Liebe Frau Paul, Sie sind eine ausgewiesene Trauer-Expertin und bilden selbst Trauerbegleiter aus. Bücher, die sich mit den Themen Trauer, Trauerbewältigung beschäftigen, gibt es ja bereits einige. Was ist das Besondere an Ihren neuen Büchern?
Es gibt mehrere Besonderheiten. Man sieht gleich, dass es zwei miteinander verbundene oder aufeinander bezogene Bücher sind. Sie richten sich aber an verschiedene Zielgruppen. Beide sind auf Basis des Kaleidoskop des Trauerns strukturiert und benutzen ähnliche Bilder und Begriffe. Ich habe sie tatsächlich nahezu gleichzeitig geschrieben, um die Verbindung so intensiv wie möglich zu gestalten. Es ist mir ein großes Anliegen, dass Trauende und ihre engen Freunde und Angehörigen eine gemeinsame Sprache über die Trauer nach einem Tod finden können. Die Unterstützung und das Verständnis im engsten Kreis sind eine der wichtigsten Ressourcen für Trauernde. Deshalb wollte ich mit einem einheitlichen Ansatz zwei Bücher machen, die Menschen auf dem Trauerweg und ihr nahes Umfeld miteinander ins Gespräch bringen können. Gleichzeitig gibt es auch Informationen und Hinweise, die jeweils nur in einem der beiden Bücher stehen. Es ist mir wichtig, dass auch die Freunde und Angehörigen in ihrer besonderen Situation bestärkt werden. Sie sollen ja nicht als professionelle Trauerbegleiter auftreten, sondern als Mitmenschen und Unterstützer. Dazu brauchen sie ihre eigenen Ressourcen und auch die Erlaubnis, sich abzugrenzen.
Die zweite Besonderheit sieht man schon im Inhaltsverzeichnis. Die Bücher haben neben dem Trauerkaleidoskop ein zweites Strukturelement und das ist die vergehende Zeit. Von den ersten Stunden bis zu den weiteren Trauerjahren werden die Besonderheiten verschiedener Zeiträume in der Trauer detailreich beschrieben. Trauerwege hören ja nicht einfach irgendwann auf, sondern sie begleiten viele Menschen ihr Leben lang. Ich zeige dabei nicht einen einzigen, sozusagen idealen Trauerweg, sondern ich erkläre, dass die einzelnen Facetten eines Trauerweges sich ständig neu mischen. Wie sie in den verschiedenen Zeitabschnitten gelebt werden können, das hängt von vielen Faktoren ab: das sind die bisherigen Lebenserfahrungen eines Menschen, das ist aber auch die aktuelle Situation, in der er lebt. Sogar das Geschlecht und das Alter beeinflussen die Art und Weise, wie ein Mensch die eigene Trauer erlebt und gestaltet. Deshalb ist jede Trauer einzigartig - und trotzdem sind alle Menschen in ihrer Trauer auf denselben Facetten unterwegs.
Die dritte Besonderheit ist natürlich das Kaleidoskop selbst. Die grafische Umsetzung ist sehr ansprechend geworden und eine große Hilfe dabei, sich auf dem oft überwältigenden Weg der Trauer zurechtzufinden. Man erkennt auf den ersten Blick, dass Trauer aus vielen Erfahrungen und Herausforderungen besteht. Die sechs Facetten des Kaleidoskop des Trauerns machen deutlich, dass es beim Trauern nicht nur um Gefühle geht. Trauer ist viel komplizierter und vielschichtiger und wenn man das so betrachtet, bekommt man sofort sehr viel Respekt vor all dem, was jemand nach dem Tod eines nahen Menschen bewältigen muss. Man kann versuchen, die Bücher auf einmal durchzulesen, aber wahrscheinlich wird man eher immer nur ein bestimmtes Kapitel lesen zu einer bestimmten Frage oder Erfahrung, die einen in diesem Moment bewegen. Durch die Beschreibungen und Anregungen versteht man, dass man gar nicht alles auf einmal bewältigen muss, sondern dass diese oder ähnliche Fragen wieder auftauchen werden - und dass das ganz normal ist! Die Trauerfacetten in ihren jeweiligen Zeitabschnitten haben es mir ermöglicht, viel verschiedene Einzelheiten zu benennen und Ideen für die Bewältigung aufzuschreiben. So können Trauernde ihren eigenen Prozess besser verstehen und gleichzeitig auch andere, wenn sie etwas lesen, das nicht auf sie selbst zutrifft, sondern für jemanden, der ihnen nahe steht. Das gilt natürlich genauso für das Buch, das sich an die Freunde und Familienangehörigen wendet. Sie können ihre vielen Fragen und Unsicherheiten Stück für Stück klären.
