelle hochging. Er musste jetzt sofort handeln! Schnell zog er das Mädchen hinter einen Mauervorsprung und hielt ihm den Mund zu. Natürlich wehrte sie sich, konnte aber gegen seine achtzig Kilogramm nichts ausrichten. Ihr Widerstand machte ihn wütend und aggressiv, er begann sie zu würgen, immer fester und immer unbarmherziger. Er nahm ihr die Luft zum Atmen, zum Leben und zum
Träumen.



5

Der Lehrgang in der Landeskriminalschule dauerte zwanzig Wochen. Die Ausbildung hatte für Thomas den Vorteil, dass ihm die Bundeswehr erspart blieb, aber trotzdem glich der Tagesablauf dem eines Soldaten. Die Schüler wurden um sechs Uhr geweckt und mussten zum Morgenappell erscheinen. Noch vor dem Frühstück folgte eine halbe Stunde Körperertüchtigung. Laufen, Turnen, Krafttraining. Der Rest des Tages war mit zahlreichen Unterrichtsstunden gefüllt. Erst ab dem späten Nachmittag hatten die Schüler frei. Die meisten nutzten diese Zeit und flüchteten in die Stadt. Thomas nicht. Er wollte als Bester abschneiden, und dafür lernte er jede freie Minute. Er fuhr auch nicht nach Hause, obwohl seine Mutter drängte und ihn mit ihren Mettwürstchen und Rosenkohl zu locken versuchte. Sie wusste nicht, dass die ihm sowieso zum Halse raushingen. Er kostete jede Sekunde in der Kriminalschule aus und verschlang fast jedes Buch der Bibliothek. Schnell galt er als Streber und war nicht sonderlich beliebt. Die anderen mieden ihn, aber damit konnte Thomas leben. Das Einzelgängertum schützte ihn auch vor blöden Bemerkungen, die mit Sicherheit gekommen wären, wenn sie festgestellt hätten, dass er keine Zoten kannte oder mit irgendwelchen Frauengeschichten aufwarten konnte. Seine diesbezüglichen Erfahrungen waren gleich null.
Schon in der Schule hatten sie ihn ausgelacht, weil er noch nie ein Mädchen geküsst hatte, und das musste er nicht noch mal erleben. Er konzentrierte sich lieber auf die Ausbildung.
Im Fach Waffentechnik ging es richtig militärisch zu. Sie lernten, wie man Handgranaten warf und ein Maschinengewehr bediente. Thomas hielt nicht viel davon, weil das seiner Ansicht nach nichts mit dem Alltag eines Kriminalbeamten zu tun hatte, aber weil er auch hier die Bestnote erreichen wollte, gab er sich reichlich Mühe.
Zur Ausbildung gehörte auch der Bereich Straf- und Strafverfahrensrecht. Gleich in der ersten Stunde machte Thomas die Erfahrung, dass seine Ausbilder, die seit Jahrzehnten im Polizeidienst waren, die hehre Tradition der Kriminalpolizei hochhielten. Bei jeder Gelegenheit betonten sie die politische Neutralität der Polizei, die nur nach Recht und Gesetz handelte.
»Auch während der Nazizeit haben wir den Polizeidienst immer neutral und gewissenhaft geleistet. Wir haben uns niemals von der Gestapo vereinnahmen lassen, auch nicht 1937, als Himmler die gesamte deutsche Polizei übernahm«, brachte es einer von ihnen auf den Punkt, ohne allerdings näher darauf einzugehen.
Thomas schrieb zwar alles eifrig mit, hatte aber viele Fragen, die er sich nicht zu stellen traute, weil er sich bei den anderen nicht unbeliebt machen wollte. Aber was war die Gestapo genau? Er hatte gehört, dass sie eine Naziorganisation war, doch welche Funktion sie gehabt hatte, wusste er nicht.
Vergebens versuchte er, in der Zentralbücherei Antworten zu finden. Dort las er in einem Lexikon über die Organisation der Polizei während des Nationalsozialismus nach. Zwischen 1933 und 1945 hatte es eine sogenannte Sicherheitspolizei gegeben. Die war unterteilt in die Geheime Staatspolizei und in die Kriminalpolizei.
