Oder erstmal reinlesen...

ORMBERG, Oktober 2009

MALIN

Ich hielt Kennys Hand ganz fest, als wir durch den dunklen Wald gingen. Nicht, weil ich an Gespenster geglaubt hätte, natürlich nicht. Das taten nur Idioten. Solche wie Kennys Mutter, stundenlang saß sie vor diesen blödsinnigen Fernsehsendungen, in denen ein sogenanntes Medium alte Häuser nach Geistern durchsuchte, die gar nicht vorhanden waren.
Aber trotzdem.
Tatsache war, dass fast alle, die ich kannte, bei der Geröllhalde das weinende Baby gehört hatten – eine Art gedehntes, verzweifeltes Wimmern. Es wurde das Spukkind genannt, und obwohl ich nicht an Geister und anderen Unsinn glaubte, wollte ich auch nichts riskieren, deshalb ging ich nie allein hierher, wenn es dunkel war.
Ich schaute zu den spitzen Wipfeln der Kiefern hinauf. Die Bäume waren so hoch, dass sie den Himmel und den kugelrunden milchweißen Mond fast versteckten.
Kenny zog an meiner Hand. Die Bierflaschen in der Plastiktüte klirrten, und ich merkte, wie der Rauchgeruch seiner Zigarette sich mit dem von feuchter Erde und verfaulendem Laub vermischte. Einige Meter hinter uns schlurfte Anders durch die Blaubeersträucher, er pfiff ein Lied, das ich aus dem Radio kannte. »Aber verdammt, Malin!«
Kenny zerrte an meiner Hand.
»Was denn?«
»Du gehst ja langsamer als meine Mutter. Bist du jetzt schon besoffen, oder was?«
Dieser Vergleich war ungerecht – Kennys Mutter wog sicher zweihundert Kilo, und ich hatte sie nie weiter gehen sehen als vom Fernsehsofa zur Toilette. Und bisweilen geriet sie sogar da außer Atem.
»Fresse«, sagte ich und hoffte, Kenny werde meinem Tonfall anhören, dass ich Witze machte. Dass er begriff, dass dieses Wort eine Art liebevollen Respekt enthielt.
Wir waren erst seit zwei Wochen zusammen. Abgesehen von dem üblichen ungeschickten Herumgeknutsche auf seinem nach Hund stinkenden Bett hatten wir die Zeit mit dem Versuch verbracht, unsere Rollen festzulegen. Er: dominant, witzig (ab und zu auf meine Kosten) und bisweilen überwältigt von einer frühreifen, egozentrischen Schwermut. Ich: bewundernd, fügsam (zumeist auf meine Kosten) und verständnisvoll und hilfreich, wenn er wieder schlecht drauf war.
Meine Liebe zu Kenny war so intensiv, unreflektiert und körperlich, dass sie mich manchmal total erschöpfte. Dennoch wollte ich nicht eine einzige Sekunde von ihm getrennt sein, als ob ich Angst hätte, er könnte sich als Traum erweisen, als wunderschöne Fantasie, die sich mein ausschweifendes Teenagergehirn zusammenfabuliert hatte.
Die Kiefern um uns herum sahen uralt aus. Weiche Mooskissen hatten sich um die Wurzeln herum ausgebreitet, und graue Flechtenbärte wuchsen an den dicken Ästen kurz über dem Boden.
Irgendwo war das Geräusch eines zerbrechenden Astes zu hören.
»Was war das?«, fragte ich, und meine Stimme klang vielleicht ein bisschen zu schrill.
»Das war das Spukkind«, sagte Anders mit theatralischer Stimme hinter mir. »Das will dich jetzt hoooooooolen!«
Er heulte.
»Verdammt, mach ihr doch keine Angst!«, fauchte Kenny, den offenbar ein plötzlicher und unerwarteter Beschützerinstinkt gepackt hatte.
Ich kicherte, stolperte über eine Wurzel und hätte fast das Gleichgewicht verloren, aber in der Dunkelheit war Kennys warme Hand zur Stelle. Die Flaschen in der Tüte klirrten dumpf, als er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, um mich zu stützen.
Diese Geste ließ mein Inneres richtig warm werden.
Dann lichtete sich der Wald, als ob die Kiefern zur Seite weichen und Platz machen würden für eine kleine Lichtung, wo sich vor uns die Geröllhalde ausbreitete. Der Steinhaufen sah im Mondschein aus wie ein riesiger gestrandeter Wal – überwuchert von dickem Moos und kleinen Farnbüscheln, die sich im schwachen Wind träge bewegten.
Jenseits der Lichtung zeichnete sich Ormbergs dunkle Silhouette vor dem Nachthimmel ab.
»Also«, sagte ich. »Hätten wir nicht einfach zu irgendwem nach Hause fahren und da das Bier trinken können? Müssen wir hier im Wald sitzen? Das ist doch saukalt.«
»Ich wärme dich«, sagte Kenny und grinste.
Er zog mich so eng an sich, dass ich aus seinem Atem den Geruch von Bier und Tabak herausriechen konnte. Ein Teil von mir wollte das Gesicht abwenden, aber ich zwang mich dazu, stillzustehen und seinen Blick zu erwidern, weil das eben von mir erwartet wurde.
Anders pfiff nur, ließ sich auf einen der großen runden Steine fallen und streckte die Hand nach einem Bier aus. Dann steckte er sich eine Zigarette an und sagte:
»Ich hatte gedacht, du wolltest das Spukkind hören.«
»Es gibt keinen Spuk«, sagte ich und setzte mich auf einen kleineren Stein. »An so was glauben nur Idioten.«
»Halb Ormberg glaubt an das Spukkind«, widersprach Anders, öffnete ein Bier und trank einen Schluck.
»Eben«, sagte ich.
Anders lachte über meinen Kommentar, Kenny dagegen schien ihn nicht gehört zu haben. Er hörte mir eigentlich nur selten zu, nie richtig. Stattdessen setzte er sich dicht neben mich und fuhr mir mit der Hand über den Hintern. Schob einen eiskalten Daumen unter meinen Hosenbund. Dann hielt er mir seine Zigarette an den Mund. Brav nahm ich einen tiefen Zug, legte den Kopf in den Nacken und schaute den Vollmond an, während ich den Rauch ausblies.