Was genau ist das Kaleidoskop des Trauerns? Warum haben Sie es entwickelt?
Das Kaleidoskop des Trauerns habe ich ursprünglich für meine Fortbildungen entwickelt. Ich konnte damit das eher trockene Thema Trauertheorien anschaulich vermitteln. Das Trauerkaleidoskop enthält die Ansätze und Erkenntnisse von verschiedenen bedeutenden Trauerforschern (William Worden mit seinen 4 Traueraufgaben, Dennis Klass und Roland Kachler mit der bahnbrechenden Erkenntnis über die Normalität von fortgesetzter Verbundenheit zu den Verstorbenen und Robert Neimeyers Ansatz der Sinngebung in und nach einer Lebenskrise). Ich selbst habe die Trauerfacette Überleben hinzugefügt, nachdem ich mich viel mit dem Thema Trauma beschäftigt hatte. Im Lauf der Jahre wurde meine Sicht auf die einzelnen Trauererfahrungen verschieden von der Definition der Autoren, die sie mir ursprünglich beigebracht hatten. So ist dieses Unterrichtswerkzeug immer mehr zu einem/meinem eigenständigen System geworden, Trauererfahrungen zu erklären.
Ich begann, es in Trauerseminaren und in der Einzelbegleitung einzusetzen und auch meine FortbildungsteilnehmerInnen erzählten begeistert, wie sie damit Gruppenstunden gestalteten. Zu Anfang war es einfach ein statisches Bild, doch dann schnitt ich die einzelnen Facetten aus und legte sie auseinander, unter- und übereinander. Plötzlich wurde sichtbar, dass sich die verschiedenen Erfahrungen einer Trauer ständig gegeneinander verschieben, wie die Glassteinchen in einem Kaleidoskop, mit dem man als Kind gespielt hat. Mal überdeckt eine Facette alle anderen, dann wieder ergänzen sie sich harmonisch. Diese Beweglichkeit entspricht meiner Sicht auf Trauerprozesse, sie sind Wege, lange und oft anstrengende Wege, in denen sich immer wieder etwas verändert. Die Facetten des Trauerkaleidoskops sind dabei fast das Gegenteil der bekannten Trauerphasen. Trauerfacetten sind keine Stufen, die man nacheinander abarbeitet. Vielmehr zeigen sie Themen und Herausforderungen, die sich gegenseitig beeinflussen und über lange Zeiträume immer wieder auftauchen. Man kann sich vorstellen, dass jeder einzelne Trauerweg seine eigene Wegführung über, durch und mit den Trauerfacetten findet, vielleicht eine Spirale, vielleicht ein Labyrinth, auf jeden Fall niemals ein gradliniger Weg, auf dem man nach einigen Wochen oder Monaten über die Ziellinie läuft und für immer fertig ist mit dem Trauern.
Wie kann mir Ihr Buch als Trauernde helfen?
Der Titel drückt genau aus, was ich vermitteln möchte: Ich lebe mit meiner Trauer. Ich ermutige Trauernde, nicht gegen die Trauer anzuleben, sie müssen sich meiner Ansicht nach nicht schämen oder verstecken. Und in meiner Sicht auf Trauer muss sie auch nicht zuende gehen. Trauer kann ein Teil des Lebens sein, ohne dieses Leben zu zerstören! Für manche hört sich das unmöglich an, aber in meinen zwanzig Jahren der Arbeit mit anderen Trauernden und auch auf meinen eigenen Trauerwegen habe ich so viele kleine Wunder erlebt, dass ich Trauer als einen veränderlichen und lebenszugewandten Prozess verstanden habe. Damit er das sein kann, braucht es jede Menge Unterstützung. Und heute finden viele Menschen Unterstützung in Büchern. Ich lebe mit meiner Trauer ist eine von vielen möglichen Formen der Trauerhilfe. Ich sehe das Buch als einen sehr detaillierten Reiseführer in viele Bereiche des Trauerweges. Trauernde finden sich an vielen Stellen in den Kapiteln und in den Berichten von Betroffenen wieder. Sie finden Worte für ihre Gefühle und Gedanken, das stärkt und tröstet. Die vielen möglichen Stolpersteine, die den Weg noch schwerer machen können, erkläre ich, denn Verstehen hilft, um sich selbst besser einzuschätzen und freundlicher mit sich selbst umzugehen. Darüber hinaus zeige ich eine Vielzahl von Trittsteinen als Anregung: das können Übungen sein, die man für sich allein macht oder Gesprächsmöglichkeiten mit anderen und auch fachliche Unterstützung. Da ich die einzelnen Trauerfacetten so gründlich beleuchte, sind immer wieder auch Trauerreaktionen beschrieben, die man nicht von sich selbst, aber von anderen kennt. Das ist eine große Unterstützung für Trauer in der Familie und im Freundeskreis, denn es hilft auch, andere zu verstehen. Eine der ersten Leserinnen sagte - das Buch ist wie eine Beratungsstunde nur für mich, die ich jederzeit aufsuchen kann. Eine andere meinte - das ist wirklich anders als andere Trauerbücher, so viele neue Ideen.