Die Aufgaben der Kripo waren die Aufklärung und Verfolgung von Verbrechen, wie seit Jahrzehnten üblich. Die Nationalsozialisten führten aber eine neue Polizei ein, die Gestapo. Sie bekämpfte die sogenannten Staatsfeinde, also Juden, Zigeuner und Kommunisten. Nach dem Krieg wurde die Gestapo von den Alliierten als verbrecherische Organisation eingestuft und verboten. Die Methoden der Geheimen Staatspolizei waren kriminell. Die Gestapo-Beamten verhafteten Menschen ohne gerichtliche Anweisung, folterten und ermordeten missliebige Personen. Nun erst begriff Thomas, warum die Ausbilder sich von der Gestapo distanzierten. Trotzdem fiel ihm auf, dass einige Ausbilder ein widersprüchliches Verhältnis zur Gestapo hatten. »Männer, die unter den Paragrafen 175 fallen, sind seit jeher ein beliebtes Opfer für Erpressungen«, dozierte zum Beispiel ein Ausbilder, ein kerniger Beamter von etwa sechzig Jahren. »Leider stehen uns heutzutage nicht mehr die Mittel der Gestapo zur Verfügung. Wir sind heute gezwungen, in mühsamer kriminalpolizeilicher Arbeit die Männer zu überführen, die gegen diesen Paragrafen verstoßen.«
Thomas wunderte sich, dass der gleiche Ausbilder, der sich letztens von der Gestapo distanziert hatte, ihre Methoden nun gut- hieß.
»Aber die Gestapo bekämpfte doch Staatsfeinde. Sind Homosexuelle denn Staatsfeinde?«, fragte Thomas, ohne lange zu überlegen.
»Weißt du überhaupt, was es bedeutet, wenn man schwul ist?« Der Ausbilder bedachte Thomas mit strengem Blick.
»Wenn ein Mann einen anderen Mann liebt«, antwortete Tho-mas.
»Genau! Wenn alle Männer schwul wären, gäbe es keine Nachkommen. Dann stirbt unser Volk aus, willst du das? Deswegen gibt es den Paragrafen 175 zu Recht, und das hat nichts mit den Nazis zu tun«, antwortete der Ausbilder genervt. Auch die Mitschüler reagierten gereizt, weil sie endlich in die Pause wollten.
In diesem Moment fiel Thomas ein, dass er überhaupt keinen schwulen Mann kannte. Folgerichtig stellte er eine ermittlungstechnische Frage: »Aber wie erkennt ein guter Kriminalbeamter denn, ob ein Mann einen anderen Mann liebt?«
Seine ernst gemeinte Nachfrage provozierte lautes Lachen in der Klasse. Der Ausbilder dagegen sah so aus, als wollte Thomas ihn veräppeln.
»Bist du so blöd, oder tust du nur so?«
»Ich meine es ernst. Wie erkenne ich als Kriminalbeamter einen Homosexuellen?«, wiederholte Thomas, der sich nicht wie ein dummer Junge abspeisen lassen wollte.
»Guck dir die Friseure an. Die sind doch alle schwul«, sagte der Ausbilder und grinste.
Thomas vermisste bei der Antwort zwar kriminalistische Kriterien, aber seine Kollegen johlten, pfiffen laut oder klatschten sich auf die Schenkel – das Thema Männerliebe erzeugte die lautesten Witze und Zoten.
»Schau in den Spiegel, dann weißt du, wie ein Schwuler aussieht«, hörte Thomas jemanden hinter sich und konnte nicht verhindern, dass er rot wurde. Er ballte die Faust in der Tasche und beschloss, es seinen Mitschülern einfach mit einem sehr guten Abschlusszeugnis heimzuzahlen.
Viel interessanter und spannender als den Unterricht im Strafrecht fand Thomas das Erlernen des kriminalistischen Handwerks: Wie lief es ab, wenn man einen Tatort aufsuchte? Wie wurden Beweismittel gesichert? Hier traf Thomas auf andere Ausbilder. Sie waren jünger und offen für seine Nachfragen. Das, was sie lehrten, war genau das, was er sich von einer Ausbildung erhofft hatte.

Die Ausbilder mochten Thomas, der alles aufsog. Um auf dem neuesten Stand zu sein, verschlang er auch einige englische und amerikanische Bücher, die ein junger Ausbilder mitgebracht hatte: einen Band über Gerichtsmedizin und ein Buch namens The Cold-Case-Methods über noch nicht gelöste Fälle, die bei jedem Kriminalbeamten ein unbefriedigendes Gefühl hinterließen.
Alles andere als unbefriedigend fiel dagegen am Ende der Ausbildung die Prüfung für Thomas aus. Er schloss sie als Lehrgangsbester ab.