In der Stille wurden alle Geräusche des Waldes deutlich: das Rauschen des schwachen Windes, der durch die Farnwedel strich, dumpfes Knacken und Pochen, als ob tausend unsichtbare Finger am Boden entlangtasten würden, und ein Vogel, der in einiger Entfernung einen gespenstischen Schrei ausstieß.
Kenny reichte mir ein Bier. Ich trank einen Schluck von dem kalten, bitteren Getränk und spähte in die Dunkelheit zwischen den Bäumen. Wenn sich dort jemand versteckte, sich an einen Baumstamm presste, würden wir ihn niemals entdecken. Es wäre so unvorstellbar leicht, sich hier auf der Lichtung an uns anzuschleichen, wie Rehe in einem Gehege abzuschießen oder Goldfische aus einem Aquarium zu nehmen.
Aber warum sollte jemand das tun, in Ormberg?
Hier passierte niemals etwas. Deshalb mussten sich die Leute wohl Gespenstergeschichten ausdenken – um nicht vor Langeweile einzugehen.
Kenny rülpste träge und öffnete ein weiteres Bier. Dann drehte er sich zu mir um und küsste mich. Seine Zunge war kalt und schmeckte nach Bier.
»Get a room!«, sagte Anders und rülpste ebenfalls. Laut, als sei das Rülpsen eine Frage, auf die er von uns eine Antwort erwartete.
Dieser Kommentar schien Kenny aufzureizen, denn er schob energisch seine Hand in meine Jackenöffnung, suchte sich den Weg unter meinen Pullover und presste meine Brust ganz fest zusammen.
Ich setzte mich anders hin, um es ihm leichter zu machen, und ließ meine Zunge über die spitzen Zähne gleiten.
Anders erhob sich. Ich schob Kenny vorsichtig weg und fragte: »Was?«
»Ich hab was gehört. Es klang wie … als ob jemand weinte oder wimmerte oder so.«
Anders stieß ein klagendes Geräusch aus und lachte dann so sehr, dass ihm das Bier aus dem Mund spritzte.
»Du bist doch gestört, Mann«, sagte ich. »Ich muss pissen. Ihr könnt ja so lange hier nach dem Spuk Ausschau halten.«
Ich stand auf, lief um die Geröllhalde herum und ging dann noch einige Meter weiter. Drehte mich um und überzeugte mich davon, dass Kenny und Anders mich nicht sehen konnten, dann knöpfte ich meine Jeans auf und ging in die Hocke.
Irgendetwas, vielleicht Moos oder ein Gewächs, kitzelte mich am Oberschenkel, als ich pinkelte. Die Kälte strich über mein Bein und unter meine Windjacke.
Ich schauderte zusammen.
Wirklich tolle Idee hierherzukommen, um Bier zu trinken. Echt! Warum hatte ich nichts gesagt, als Kenny diesen Vorschlag gemacht hatte?
Warum widersprach ich nie, wenn Kenny irgendetwas vorschlug?
Die Dunkelheit war kompakt, und ich zog das Feuerzeug aus der Jackentasche. Streifte das Rädchen mit dem Daumen und ließ den Schein der Flamme über den Boden leuchten: herbstbraunes Laub, samtweiches Moos und dann die großen grauen Steine. Und dort, in einer Spalte zwischen zwei Steinen, dicht in meiner Nähe, ahnte ich etwas Glattes, Weißes, wie den Hut eines großen Champignons.
Kenny und Anders redeten noch immer über den Spuk, sie klangen ausgelassen und nuschelten schon vom Bier. Ihre Worte folgten dicht aufeinander, stolperten und wurden zwischendurch von Lachen unterbrochen.
Vielleicht war es Neugier, vielleicht hatte ich einfach keine große Lust, jetzt gleich zu ihnen zurückzukehren, aber etwas brachte mich dazu, mir diesen Champignon ein bisschen genauer anzusehen.
Gab es um diese Zeit so große Champignons, mitten im Wald? Die einzigen Pilze, die ich hier je gepflückt hatte, waren Pfifferlinge gewesen.
Ich hielt das Feuerzeug an den Spalt zwischen den Steinen, sodass das schwache Licht den Gegenstand deutlicher zeigte. Ich schob ein wenig Laub zur Seite und riss ein kleines Farnbüschel mit der Wurzel aus.
Doch, da lag einwandfrei etwas. Etwas, das …
Noch immer in der Hocke, mit heruntergelassenen Jeans, schob ich die freie Hand hinein und berührte vorsichtig mit dem Finger dieses Weiße, Glatte. Es fühlte sich hart an, wie Stein oder Porzellan. Vielleicht eine alte Schüssel? Jedenfalls einwandfrei kein Pilz.
Ich streckte mich ein wenig und rollte den Stein weg, der über der Schüssel lag. Er war kleiner als die anderen und nicht besonders schwer, aber er landete trotzdem mit einem dumpfen Knall neben mir im Moos.
Und da lag sie, die Schale, oder was immer es nun war. Sie war so groß wie eine Grapefruit, auf der einen Seite gesprungen und durchwachsen von einer Art fadenreichem, braunem Moos.
Ich streckte die Hand aus und berührte die dünnen dunklen Fäden. Rieb sie einige Sekunden zwischen Daumen und Zeigefinger, ehe mein Gehirn die Teile des Puzzles zusammenfügte, und ich begriff, was es war.
Ich ließ das Feuerzeug fallen, richtete mich auf, machte einige stolpernde Schritte in die Dunkelheit hinaus und schrie. Es war ein Schrei, der tief aus mir herauskam und niemals ein Ende zu nehmen schien. Als ob das Entsetzen jedes Sauerstoffatom, das sich in meinem Körper befand, durch die Lunge hinauspresste.
Als Kenny und Anders mir zu Hilfe kamen, hing meine Hose mir noch immer um die Knöchel, und meine Lunge hatte dem Schrei neues Leben gegeben.
Die Schale war keine Schale.
Das Moos war kein Moos.
Es war ein Schädel mit langen dunklen Haaren.