Wie kann mir Ihr Buch als Freund/Freundin von Trauernden helfen?
Menschen, die andere in einer Lebenskrise unterstützen, sind auf eine gewisse Art unsichtbar. Es gibt viele Fragen nach dem, der die Krise hat. Wenige fragen - wie geht es dir als Unterstützer denn damit? Für diese nahen Freunde und Angehörigen von Freunden wollte ich ein eigenes Selbsthilfebuch schreiben. Es sollte intimer und detaillierter sein als mein Buch Keine Angst vor fremden Tränen, das bereits viele Informationen und Tipps für den Umgang mit Trauerden gibt. Es war sehr interessant für mich, mich so intensiv mit der Situation der Mit-Menschen von Trauernden zu beschäftigen. Ihnen die einzelnen Trauerfacetten zu erklären und ihre ganz besondere Situation dabei in den Mittelpunkt zu stellen, hat mir tatsächlich noch mal neue Erkenntnisse über Trauer gebracht. Das Buch Wir leben mit deiner Trauer könnte an einigen Stellen auch Wir leben mit unserer Trauer heißen, denn es sind ja ganze Familien und Freundeskreise in Trauer. Die Rollen können da immer wieder wechseln, mal unterstützt die Tochter ihre verwitwete Mutter, dann wieder versucht die Mutter, für ihre Kinder da zu sein, deren Vater gestorben ist. Das ist ein komplizierter Balanceakt. Das Buch behandelt die Liebe und Verbundenheit mit dem trauernden Menschen in seiner Lebenskrise und macht manches Verhalten, das rätselhaft erscheint, verständlich. Es nimmt die Sorgen, der Trauernde könnte verrückt oder krank sein. Die privaten UnterstützerInnen können es benutzen, um sich gesehen und verstanden zu fühlen. Sie können damit ihre Erschöpfung besser einordnen und sich ermutigt fühlen, manche Grenzen zu setzen. Es ist das Buch für sie. Und das andere ist für den trauernden Menschen. So hat jeder einen eigenen geschriebenen Wegbegleiter. Das ist aus meiner Sicht wichtig für diesen mutigen aber auch anstrengenden Weg des gemeinsamen Weiterlebens.
Warum ist es wichtig und hilfreich, sich auf den Trauerprozess einzulassen?