1939

6

Trotz seines jungen Alters hatte der Hauptkommissar schon viele Tote gesehen. Aber beim Anblick des kleinen Mädchens kämpfte er mit den Tränen. Es lag da wie weggeworfen, den Rock hochgeschoben, das Gesicht bedeckt mit einem Taschentuch. Er hatte Angst vor dem Gesichtsausdruck des Kindes, der ihn erwartete, wenn der Kollege von der Spurensicherung das Tuch entfernen würde. Nur nicht ausmalen, was das Kind die letzten Minuten seines kurzen Lebens erlitten haben musste. Doch der Hauptkommissar musste seine Emotionen vor seinen Untergebenen zurückhalten und Professionalität und Führungsstärke an den Tag legen.
»Macht voran, Leute! Die ersten Stunden nach dem Mord sind die wichtigsten für die Aufklärung«, rief er, während der Beamte vom Erkennungsdienst die kleine Leiche fotografierte und der Arzt darauf wartete, sie untersuchen zu können. Die Kollegen der Spurensicherung suchten die Umgebung nach verwertbaren Spuren ab. Und er, vor einer Woche zum Hauptkommissar befördert, ehrgeizig und mit einem enormen Selbstbewusstsein gesegnet, scharrte mit den Hufen. Er musste diesen Mörder schnappen, bevor er weitere Schandtaten beging. Ohne die Obduktion abzuwarten, war dem Hauptkommissar klar, dass es sich um ein Sittlichkeitsverbrechen handeln musste, und das sprach für einen Serientäter.
»Chef, ich bin fertig mit der Befragung«, sagte ein Beamter, ein rothaariger Hüne mit schief gebundener Krawatte und falsch geknöpfter Weste, der mit einem jungen Mann um die zwanzig gesprochen hatte. »Der Zeuge befasst sich mit der Geschichte dieser Ruine und schreibt seine Doktorarbeit darüber. Heute Morgen hat er die Leiche gefunden und uns angerufen.«
»Ist das alles?«
»Ja, Chef«, antwortete der Hüne und wollte den Zeugen schon wegschicken.
»Einen Moment bitte noch«, wandte der Hauptkommissar ein.
»Hast du dem jungen Mann keine weiteren Fragen gestellt?«
»Nein.«
Am liebsten hätte er jetzt seinen Kollegen zurechtgestutzt, aber vor dem Zeugen gehörte sich das nicht, also warf er ihm nur einen strafenden Blick zu, bevor er die Befragung selbst in die Hände nahm.
»Ich hätte aber noch einige Fragen. Woher wussten Sie, dass das Mädchen tot war?«
»Na ja, sie lag da regungslos … Ich habe mir einfach gedacht, dass sie nicht mehr lebt.«
»Befand sich sonst noch jemand auf dem Gelände?«
»Nein, aber das hat der andere Beamte mich doch schon gefragt«, antwortete der Zeuge leicht genervt.
Dessen unbeeindruckt hakte der Hauptkommissar nach: »Wenn Sie Ihre Doktorarbeit über die Kaiserpfalz schreiben, dann sind Sie doch öfters hier, oder?«
»Ja, in der letzten Woche fast jeden Tag.«
»Welche Art Besucher kommt hier so her?«
»Manchmal ein Liebespärchen, manchmal spielende Kinder …«
»Aha! Dann hat unser Mädchen hier gespielt und ist von dem Schwein angesprochen worden«, warf der eifrige Kollege ein, in der Hoffnung, beim strengen Chef punkten zu können. Stattdessen erreichte er das Gegenteil, einen weiteren strafenden Blick.
»Waren Sie gestern Nachmittag auch hier?«, wollte der Hauptkommissar vom Studenten wissen.
»Ja.«
»Ist Ihnen etwas aufgefallen? Haben Sie jemanden gesehen?« Der Student überlegte kurz und schüttelte den Kopf, berichtigte sich aber sogleich: »Doch, ein Mann ist dort den Feldweg langgelaufen und in ein Auto gestiegen.«
»Können Sie den Mann beschreiben?«
»Nicht richtig, er trug einen Hut und einen grauen Anzug, mehr konnte ich nicht erkennen.«