Camilla Grebe
© Anna-Lena Ahlström

Die preisgekrönte Thriller-Autorin aus Schweden

Camilla Grebe, geboren 1968 in Älvsjö in der Nähe von Stockholm. Sie studierte an der Stockholm School of Economics, hat den Hörbuchverlag »StorySide« gegründet und betreibt ein Beratungsunternehmen. Gemeinsam mit ihrer Schwester schrieb sie die erfolgreiche Krimi-Reihe um die Stockholmer Psychotherapeutin Siri Bergman. »Wenn das Eis bricht« war ihr erster eigener Roman, der für seine einzigartige Stimme in der Presse hochgelobt wurde. »Tagebuch meines Verschwindens« wurde mit dem Skandinavischen Krimipreis ausgezeichnet. Camilla Grebe lebt mit ihrer Familie in Stockholm.

»Camilla Grebe wird mit Jo Nesbø verglichen, aber sie steht für sich selbst.« Frost Magazine

Camilla Grebe: Wenn das Eis bricht

Der erste Teil der Thriller-Reihe jetzt als Taschenbuch!

In der Wohnung des reichen Geschäftsmanns Jesper Orre wird die Leiche einer jungen Frau gefunden – auf brutale Art ermordet. Von ihm fehlt jede Spur. Vor zehn Jahren gab es einen ganz ähnlichen Fall – ungelöst. Hanne, die Profilerin von damals, soll deshalb ermitteln. Sie muss in die Vergangenheit eintauchen, dabei verschwimmt gerade ihre Gegenwart – sie fürchtet, an beginnendem Alzheimer zu leiden. Ihre Existenz bekommt zunehmend Risse, und die beiden Fälle verbinden sich auf ungute Weise. Kann Hanne sich selbst und ihren Erinnerungen trauen? Wann bricht das Eis, und was kommt darunter zum Vorschein?