Meiner Erfahrung nach wird immer ein Trauerprozess ausgelöst, wenn wir jemanden verlieren, der uns viel bedeutet hat. Das ist sozusagen ein automatisches Programm in uns. Dieses Programm besteht aus vielen einzelnen Sequenzen und Erfahrungen, die habe ich in den sechs Trauerfacetten benannt. Die sind für jeden einzelnen Menschen unterschiedlich wichtig oder unterschiedlich möglich. Wenn Menschen angeblich nicht trauern, sind sie meiner Meinung nach ganz intensiv mit der Trauerfacette Überleben beschäftigt. Ohne das eigene Überleben zu sichern, kann man sich den Anstrengungen eines Trauerweges gar nicht stellen, deshalb gibt es trauernde Menschen, die sich aus Angst vor dem Zusammenbrechen oder Verrücktwerden intensiv ablenken. Andere sind für das Überleben ihrer Kinder, einer Firma oder pflegebedürftiger Angehöriger verantwortlich. Das stellen sie in den Vordergrund, oft ohne das bewußt zu entscheiden, es passiert. Damit geraten die anderen Facetten des Trauerns in den Hintergrund - aus wichtigen Gründen. Aber auf Dauer lassen sich die übrigen Facetten nicht unterdrücken. Vor allem die Facette der Gefühle reagiert heftig, wenn sie nicht ausgedrückt werden kann. Der Seelen-Schmerz verwandelt sich dann in Körperschmerz und macht das Leben noch schwerer. Es gibt etliche Untersuchungen, die belegen, dass die dauerhafte Unterdrückung von Seelenschmerz den Körper krank machen kann. Auch auf der Facette des "Einordnens" kann etwas geschehen, was das Weiterleben einschränkt. Tiefe Verbitterung und anhaltende Hoffnungslosigkeit oder große Angst vor neuen Bindungen und dem Leben überhaupt können die gedankliche Antwort auf Schicksalsschläge sein. Deshalb ist es so wichtig, den Trauerweg nicht nur zu akzeptieren, denn er ist ohnehin da und braucht automatisch Kraft, das lässt sich auf Dauer nicht verhindern. Ich plädiere auch dafür, sich aktiv und bewusst mit den verschiedenen Facetten des Trauerns auseinanderzusetzen. Viele Menschen machen das sozusagen automatisch, die erkennen sich in dem Modell wieder, auch wenn sie keine Unterstützung brauchen. Aber am wichtigsten ist es für Menschen, die auf einzelnen Facetten lebensfeindliche Wege einschlagen oder schlicht nicht wissen, wie sie mit den Erfahrungen dort umgehen können. Die finden in den Büchern Erklärungen für das, was sie erleben und Anregungen, wie sie allein, mit ihren Freunden oder auch mithilfe von fachlichen Unterstützern ein Stück weitergehen können.
Es heißt immer, die Zeit heile alle Wunden – stimmt das wirklich?
Das ist eine der Spruchweisheiten, die Trauernde nicht leiden können. Ich habe erlebt, dass Menschen in Trauer das Vergehen der Zeit eher negativ wahrnehmen - da geht alles weiter, aber die innere Welt ist stehengeblieben. Nach Jahrzehnten sagen sie dann Trauer geht nie ganz vorbei! Das liegt daran, dass Trauer keine heilende Wunde ist, sondern ein vielfältiger Prozess, der das Leben begleitet. Trauer verändert sich dabei, das Kaleidoskop des Trauerns dreht sich immer wieder, wechselt die Farben und Muster. Für die meisten Menschen werden die Wechsel spätestens im dritten und vierten Trauerjahr langsamer, es kommt wieder mehr Stabilität in den Alltag und in die Gedanken. Auf der Facette der Gefühle sind Schmerz und Verzweiflung nicht mehr so stark im Vordergrund wie zu Beginn. Auf der Facette des Verbundenbleibens treten positive Erinnerungen in den Vordergrund und es gelingt oft, die Verbundenheit mit dem Verstorbenen neben die Verbundenheit mit den Lebenden zu setzen, so dass die beiden sich sogar gegenseitig bereichern.
Sie sprechen nicht nur von Trauer-, sondern auch von Krisenbewältigung und Ressourcenaktivierung – wie kann mir dafür der durchlebte Trauerprozess helfen?
Trauer zu durchleben, kann anstrengend wie ein Marathonlauf sein. Niemand schafft es, solche kräftezehrenden Wege zu gehen, ohne sich mit den eigenen Ressourcen zu verbinden. Ressourcen sind dabei alle Fähigkeiten, die ein Mensch im Lauf seines Lebens erworben hat. Sportliche Trauernde finden in Ihrer jeweiligen Sportart ein Ventil für Wut und Schmerz, aber auch etwas, was den Tag strukturiert. Wer schon immer ein Tagebuch geführt hat, kann sich den Schmerz von der Seele schreiben und beim Zurückblättern beobachten, wie sich die Trauer verändert. Menschen, die schon vor dem Tod eines nahen Menschen mit Entspannungs- oder Atemübungen vertraut sind, können ihre aufgebrachten Gedanken und Gefühle ein bisschen beruhigen. All das sind nur kleine Oasen, aber ohne sie kann der Trauerweg zu einer krankmachenden Überforderung werden. Eine der wichtigsten Ressourcen sind andere Menschen. Ich erlebe an meinen Klienten immer wieder, dass auch schwerste Schicksalsschläge überlebt werden können, wenn Familien im Trauerprozess zusammenhalten, Partner sich aneinander festhalten können und Freunde unermüdlich, auch über Jahre Beistand leisten.