»War der Mann klein, groß, dünn, dick?«, bohrte der Hauptkommissar nach, aber der Student schüttelte erneut den Kopf.
»Können Sie Angaben zu dem Auto des Mannes machen? Die Marke vielleicht?«
»Ich kenne mich da nicht aus, aber es hatte eine dunkle Farbe.«
»Dann würde ich gerne wissen, wann Sie den Mann gesehen haben.«
»Kurz bevor ich den Siebzehn-Uhr-Bus in Kaiserswerth genommen habe.«
»War er allein?«
»Ich habe nur ihn gesehen, weil ich gestern lediglich auf der Mauer da oben gestanden habe.« Der Zeuge zeigte auf die Steintreppe.
»Das heißt, dass Sie gestern das Mädchen von Ihrer Position aus nicht hätten sehen können«, kombinierte der Hauptkommissar, der seinen Blick schweifen ließ.
»Ich bin erst heute hier in diesem Bereich gewesen. Und da lag es schon da.«
»Können Sie mir bitte zeigen, wo der Mann den Wagen geparkt hatte?«
Der Student nickte und führte die beiden Polizeibeamten zu der Kastanie.
»Üb dich mal in Spurensicherung«, forderte der Hauptkommissar den Rothaarigen auf und wandte sich noch einmal an den Zeugen. »Bitte kommen Sie morgen ins Präsidium, damit wir Ihre Aussage protokollieren können.«
Als der Hauptkommissar sich wieder seinem Kollegen zuwandte, fiel ihm auf, dass der nicht allzu sorgfältig vorging, denn er übersah auf dem lehmigen Boden einen ganz deutlichen Reifenabdruck.
»Wonach suchst du eigentlich?«
»Zigarettenreste, Bonbonpapier«, antwortete der Hüne, der sich eine Zigarettenpackung aus der Tasche holte, was seinen Chef ärgerte, denn jetzt war keine Zeit zum Rauchen.
»Willst du Feuer?«, fragte er ironisch.
»Gerne, Chef!«, antwortete der Kollege und ging auf ihn zu.
»Du sollst bei der Arbeit nicht rauchen«, mahnte der Hauptkommissar, »das mindert die Konzentration.«
»Aber ich habe doch alles untersucht!«
»Und wie steht es mit Reifenspuren? Müsste doch bei dem Boden hier was zu sehen sein«, deutete der Hauptkommissar an.
»Ist aber nichts.«
»Und das hier?«, wechselte der Hauptkommissar in einen eisigen Ton und richtete seinen Zeigefinger auf den Boden. »Wie nennt man das?«
»Na ja, eine Reifenspur«, antwortete der Zweimetermann und wurde plötzlich ganz klein und trat seine Zigarette aus.
»Merk dir das, das ist eine Eindruckspur«, dozierte sein Chef.
»Sie entsteht, wenn das spurenverursachende Objekt härter ist als der Spurenträger. Hast du das verstanden?«
»Spurenverursachendes Objekt?«, fragte der überforderte Kollege und kratzte sich am Hinterkopf.
»Der harte Reifen hat auf der weichen Erde eine Spur hinterlassen, du Hornochse! Kapier das endlich, sonst wirste ab morgen als Schupo den Verkehr regeln. Kannst du mir mal verraten, wie du zur Kripo gekommen bist?«
»Seien Sie beruhigt, Chef. Ihr Anschiss hat in meiner weichen Birne auch Spuren hinterlassen. Ich habe es kapiert.«
Der Hauptkommissar winkte gereizt ab.
»Wir müssen das Schwein fassen, bevor er ein zweites Mal zuschlägt. Also mach hinne!«
»Woher wissen Sie, dass es ein zweites Mal gibt?«
»Wenn das ein Sexualmord war, und davon ist auszugehen, dann haben wir es mit einem Täter zu tun, der einen perversen Trieb hat. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede!«
Das glaubte der Hüne aufs Wort. Der Hauptkommissar hatte vor Jahren seine ersten Sporen bei der Jagd nach dem »Vampir von Düsseldorf«, dem Massenmörder Kürten, verdient. Damals gehörte er den Ermittlern an, die Kürten verhörten.



7

Das sehr gute Zeugnis von Thomas rief unterschiedliche Reaktionen hervor. Der Mutter gefiel es nicht, dass er jetzt als Kriminalbeamter in der Stadt leben würde. Der Vater brummte etwas ungehalten, weil er im Fach Rechtskunde nur mit »gut« abgeschnitten hatte.
»Das kommt davon, dass du den Ausbildern zu viele Fragen gestellt hast«, scherzte Strobel.
»Ich habe eben ein paar Dinge nicht verstanden. War das ein Problem?«
»Ein guter Polizist gehorcht seinen Vorgesetzten und stellt keine dummen Fragen«, kommentierte Thomas’ Vater ärgerlich, aber Strobel beschwichtigte ihn sogleich.
»Schon gut, Walter, keiner hat sich über Thomas beschwert. Er war halt ein engagierter Schüler und vor allem sehr, sehr fleißig. Er hat das beste Abschlusszeugnis!«
Dass der Vater nicht ganz unzufrieden war, bewies sein Geschenk. Thomas bekam seinen gebrauchten Borgward Isabella geschenkt.
»Das war Mutters Idee«, grummelte der Vater, dem es auch jetzt noch schwerfiel, seinen Sohn zu loben.
Trotzdem war Thomas zufrieden. Es lief. Er war endlich der spießigen Enge entkommen, die ihm die letzten Jahre manchmal die Luft zum Atmen genommen hatte. Und schneller als erwartet, fand er sogar eine möblierte Mansarde, seine eigene Bude. Sie war nicht weit vom Polizeipräsidium entfernt, was ihm ganz recht war. Er wollte nicht als junger Spund gleich mit dem Borgward vorfahren, obwohl der Wagen schon einige Jahre auf den Buckel hatte. Die Vermieterin, immer mit Lockenwicklern und Kette rauchend, war von dem jungen Mann angetan. Er trug einen Anzug, hatte die kurzen Haare ordentlich gescheitelt und war angehender Polizist. »Vor Ihnen wohnte ein junger Mann hier, der leider zu oft Damenbesuch hatte. Ich musste ihm kündigen, weil ich nicht gegen das Kuppeleigesetz verstoßen wollte. Aber bei Ihnen als Kriminalbeamten brauche ich da ja wohl keine Angst zu haben.«
Thomas mochte seine Wohnung. Es gab ein Bett, einen Schrank und eine Waschschüssel.
»Baden können Sie bei mir einmal die Woche. Zur Toilette müssen Sie eine Treppe runter«, erklärte die Vermieterin, während Thomas seine wenigen Sachen im Schrank verstaute. Er besaß zwei Anzüge seines Vaters, einige Hemden und Unterwäsche.
»Einen Fernseher müssten Sie selbst besorgen. Aber das Radio ist im Mietpreis enthalten. Ist ein Volksempfänger, funktioniert bestens. Kochen, Alkohol, Rauchen und Radio Luxemburg sind ebenfalls verboten, ich will ein anständiges Haus!« Sie zündete sich eine neue Roth-Händle an.
Thomas hatte nur mit einem Ohr zugehört, weil er sich als nicht rauchender Junggelle, der Radio Luxemburg gar nicht kannte, oh- nehin nicht angesprochen fühlte. In seiner Freizeit wollte er nur lesen.
»Wenn Sie wollen«, sagte sie, »können Sie täglich bei mir zu Abend essen, meine Spezialität ist Sauerbraten. Ich kenne da einen guten Pferdemetzger.«
Thomas verzichtete dankend. Das erinnerte ihn zu sehr an die Küche seiner Mutter.
Sein neues Revier, etwa eine halbe Million Einwohner groß, hatte einiges zu bieten. Für die Reichen und Schönen beispielsweise die Prachtmeile der Königsallee, ein Biotop für zahlungskräftige Menschen aus ganz Deutschland und natürlich auch für Hochstapler und Erpresser. Angehende Künstler dagegen lockte die Kunstakademie, deren Ruf über die Stadtgrenzen hinaus bekannt war. Die Altstadt imponierte mit Dutzenden Kneipen, in denen an den Wochenenden zahlreiche Schlägereien stattfanden. Im Gegensatz zu anderen Städten gab es hier keine Demonstrationen gegen den Krieg in Südostasien, der als »Vietnamkrieg« schon Einzug in die Tagesschau gehalten hatte. Aber Thomas besaß keinen Fernseher und kümmerte sich ohnehin nicht um Politik. Den Namen des Bundeskanzlers kannte er nicht, aber dafür den des Massenmörders Peter Kürten oder den der ermordeten Hure Rosemarie Nitribitt, beides Kinder seiner neuen Stadt. Die erkundete er nun zu Fuß und kam sich wie Kolumbus vor, der eine neue Welt entdeckte. Für seine Eltern wäre das nichts gewesen. Sie mieden große Städte, weil dort »zu viel Unordnung herrschte«, wie der Vater zu sagen pflegte. Als Thomas einige junge Männer sah, die ihre Haare über die Ohren frisiert hatten, fiel ihm ein Spruch seines Vaters ein: langes Haar, kurzer Verstand.
Gerade wollte Thomas seinen Weg fortsetzen, da wurde er von einem Streifenpolizisten angesprochen: »Junger Mann, was lungerst du hier rum?«
Wortlos zog Thomas seine frische Dienstmarke aus der Tasche und hielt sie dem Schutzmann vor die Nase. Der knallte die Hacken zusammen und salutierte wie Bürgermeister Dr. Müller vor Wilhelm Vogt, der sich als Hauptmann von Köpenick verkleidet hatte. »Entschuldigung, Herr Kommissar!« Kleinlaut zog er davon, und Thomas schaute auf seine Dienstmarke, die wohl über magische Kräfte verfügte. Belustigt setzte er seinen Weg fort.
Vor dem Rheinturm sah er einige junge »Radschläger«. Immer, wenn sie einen Passanten sahen, liefen sie auf ihn zu und schlugen geschickt ihre Räder. »Ein Groschen, ein Groschen!«, riefen die Mädchen und Jungen mit ausgestreckter Hand. Mancher Passant ging weiter, mancher zahlte. Thomas zeigte sich spendierfreudig.
Einige Straßen weiter entdeckte er einen kleinen Menschenauflauf. Eine Gruppe von Frauen und Männern stand vor einem hell erleuchteten Schaufenster eines kleinen Ladenlokals, das sich als Galerie erwies. Thomas wurde Zeuge einer Kunstaktion mit einem merkwürdigen Namen: Wie man einem toten Hasen die Bilder erklärt. Dabei waren die Zuschauer ausgesperrt – in der Galerie durften sie nicht rein. Dort ging ein Mann, dessen Kopf mit Goldfarbe bedeckt war, mit einem toten Hasen von Bild zu Bild, und es sah so aus, als ob er mit ihm sprechen würde. Die Zuschauer vor dem Schaufenster diskutierten heftig, ja erregt, über die Aktion, die älteren reagierten sogar empört.
»So ein Schwachsinn«, regte sich ein älterer Herr auf, »und das soll Kunst sein?«
»Der ist reif für die Klapsmühle!«, warf seine Begleiterin ein, eine Dame im Pelz und mit hoher Steckfrisur.
Thomas, der mit Kunst immer das Bild einer Zigeunerin über dem Sofa seiner Eltern in Verbindung brachte, beobachtete gebannt den Mann, der eine Anglerweste trug und sich zweifelsfrei mit dem Hasen unterhielt. Thomas verstand die Aufregung der Leute nicht. Anstatt die Aktion zu betrachten, machten sie sich einfach darüber lustig.
»Haha, ist hier jemand, der mir erklärt, was uns der Künstler damit sagen will?«, fragte plötzlich ein Mann, der ein Alt in der Hand hielt.
»Das wissen nur er und der Hase«, meldete sich Thomas zu Wort, der daran dachte, dass er auch mit einem toten Hasen gesprochen hatte.
»Du willst uns wohl verarschen? Wir sollen den Hasen fragen?«
»Warum nicht? Ich habe auch oft mit Hasen gesprochen«, entgegnete Thomas.
»Ach ja?«, feixte ein anderer Mann. »Und worüber?«
»Das ist meine Sache«, antwortete Thomas und fügte hinzu:
»Außerdem hätten Sie das sowieso nicht verstanden!«
»Aha, wir sind wohl zu blöd, du Landei!«
»Offenbar. Sonst hätte der Mann da drin Sie nicht ausgesperrt«, sagte Thomas und eilte davon.
Er fand, der Mann mit dem goldenen Gesicht und der Anglerweste machte alles richtig. Er war nicht verrückt. Er war nur anders. Er ging seinen Weg, so wie Thomas es sich auch für sich wünschte. Und die Leute waren wie Thomas’ Vater. Sie hatten Probleme mit Dingen, die sie nicht verstanden.
Das Polizeipräsidium war nicht zu übersehen. Ein mächtiger Bau aus rotem Backstein und unzähligen kleinen Fenstern, von Weitem an Schießscharten erinnernd. Es wirkte auf Thomas wie eine Festung. Das war jetzt also seine neue Wirkungsstätte. Acht Uhr war Dienstbeginn, und er sollte sich gleich bei Strobel melden. Der Pförtner erklärte ihm den Weg. Thomas wollte schon die Treppe hochstürmen, da entdeckte er im riesigen Foyer einen Paternoster. Im letzten Moment traute er sich aber doch nicht, in die Kabine zu springen.
»Sie halten den Betrieb auf !«, hörte er von hinten und merkte, dass er einigen Leuten im Wege stand. Schnell ging er zur Seite
und nutzte lieber die sichere Treppe. Energisch betrat er Strobels Büro und traf ihn rauchend im Gespräch mit zwei Männern an.
»Guten Morgen, Onkel«, grüßte er ihn und erntete einen irritierten Blick der Kollegen.
Strobel nahm Thomas an die Hand und zog ihn in das Nebenzimmer.
»Schön, dass du da bist, mein Junge, aber zwei Dinge muss ich dir sofort erklären. Nenn mich in Anwesenheit der anderen bitte nicht Onkel, sondern Herr Hauptkommissar, meinetwegen auch Chef. Die Kollegen würden dich sonst nicht ernst nehmen.«
Die Kopfwäsche verfehlte nicht ihre Wirkung.
»Entschuldige, Onkel, ich meine, Herr Hauptkommissar.«
»Und jetzt will ich dich mal offiziell begrüßen«, sagte Strobel lachend und reichte ihm die Hand. Thomas strahlte übers ganze Gesicht. »Die Dienstmarke hast du ja schon, es fehlt nur noch diese Kleinigkeit.«
Strobel griff in eine Schublade und holte eine PPK mit Lederhalfter heraus.
Thomas hatte zwar schon oft Waffen in der Hand gehalten, aber diese PPK gehörte ihm jetzt allein und demonstrierte in eindrucksvoller Weise, dass er zur Kripo gehörte.
»Nachher bekommste einen eigenen Spind, wo du deine Sachen und deine Waffe lagern kannst, wenn du Feierabend hast«, erklärte Strobel. Dann stellte er ihn seinem Stellvertreter vor, ein Mann wie ein Kleiderschrank mit roter Stoppelfrisur, der nicht sonderlich auf sein Aussehen Wert legte, wie man an seiner schief gebundene Krawatte erkennen konnte.
»Halt dich immer an den Kollegen Schäfer, der ist meine rechte Hand«, erklärte Strobel und schüttelte ärgerlich den Kopf, als der Angesprochene sich eine Zigarette anstecken wollte.

Die Hörprobe zu "1965", gelesen von Oliver Wnuk:

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Was war eigentlich 1965 los?

Rolling Stones
Die Rolling Stones machten ihre erste Tournee in Deutschland und Österreich.
»„Fünf junge Männer, die die Haare länger tragen als Mädchen und eine erbärmlich einfallslose primitive Musik zum Besten geben“, schreibt die „FAZ“ voller Verachtung vor einem Konzert der Rolling Stones in der Berliner Waldbühne. 22.000 junge Zuschauer sind außer Rand und Band. Das Konzert endet in einer Schlacht zwischen Fans und Polizisten.« (Deutschlandfunk Kultur)

Kanzler der BRD
Ludwig Erhard wird 1965 erneut zum Kanzler gewählt.

Nazi-Verbrechen
Die Bundestagsdebatte um die Verjährung von NS-Verbrechen beschäftigt die Menschen.

Fortschritte in der Raumfahrt
In der Raumfahrt schwebt der russische Kosmonaut Leonow frei im Weltraum, das US-Programm "Gemini" bereitet den bemannten Flug zum Mond vor.

Rassenunruhen in den USA
In den USA kommt es zu Ausschreitungen zwischen Schwarzen und Weißen und der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King kämpft für Gleichberechtigung.

Lotto
Die Lottozahlen werden das erste Mal im Fernsehen ausgestrahlt.

Bundeswehr
Das Einberufungsalter für die Bundeswehr wird in der BRD auf 18 gesenkt.

Schlager des Jahres
Peggy Marchs Lied "Mit 17 hat man noch Träume" wird zum Schlager des Jahres gewählt.

Quellen: ARD